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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1132–1133

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Gerhards, Albert

Titel/Untertitel:

Erneuerung kirchlichen Lebens aus dem Gottesdienst. Beiträge zur Reform der Liturgie.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2012. 320 S. 23,2 x 15,5 cm = Praktische Theologie heute, 120. Kart. EUR 39,80. ISBN 978-3-17-022071-3.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Albert Gerhards ist auch in der evangelischen Gottesdienstlehre ein bekannter, viel gelesener Autor, der sich besonders mit ästhe­-tischen Beiträgen zur Liturgie sowie mit Studien zum Verhältnis von christlichem und jüdischem Gottesdienst hervorgetan hat. Der vorliegende Band streift diese Themen jedoch nur am Rande und konzentriert sich ganz auf die Diskussion um die Liturgiereform, die seit der Wiederzulassung der Missa Tridentina (in der Fassung von 1962 durch Benedikt XVI. im Jahre 2007) auch in der evangelischen Theologie wieder größere Aufmerksamkeit findet. Die insgesamt 33 Studien aus den Jahren 1983 bis 2011 sind in sieben Ab­schnitte aufgeteilt: I. Vorläufer der liturgischen Erneuerung, II. Die Liturgiekonstitution im Überblick, III. Reform der Reform? Kritik und Perspektiven, IV. Gestalt des Gottesdienstes – Ästhetik und Raumdimension, V. Liturgie als Lernort, VI. Ökumenische Perspektiven, VII. Zur Theologie des Gottesdienstes. Innerhalb der Ab­schnitte sind die Studien chronologisch angeordnet. Auch der weniger Informierte kann schnell einen Überblick zum Stand der katholischen Diskussion gewinnen, am besten vielleicht in dem sehr kurzen, glänzend zusammenfassenden Papier »Die ›alte‹ und die ›neue‹ Messe« aus dem Jahr 2007 (132–135).
Die drei Jahrzehnte umfassende Begleitung der Liturgiereform durch G., die in diesem Band zusammengefasst ist, zeigt, dass die kritischen Punkte – eine Tendenz zur intellektualistischen Konstruktion und zur gemeindepädagogischen Banalisierung des Ri­tus – von den Befürwortern selbst gesehen wurden. Auch G. äußerte bereits 1995 den Verdacht, »das ›Strickmuster‹ der Liturgiereform sei zu einfach, zu eindimensional gewesen« (44). Auch G.s durchaus ambivalente Position gegenüber der »celebratio versus populum« klingt immer wieder an (etwa 133.176 f.).
Wird die Liturgiewissenschaft, die seit der Konzilskonstitution Sacrosanctum Concilium von 1963 zum Hauptfach an allen katho­lischen Fakultäten geworden ist, bisweilen als »Konzilswissenschaft« (72), als bloße Begleitwissenschaft zur Liturgiereform (Messbuch Pauls VI. 1970) verstanden, so rücken die vorliegenden Studien dieses eingeschränkte Verständnis ebenso gerade wie sie den plakativen Vorwürfen begegnen, die Liturgiereform sei durch Subjektivismus, Rationalismus und Antitraditionalismus bestimmt. Die Meinung, die Reform sei »eine akademisch verkopfte, lebensferne Schreibtischarbeit« gewesen (142), wurde in den letzten Jahren zwar kaum in der Liturgiewissenschaft selbst laut, aber dafür umso mehr in den Kreisen, die man zu Recht als »Feuilletonkatholizismus« bezeichnet und die in der Kirche durchaus Gehör fanden.
Als evangelischer Leser ist man von dieser Auseinandersetzung über die zeitgemäße Gottesdienstgestaltung nicht überrascht, weil sich dieselben Phänomene auch in den letzten vier Jahrzehnten der evangelischen Gottesdienstgeschichte zeigen, ohne dass es dazu einer lehramtlich verordneten Reform bedurfte. Diese Parallele un­terstreicht die Feststellung G.s, dass die Liturgie unterbestimmt bleibt, wenn sie lediglich im Rahmen der kirchlichen Lehrentwick-lung – und nicht zugleich im Zusammenhang der soziokulturellen Bedingungen – zu verstehen gesucht wird: »Neuzeitliches Denken ist von dieser Subjektivität geprägt, hinter die nicht mehr zurück­gegangen werden kann. Hier liegt ein Spannungsverhältnis gegenüber einer objektivierten, gewordenen Liturgie, die in einer Kultur ausgeprägt wurde, in der ein solches Verständnis des Subjekts noch nicht vorlag.« (195 f.)
Damit ist ein weiterer zentraler Punkt angesprochen: G. vertritt ohne irgendein Wenn und Aber die Position, dass die Liturgiewissenschaft nur ökumenisch, und das heißt genauer: nur im Hinblick auch auf die Kirchen der Reformation betrieben werden kann (234–273). Anderenfalls unterlägen Liturgie und Liturgik der Gefahr einer traditionsbezogenen wie ästhetischen Verengung. Die Liturgie und ihre Erneuerung kann immer nur in Spannungen wahrgenommen werden und darf nicht auf Antinomien wie »Reform versus Tradition« (und vice versa) oder »Gewachsenes versus Gemachtes« ge­gründet werden. Besonders eindrücklich ist es, dass G. diesen Zu­sam­menhang an Äußerungen des jungen Joseph Ratzinger be­legt. Es ist im Übrigen bemerkenswert, dass ausgerechnet diese Studien Ratzingers nicht in den Band der Gesammelten Schriften zur Liturgie aufgenommen wurden (J. Ratzinger, Theologie der Liturgie. Die sakramentale Begründung christlicher Existenz [Ges. Schr. Bd. 11], Freiburg u a. 22008; dazu vgl. meine Rezension in ThLZ 134 [2009], 1144–1146). G. zeigt jedenfalls, dass Ratzingers Fähigkeit zum »polaren Denken« sich um 1960 »auf die Universalität der Liturgie und die Erfahrung konkreter Menschen« gleichermaßen bezog. Doch G. äußert auch die Sorge, dass inzwischen durch Benedikt XVI. »die Spannung auf Kosten des zweiten Pols aufgelöst wird« (310).
Die Darstellung der Diskussionen innerhalb der katholischen Kirche und Liturgiewissenschaft ist in diesem Band stets abwägend und ohne jeglichen Hauch von Polemik, obwohl die eigene Position, die Forderung einer ästhetischen und ökumenischen Weiterführung der Liturgiereform, deutlich erkennbar wird. Auch die reformatorische Tradition kommt immer wieder impulsgebend in den Blick. Dabei lässt sich G. innerhalb seines Faches weder einfach den Liturgiegeschichtlern noch den Liturgiesystematikern oder den Praktischen Theologen zuordnen. Er führt vielmehr vor, wie eine zeitgemäße Gottesdienstlehre diese verschiedenen Stränge zusammenzuführen hat und sich kein bequemes Residuum in der Philologie, Dogmatik, Ästhetik oder Kulturwissenschaft einrichten kann. Die Liturgiewissenschaft ist eine praktisch-theologische Disziplin mit einer gewissen wissenschaftlichen Unübersichtlichkeit. Auch diese Tatsache darf aber nicht zur bloßen Attitüde theoretischer Buntheit verführen, sondern sie erfordert – gerade wegen der Unübersichtlichkeit von Kultus und Kultur – die Klarheit des Gedankens und die ordnende Unterscheidung der Perspektiven. Das alles findet sich in diesen gesammelten Studien, und auch der evangelische Leser wird in jeder Weise zuverlässig und fair über die Liturgiereform – und damit über das wahrscheinlich größte Abenteuer der römisch-katholischen Kirche im letzten Jh. – informiert. Auf jeden Fall ist in dem Buch von G. deutlich zu erkennen, dass die Ökumene in der Liturgiewissenschaft keine Pause eingelegt hat.