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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1125–1127

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Gabriel, Karl, Jäger, Willi, u. Gregor Maria Hoff [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Alter und Altern als Herausforderung. Beiträge v. J. Dichgans, S. F. Lichtenthaler, I. Füsgen, A. Kruse, Ch. Ding-Greiner, K. Gabriel, C. Ozankom, K. Borchard, E. Birkenstock, L. Honnefelder, U. Feeser-Lichterfeld, E. Schockenhoff.

Verlag:

Freiburg/München: Alber 2011. 337 S. m. Abb. 21,5 x 13,7 cm = Grenzfragen, 35. Geb. EUR 29,00. ISBN 978-3-495-48453-1.

Rezensent:

Hans-Martin Rieger

Der Sammelband bietet interdisziplinäre Beiträge zum komplexen Problembestand des Alters und Alterns. Dabei geht es einerseits um ein Bestimmungsproblem, andererseits um ein Transformationsproblem der Moderne: Etablierte Deutungswelten verändern sich. Leitend ist nicht mehr die Nähe zum Tod. Das Alter wird vermehrt als offener Raum unabgegoltener Lebensoptionen begriffen, Vitalität ersetzt Weisheit als Normierungsgröße des Alters. Die Transformation gestaltet sich nicht selten als Umcodierung: Die Hoffnung auf verlängerte Jugendlichkeit codiert letztlich die kulturell ausdifferenzierte Hoffnung auf Unsterblichkeit.
J. Dichgans (21–48) beschreibt in biologischer Perspektive die degenerativen Prozesse des Alterns, entscheidend für die Alterung ist ihm zufolge die fortschreitende Schwächung der genetischen Reparaturmechanismen. Pathologische Erreger sind auch in der Jugend vorhanden, können aber besser abgewehrt werden. Ähnlich geht auch S. F. Lichtenthaler für die derzeitige Alzheimer-Forschung von einem natürlichen Gleichgewicht zwischen der Bildung von Amyloid-beta und dessen Entsorgung in einem gesunden Körper aus (49–58).
Für den medizinischen Umgang mit Alter und Altern fordert I. Füsgen ein positives Verständnis von Gesundheit, das die Fixierung auf die Abwesenheit von Krankheit hinter sich lässt. Das Ziel der Gesundheitsförderung älterer Menschen müsse die Ermöglichung höherer Selbstbestimmung über die Ge­sundheit sein. Angesichts von altersspezifischen Problemen bei der Anamnese empfiehlt sich ein geriatrisches Assessment und eine Ausrichtung der The­-rapie auf die Verbesserung der Lebensqualität bzw. des subjektiven Wohl­-befindens (59–87). Eine erweiterte Definition von Gesundheit und darüber hinaus eine Fokussierung auf die Hoffnung fordert auch Ch. Ding-Greiner (125–146).
A. Kruse zeigt, dass Altersbilder in anderen Kulturen (Brasilien, Japan, Frankreich, Norwegen) zu einer reflexiven Distanzierung gegenüber der eigenen verhelfen können. Das ist nicht unwichtig, wenn soziokulturelle Orientierungen den Entwicklungsprozess des Alterns und den individuellen Umgang prägen. Im Sinne einer altersfreundlichen Kultur fordert Kruse ein Menschenbild, das die Grenzen, die Verletzlichkeit und die Endlichkeit des Menschen anerkennt (91–124). Solches findet sich dann im Beitrag von E. Birkenstock, die in philosophischer Perspektive gerade von der Endlichkeit und den Grenzsituationen her die Chancen gelingenden Menschseins erblickt. Zentral werden dann die Integration des Unvermeidlichen und die Bewältigung der Angst vor Endlichkeit bzw. die Bewältigung der intentionalen Angst vor Sachverhalten, die mit dem Alter gegeben sind (219–251). Grenzen der Bewältigung werden zwar angesprochen, nicht reflektiert wird jedoch, dass Angst und emotionaler Stress den Willen und das Selbst eines Menschen verändern und das aktive Subjekt des Bewältigens selbst betreffen.
Hinsichtlich der gesellschaftlich-kulturellen Faktoren demonstriert K. Gabriel, wie sich die gesellschaftliche Modernisierung auf die Institutionalisierung des Lebenslaufs auswirkte und mittlerweile zu einer Entstandardisierung beitrug. Zu den sozialethischen Herausforderungen der alternden Ge­sellschaft zählt er das Problem der Generationengerechtigkeit, aber auch das Problem mangelnder Anerkennung von Elternleistung: Die sozialstaatlichen Sicherungssysteme prämieren nach wie vor die Kinderlosigkeit. Im Blick auf das Alter überhaupt sieht er eine »neue Anerkennungskultur« als dringlich an (149–175).
Im interkulturellen Vergleich weist C. Ozankom die Folgen der Modernisierung am Beispiel Schwarzafrikas auf: Der soziokulturelle Status des alten Menschen in der Großfamilie und seine Funktion als (mündliche) Tradierungsinstanz von Überlieferung sowie als Brücke zur Lebenswelt der Ahnen werden durch die moderne Wissensvermittlung marginalisiert. Die christ­-liche Kultur biete jedoch Deutungsmuster, diese Marginalisierung zu bearbeiten (177–191).
Was in Deutschland das Leben und Wohnen im Alter betrifft, skizziert K. Borchard anhand der Probleme, die durch die veränderte Mobilität der jungen Alten und durch die Abwanderung der Bevölkerung in Kernstädte bzw. suburbane Gebiete entstehen. Gerade ältere Menschen sind stärker auf die Lebensqualität des Wohnumfelds und auf Einrichtungen der öffentlichen Daseinspflege angewiesen. Auf der anderen Seite stehen neue Chancen und Ideen altersgerechten Wohnens und Lebens – bis hin zu »Altentagesstätten« (193–215).
Neben dem erwähnten Beitrag von E. Birkenstock nehmen die letzten drei Beiträge die ethischen Herausforderungen des Alters in philosophischer und theologischer Perspektive auf:
L. Honnefelder erörtert, was die Erwartung einer möglichst langen Erhaltung von Jugendlichkeit für das Medizinische bedeutet: Sie führt zum Druck, die traditionelle medizinische Teleologie zu erweitern. Allerdings: Was als Gewinn für die dritte Lebensphase angestrebt wird, enthält oft erhebliche Folgelasten für die vierte Lebensphase. Zur Selbstbegrenzung biomedizinischen Handelns empfiehlt Honnefelder die Orientierung an einem gehaltvollen Begriff des Angemessenen, welcher der Endlichkeit und Kontingenz menschlicher Existenz Rechnung trägt (252–263). U. Feeser-Lichterfeld stellt sich der theologischen Herausforderung, dass der Wandel des Alters und des Alterns etablierte Sinnzuschreibungen infrage stellt. Auf der einen Seite herrscht ein biomedizinischer Therapierungs- und Perfektionierungswille, auf der anderen Seite treten entwicklungspsychologische Konzepte für die Annahme der Endlichkeit und für eine transzendente Perspektive ein. Im Anschluss an Überlegungen von R. Guardini, K. Rahner und A. Auer sieht er es als theologische Aufgabe, Alter(n) als Symbolisierung einer positiv zu verstehenden Endlichkeit zu konturieren. Er fordert den Rückgriff auf eine vermittlungsfähige Eschatologie, um in rechter Weise von der Unfertigkeit des menschlichen Lebenszyklus, seiner Vollendung und Ganzheit reden zu können (265–289). Dieser Aufgabe sieht sich auch E. Schockenhoff gegenüber, wenn er sich auf den Weg begibt, den christlichen Glauben so zu explizieren, dass dessen Beitrag zur Gestaltung und Bewältigung des Alterns deutlich wird. Voraussetzung dafür sei es, sich von der Vorstellung eines personalen Einzelakts zu lösen und den Glauben als Tugend und Lebensform, als habituelle Orientierung der ge­samten Existenz des Menschen aufzufassen. Das etwas zu ausführlich geratene Referat über Aristoteles und Thomas v. Aquin soll die Bedeutung eines solchen Glaubens erhellen: Glaubende gewinnen ihre Gelassenheit in Bezug auf Endlichkeit und Tod nicht dadurch, dass sie Aufschluss über das Jenseits bekämen. Sie haben vielmehr eine Lebenshaltung eingeübt, die sie so leben lässt, dass Ab­schiednehmen, Loslassen und Tod ihren Schrecken verlieren (291–337).
Die Beiträge des Sammelbandes stehen recht lose beieinander. Im Blick auf eine transdisziplinäre Verknüpfung wird man insbesondere von der (geronto-)psychologischen und der philosophischen Perspektive mehr erwarten dürfen. Dessen ungeachtet zeigt das lose Bündel gut den Stand der jeweiligen Fachdiskussion und bietet wertvolle Anregungen. Die beiden letzten Beiträge können etwa als Ausführung dessen verstanden werden, worin sich theologische Reflexion von den fast zur Modeerscheinung gewordenen philosophischen Endlichkeitsdiskursen wird unterscheiden müssen.