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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1129–1130

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Teifke, Nils

Titel/Untertitel:

Das Prinzip Menschenwürde. Zur Abwägungsfähigkeit des Höchstrangigen.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XIII, 200 S. 23,0 x 15,5 cm = Studien und Beiträge zum Öffentlichen Recht, 8. Lw. EUR 74,00. ISBN 978-3-16-150691-8.

Rezensent:

Wilfried Härle

Bei dieser Arbeit von Nils Teifke handelt es sich um eine juristische Dissertation, die unter der Betreuung von Robert Alexy entstand und 2010 von der Kieler rechtswissenschaftlichen Fakultät angenommen wurde. Ihre Leitfrage lautet, »ob die Menschenwürde absolut gilt oder abwägungsfähig ist« (33). Gemeint ist damit offensichtlich, ob die Menschenwürde mit Abwägung vereinbar, also abwägbar ist. Die Arbeit bezieht damit ihren Ort in dem rechtswissenschaftlichen und rechtsphilosophischen Diskurs, der durch die Neukommentierung von Art. 1, Abs. 1 GG durch Matthias Herdegen und die scharfe öffentliche Replik von Wolfgang Böckenförde unter dem Titel: »Die Würde des Menschen war unantastbar« (beides aus dem Jahr 2003) eröffnet wurde. Auf welcher Seite T. in diesem Streit steht, wird von Anfang an und durchgehend deutlich. Sein Ziel ist es, zu zeigen, dass und in­wiefern Menschenwürde abwägbar ist, ohne damit ihren Rang als höchstrangiges Rechtsprinzip zu verlieren.
Dabei geht er so vor, dass er in einem ersten Teil (9–97) skizzenhaft den Streit um die Menschenwürde darstellt, wie man ihn (in­direkt) der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und (direkt) dem Streit um Menschenwürde in der (vor allem juristischen) Literatur entnehmen kann. Hierbei werden vergleichende, verbindende und zuordnende Argumentationen des Verfassungsgerichts kühn als Indizien für die Abwägbarkeit der Menschenwürde interpretiert. Im zweiten Teil (101–149) nimmt T. – im Anschluss an Alexy und mit Hilfe von dessen Unterscheidung zwischen (abstrakten, stets optimierbaren) Rechts prinzipien und (konkreten, definitiv gültigen) Rechtsregeln – eine Strukturanalyse der Menschenwürdenorm des Grundgesetzes vor. Mit alledem ist der Boden bereitet für den dritten Teil (153–168), in dem die Ernte dieser Untersuchung thesenartig eingebracht wird. Sie be­steht einerseits aus der Formulierung von sieben Elementen für eine Menschenwürdetheorie, andererseits (und zentral) in der These vom Doppelcharakter der Menschenwürde als absolute Rechtsidee und als relativer Rechtsbegriff.
Von dem Versuch, auf einen klar definierten Menschenwürdebegriff aufzubauen (33), nimmt T. im Fortgang seiner Untersuchung immer stärker Abstand und lässt ihn schließlich (67 f.) ganz fallen. Stattdessen arbeitet er wechselweise mit unterschiedlichen »Definitionen«. Im Vordergrund steht eindeutig Dürigs sog. »Ob­jektformel« (9 ff.29 ff.145 ff.), daneben werden Kants »Autonomiedefinition« (41 f.) und seine »Selbstzweckformel« (42) verwendet, und dasselbe gilt auch für die (leistungsfähige) Gleichsetzung von Menschenwürde mit dem »Recht auf Anerkennung« (66). Diese grundbegriffliche Unbestimmtheit kehrt in der Arbeit wieder bei der vergleichenden Betrachtung der drei bekannten Theoriemodelle zur Menschenwürde, die T. überraschenderweise ebenfalls als »positive Definitionsversuche« bezeichnet und um einen vierten ergänzt: Werttheorie, Leistungstheorie, Kommunikationstheorie und der sog. neue Weg von Matthias Mahlmann (46–52). T. hält diese Theorien für miteinander kompatibel, weil sie alle geprägt seien von der gemeinsamen »überwölbenden Idee« (52.166) von der Doppelnatur des Menschen als ideale bzw. noumenale und als empi­-rische bzw. phänomenale Größe (52 f.). Nun mag man dies als eine allen Ansätzen gemeinsame anthropologische Rahmentheorie iden­tifizieren, dies hebt jedoch deren fundamentale Unvereinbarkeit nicht auf. Aber es dient T. dazu, seine Hauptthese vom »Doppelcharakter der Menschenwürde« (167) vorzubereiten.
Dieses Ergebnis wird von ihm schließlich in einem »Menschenwürdegesetz« zusammengefasst, das folgenden Wortlaut hat: »Die Wichtigkeit der Erfüllung des Prinzips der Menschenwürde ist so groß, daß es ausgeschlossen scheint, daß der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung eines anderen Prinzips höher ist« (169). An diese die ganze Arbeit abschließende Formulierung würde ich – um des besseren Verstehens willen – gerne folgende Fragen richten: 1. Was heißt es, dass das so »scheint«? Ist damit eine bescheidene Gewissheitsaussage gemeint oder der Verweis auf einen bloßen, letztlich trügerischen Schein? 2. Wie kann man den Grad der Nichterfüllung eines Prinzips sinnvoll (und quantifizierend) mit der Wichtigkeit der Erfüllung eines anderen Prinzips vergleichen? 3. Könnte das Ergebnis der Arbeit nicht klarer formuliert werden durch die Aussage: dass die Wichtigkeit der Erfüllung des Prinzips der Menschenwürde so groß ist, dass es nicht vorstellbar ist, dass die Erfüllung eines anderen Prinzips, das mit ihm kollidiert, als gleich groß oder größer eingestuft werden könnte?
Das wäre freilich ein Ergebnis, das die die Arbeit tragende Un­terscheidung zwischen Menschenwürde als abstraktes Rechtsprinzip und als konkrete Rechtsnorm eher infrage stellen als bestätigen würde. Das böte dann jedoch die Möglichkeit, T.s (und Alexys) Leitdifferenz zu transformieren in die Unterscheidung zwischen Menschenwürde als einer generell justitiablen Rechtsnorm und Menschenwürde als einer nur partiell justitiablen moralischen Norm. Diesen Gedanken streift die Arbeit (157 ff.), rückt ihn aber nicht in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit.