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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1134–1135

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Höfelschweiger, Rainer

Titel/Untertitel:

Mitglied, wer bist Du? Eine kirchentheoretische Studie zur differenzsensiblen Inklusion der religionssoziologisch pluralen Mitglieder evangelischer Kirchen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 298 S. 23,0 x 15,5 cm. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-374-02865-8.

Rezensent:

Gerald Kretzschmar

Um es gleich vorweg zu sagen: Mit dem Titel für die Druckfassung seiner Neuendettelsauer Dissertation tut sich Rainer Höfelschweiger keinen Gefallen. Sprachlich sperrig, im Haupttitel in Bezug auf den faktisch gebotenen Inhalt der Studie nicht ganz treffend und im Untertitel überlang und überkomplex erweist sich der Titel als Hürde, die der Lektüre des Buches leicht im Wege stehen kann. Und das ist schade. Schließlich bietet H.s Studie interessante Impulse zur theologischen Orientierung gegenwärtig stattfindender Prozesse der kirchlichen Strukturreform und Organisationsentwick-lung, und das vor allem, wenn sie unter der Überschrift »Mitg­liederorientierung« firmieren. Das zentrale Anliegen der Studie be­steht in der Wahrnehmung, der theologischen Würdigung und der praktizierten Akzeptanz des plural verfassten und breit angelegten volkskirchlichen Mitgliederspektrums der evangelischen Kirche. Was genau bietet die Studie?
Nach einer Einleitung, die über den Anlass und den Aufbau der Studie informiert, folgt unter der Überschrift »Die kirchliche Sta­-tistik« ihr erster Hauptteil (35–97). Im Mittelpunkt steht hier die Vergegenwärtigung der pluralen Verfasstheit des volkskirchlichen Mitgliederspektrums, wie es empirisch-religionssoziologische Studien zeichnen. Aus der Fülle des vorliegenden empirischen Materials greift die Studie exemplarisch auf die Befunde der vierten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft zurück. Diese Wahl wird im Rahmen einer kritischen Sichtung verschiedener Studien zur em­pirischen Kirchlichkeitsforschung begründet. Instruktiv in diesem Kapitel ist die Unterscheidung in gesinnungssoziologische, mar­-keting-soziologische und kirchenamtliche Typen der Mitgliedschaftsforschung. Es wird ein überzeugendes Orientierungsras­ter geboten, mit dessen Hilfe Stärken und Schwächen empirischer Studien zur Kirchlichkeitsforschung schnell transparent werden. Für den weiteren Fortgang der Studie bieten aus dem Feld der kirchenamtlichen Mitgliedschaftsforschung die EKD-Erhebungen über Kirchenmitgliedschaft im Allgemeinen und die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft im Speziellen das hochwertigste und damit geeignetste Material. Die relative Stabilität der pluralen Kirchenmitgliedschaft, die Koexistenz unterschiedlicher Weltsichten und die institutionelle Grundverfasstheit der evangelischen Kirche sind die Befunde, auf die die Studie Bezug nimmt, um den religionssoziologischen Pluralismus des evangelischen Mitgliederspektrums vor Augen zu führen.
Der zweite Hauptteil der Studie trägt den Titel »Die differenzsensible Inklusion der religionssoziologisch pluralen Mitglieder evangelischer Kirchen« und entfaltet das zentrale Argument (99–204). Im Zentrum steht die Frage, wie das plurale Feld evangelischer Kirchenmitgliedschaft theologisch angemessen wahrgenommen und gewürdigt werden kann. An dieser Stelle erschließt sich, was genau die Studie mit »Inklusion« meint: Es handelt sich dabei keineswegs um eine soziologisch-sozialtechnische Kategorie in dem Sinne, dass eine Gruppe von Individuen wie auch immer in ein Sozialgebilde zu inkludieren wäre – zum Beispiel