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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1130–1132

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Dillen, Annemie, and Anne Vandenhoeck [Eds.]

Titel/Untertitel:

Prophetic Witness in World Christianities. Rethinking Pastoral Care and Counseling.

Verlag:

Münster/Wien/Berlin: LIT 2011. 246 S. 23,5 x 16,0 cm = International Practical Theology, 13. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-643-90041-8.

Rezensent:

Kristin Merle

»Was ist, soziologisch gesprochen, ein Prophet?«, fragt Max Weber in seinem Werk Wirtschaft und Gesellschaft (1921/22) – und versucht im Folgenden, das Eigentliche eines Propheten im Unterschied zu anderen Ämtern und Berufungen religionsgeschichtlich zu umschreiben. Etwas mehr von diesem Willen, das Prophetische begrifflich wie phänomenologisch präziser zu fassen, hätte man sich in dem sonst sehr gelungenen Band gewünscht, den die beiden belgischen katholischen Theologinnen Annemie Dillen und Anne Vandenhoeck im Nachgang einer gemeinsamen Konferenz des Akademischen Zentrums für Praktische Theologie/KU Leuven und des European Council for Pastoral Care and Counseling (ECPCC) im Jahr 2009 herausgegeben haben.
Die 17 Aufsätze des Bandes sind in vier Sektionen gruppiert: Prophecy versus Empathy (I), Ethical Approaches (II), Fields of Pastoral Care (III) und World Christianities (IV). Vier Aspekte seien thematisch hervorgehoben, da sie für eine Reflexion des Gegenstands einer prophetischen Seelsorge wesentlich erscheinen:
1. Wie konturiert sich das Prophetische für die gegenwärtigen Interpretation, um Bezugspunkt für die Seelsorge zu werden? Elke Verbeke thematisiert die grundlegende Frage, inwiefern sich ein bestimmtes – nämlich sehr weit gefasstes – gegenwärtiges Verständnis von Prophetie überhaupt und ganz selbstverständlich auf die biblischen Befunde beziehen kann. Interessant in diesem Zu­sammenhang sind auch die Überlegungen Hetty Zocks zur Gegenwartsanalyse: Das klassische Konzept des Propheten, so Zock, hat heute kaum mehr Plausibilität, da autoritative Rede das Nadelöhr der Eigenlogik der Individuen in ihrer Mannigfaltigkeit in pluraler Umgebung zu passieren hat (100 ff.).
2. Wo ist das prophetische Potenzial der Seelsorge anzusiedeln? Nachdem, so ist der Leseeindruck, die Frage nach dem harten Zu­sammenhang zwischen dem prophetischen Verständnis der Tradition und gegenwärtiger Auffassung von prophetischem Handeln weitgehend suspendiert wird, finden sich große Übereinstimmungen in den Beiträgen mit Blick auf die Aufgabe einer prophetischen Seelsorge. Sie hat »spirituell«, »ethisch« und »utopisch« (Smeets) zu sein, sie hat soziale Ungerechtigkeiten aufzudecken und widerständig gegen eine Kultur zu sein, die Leiden und Scheitern individuell zurechnen will (Gärtner). Sie hat die Be­nachteiligten zu inkludieren (Broesterhuizen): »Prophetic ministry consists of offering an alternative perception und in letting people see their own history in the light of God’s freedom and his will for justice.« (Gärtner, 26) Prophetische Seelsorge ist »konkrete Utopie« (Meininger), sie ist imaginative Antizipation des Reiches Gottes (Smeets, Dillen u. a.), Gnade und Gerechtigkeit sind ihre beiden Standbeine (Burggraeve).
3. Wer ist das prophetische Subjekt? Interessanterweise finden sich im Kongressband zwei Spuren, wenn es darum geht zu analy­sieren, woher der Impuls zur prophetischen (Inter-)Aktion stammt. Vor dem Horizont eines bestimmten Auftrags reflektieren Gärtner, Burggraeve, Meininger u. a. auf den Seelsorger als prophetisches Subjekt (vgl. exemplarisch Burggraeve, 87). Andere Beiträger verweisen verstärkt auf die Bedeutung, die die Seelsorgesuchenden für die Konstitution des prophetischen Auftrags haben (Dillen, auch: Broesterhuizen). Zu fragen wäre, ob nicht eine konsequente Lesart von Lévinas, der in verschiedenen Beiträgen angeführt wird, nicht zu einer inversion of roles zwischen dem Seelsorger und dem Seelsorgesuchenden führen muss, wie sie Maeseneer beschreibt (und auf die im deutschsprachigen Kontext vor allem Henning Luther hingewiesen hat): »How to hear in the suffering person, who is often condemned to passivity, a prophetic voice?« (192)
4. Wie ist die hermeneutische Aufgabe einer prophetischen Seelsorge zu beschreiben? Dass seelsorgerliche Hermeneutik, auch ganz allgemein verstanden, vermittelnde Funktion haben muss, zeigen exemplarisch die Reflexionen von Charles Ddungu anhand seiner seelsorgerlichen Erfahrungen in Tansania. Hier wird deutlich: Seelsorge hat immer kontextsensibel zu sein. Sie hat Räume zu schaffen, in denen ein kritischer Dialog stattfinden kann zwischen kulturellen Bezugsrahmen und christlicher Tradition (Ddungu, 218; vgl. auch Zock, 111).
Der Aufsatzband von Dillen und Vandenhoeck ist eine gelungene Zusammenschau von Reflexionen, denen daran liegt, den prophetischen Aspekt der seelsorgerlichen Arbeit zu stärken. Es bleibt jedoch die Frage nach dem präzisen Zugriff: Wozu – und zwar in konstruktiver Unterscheidung von anderem – ist es notwendig, das Bild des Propheten für eine kritische und zugleich solidarische Seelsorgehaltung zu bemühen? Werden damit nicht auch Implikationen in den Diskurs eingespeist, die – zumal aus pastoraltheologischer Sicht (vgl. Punkt 3) – schwierig sind? Herausgeberin Dillen schien eine ähnliche Vermutung gehabt zu haben: Der letzte Ab­satz ihrer Conclusion ist dem »good enough pastor« gewidmet. »Pastors«, schreibt Dillen »do not need to be perfekt« (242).