in evangelikal-missionstheologischer Weise. Stattdessen verwendet die Studie »Inklusion« als eine theologische Kategorie, die darauf zielt, den volkskirchlichen Binnenpluralismus theologisch zu begreifen und ihn als genuines Wesensmerkmal evangelischer Kirchen darzustellen. Auf der Suche nach theologischen Inklusionsmöglichkeiten besteht der »Kniff« der Studie darin, nicht sogleich das Feld der Ekklesiologie und Kirchentheorie zu fokussieren. Stattdessen setzt die Studie am Theorem des »sola gratia« und damit bei der Un­mittelbarkeit der Gott-Mensch-Relation an. In theologiegeschichtlicher Chronologie vergegenwärtigt die Studie die Binnendifferenzierung reformatorischer Erwählungstheologie. Ein auf den ersten Blick überraschendes, aber in der Argumentation gut nachvollziehbares Ergebnis der Studie ist es, dass Karl Barths Er­wählungstheologie als neuprotestantische Theoriebildung be­trachtet werden kann und dass gerade Barths »neuprotestantische« Erwählungstheologie ein weitreichendes Potential zur theologischen Inklusion der plural verfassten Mitgliedschaft der evangelischen Kirche in sich birgt. Auf dieser Basis schwenkt die Studie wieder zurück zur Ekklesiologie und Kirchentheorie und informiert über die Konsequenzen, die sich aus Barths Erwählungstheologie hinsichtlich der dogmatischen, religionstheoretischen und funktional-organisationalen Aspekte eines evangelischen Verständnisses von Kirche ergeben. In der Summe zielen diese Konsequenzen darauf, dass ein evangelisches Verständnis von Kirche analog zur unmittelbaren und damit je individuellen Beziehung zwischen Gott und Mensch zwangsläufig mit einer Vielzahl von Formen der Kirchenbindung und Kirchenmitgliedschaft zu rechnen hat. Die Studie erweist damit all jenen Tendenzen und Initiativen eine theologisch wohl begründete Absage, die auf eine Verabsolutierung je eigener Standpunkte und Praktiken und eine starre Normierung religiös-kirchlichen Verhaltens und Denkens zielen.
»Die exemplarische Re-Integration« der pluralen Mitgliedschaft unternimmt schließlich der dritte Hauptteil der Studie (205–270). Hier wird gezeigt, wie gerade die Parochie als volkskirchliche Grundorganisationsform und darin wiederum Pfarrerinnen und Pfarrer eine Mitgliederkommunikation ermöglichen, die die zuvor herausgearbeiteten theologischen Befunde aufgreift und der pluralen Mitgliedschaft sehr gut entspricht. Als konkrete Praxisbeispiele für angemessene kirchliche Handlungsformen unter den Bedingungen des gegebenen Pluralismus in Sachen Kirchenmitgliedschaft nennt und reflektiert die Studie den kasualen Hausbesuch sowie die massenmedialen Handlungsformen des Gemeindebriefes und des elektronischen Newsletters.
H.s Studie ist ein wichtiges Buch zur rechten Zeit. Gerade unter dem immer wirkmächtiger werdenden Ressourcenrückgang in Bezug auf Mitglieder, Finanzen und Mitarbeitende entfaltet sich unter der Überschrift »Organisationsentwicklung« oder »Kirchenreform« in vielen Landeskirchen ein Aktionismus, der die Theologie aus den Augen verliert und damit das orientierende Potential, das die kirchenleitende Funktion der Theologie bereitstellt, un­-genutzt lässt. Plurale volkskirchliche Kirchenmitgliedschaft zu­nächst von der Soteriologie, aber auch von der Gotteslehre und der Anthropologie her zu begreifen und erst auf dieser Basis weiter über ekklesiologische Fragen nachzudenken, ist unter den gegebenen Umständen besonders wichtig. Bleibt am Ende der Lektüre und des Verfassens der Rezension trotz der stichhaltigen und guten Argumentation der Studie doch noch einmal die etwas ungläubige Nachfrage des Rezensenten, ob Karl Barths Soteriologie wirklich als neuprotestantisch kategorisiert werden kann.