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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1122–1125

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Bielefeldt, Heiner

Titel/Untertitel:

Auslaufmodell Menschenwürde? Warum sie in Frage steht und warum wir sie verteidigen müssen.

Verlag:

Freiburg/Basel/Wien: Herder 2011. 178 S. 21,0 x 12,5 cm. Geb. EUR 17,95. ISBN 978-3-451-32508-3.

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Joas, Hans: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. 2. Aufl. Berlin: Suhrkamp 2011. 303 S. 22,4 x 12,8 cm. Geb. EUR 26,90. ISBN 978-3-518-58566-5.


Warum werden Menschenrechte in internationalen Erklärungen und Verfassungen kodifiziert? In welchem Sinn begründet der Be­griff der Menschenwürde Menschenrechte? Beide hier anzuzeigenden, außerordentlich lesenswerten Publikationen gehen diese Fragen an, freilich mit sehr unterschiedlichen Zielen und aus unterschiedlichen Forschungszusammenhängen heraus: Der Sozialphilosoph und Soziologe Hans Joas, gegenwärtig Permanent Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies, hat 1997 ein vielbeachtetes Buch über die Entstehung der Werte vorgelegt und erweitert in seinem neuen Band die darin entwickelte Fragestellung auf die Entstehung der Menschenrechte. Der Philosoph Heiner Bielefeldt leitete zwischen 2003 und 2009 das Deutsche Institut für Menschenrechte, bevor er 2010 in Erlangen einen Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik übernahm.
Bielefeldt zeigt sich besorgt über die zunehmende Kritik am Begriff der Menschenwürde. Er sieht sie dem Verdacht der Theologisierung des Rechts, vor allem aber des Fundamentalismus und der Unbestimmtheit ausgesetzt. Er verwahrt sich dagegen, in der Menschenwürde das Einfallstor der Religion in die Sphäre des Rechts zu sehen. Demgegenüber bemüht er sich um eine philosophische Klärung des Begriffs der Würde. Menschenwürde ist für Bielefeldt nicht notwendig im christlichen Begriff der Gottebenbildlichkeit begründet, sondern es konkurrieren in pluralistischer Vielfalt unterschiedliche Begründungen, sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene. Rechtssysteme, so Bielefeldt, haben sich zwar aus einem bestimmten kulturellen und historischen Kontext entwickelt, aber sie sind legitimatorisch nicht von diesem ab­hängig. Rechtsaxiome wie die Menschenwürde müssen so ge­fasst sein, dass man dafür zwar auf weltanschauliche oder religiöse Begründungen zurückgreifen kann, aber eben nicht notwendig muss. Das ist dem Pluralismus der Weltanschauungen und Religionen geschuldet.
Dennoch ist Menschenwürde ein das Rechtssystem fundierender Begriff, der einer Begründung bedarf. Und diese entnimmt Bielefeldt der Kantischen Philosophie und greift auf den kategorischen Imperativ zurück. Danach kann man Menschenwürde nicht allein naturrechtlich als Inbegriff bestimmter Eigenschaften des Menschen und nicht allein konstruktivistisch als Resultat einer gesellschaftlichen Zuschreibung verstehen. Bielefeldt verknüpft beide Ansätze zur paradoxen Formel von der Menschenwürde als »angeborene[r] sozialer Statusposition« (55). Dem Menschen eignet Würde, weil er ein »Verantwortungssubjekt« (21 u. ö.) ist. In der Folge bestimmt Bielefeldt Würde in universalistischer Perspektive vor allem als Gleichheit, die nicht von irgendwelchen anthropologischen oder sozialen Vorbedingungen oder Vorleistungen abhängig zu machen ist. Als solche ist die Würde des Menschen der Grund dafür, ihm Rechte zuzusprechen (105 ff.). Welche Rechte das sind, das entwickelt sich in dem noch unabgeschlossenen Prozess der Kodifizierung von Menschenrechten, sowohl in einzelnen Staaten als auch in Staatenverbünden und in den Vereinten Nationen, und zwar entlang der drei gliedernden Säulen Freiheit, Gleichheit und Inklusion (127).
Ganz eindeutig plädiert Bielefeldt dafür, Menschenrechte und Menschenwürde als säkulare Rechtsinstitute zu sehen, die zwar einer religiösen oder theologischen Deutung offenstehen, aber gerade nicht auf ihnen notwendig beruhen. Menschenrechte sind keine universale Zivilreligion und auch keine »Krypto-Theologie« (145). Menschenrechte sind eingebettet in den »Kontext eines freiheitlichen Säkularitätsansatzes« (153). Im Grunde können sie für sich selbst stehen und bedürfen einer anderen Begründung nicht. Sollten solche Deutungen auftreten, ist dagegen nichts einzuwenden, solange sie nicht mit dem fundamentalistischen Anspruch einer Alleinbegründung auftreten. Insofern hält Bielefeldt den Begriff der Menschenwürde für unverzichtbar, auch gegen diejenigen Interpreten des Grundgesetzes, die den Begriff wegen seiner Vieldeutigkeit preisgeben wollen.
Entwickelte Bielefeldt seine Argumentation für eine begründungsoffene Menschenwürde mit einer stabilisierenden, an Kant angelehnten Anthropologie des Verantwortungssubjekts im Hintergrund und in Auseinandersetzung mit aktuellen und historischen Würde-Interpretationen, so schlägt Joas einen ganz anderen Weg ein. Er setzt sich nicht mit den vielen Menschen-wür­de-Kritikern auseinander, sondern entwickelt seine Thesen im An­schluss an das, was er in anderen Büchern als Theorie der Er­fahrung, der Werte und der Religion dargestellt hatte. Seine Reflexionen über Menschenrechte versteht er als »historisch orientierte Soziologie« (13), die er deshalb favorisiert, weil er gegenüber systematischen philosophischen Begründungen der Menschenrechte, die von der historischen, kulturellen und politischen Entwicklung absehen, skeptisch bleibt.
Genau das, woran Bielefeldt unter allen Umständen festhalten wollte, nämlich die Trennung zwischen Genesis und Geltung, stößt auf die Kritik von Joas. Wer begründen will, kann nicht von der Geschichte absehen, die zur Institutionalisierung des Begründeten, in diesem Fall der Menschenrechte, führte. Diese Vorgehensweise nennt Joas eine »affirmative Genealogie« (15) der Menschenrechte. Den historisch-kulturellen Prozess, der zur juris­tischen Verankerung von Menschenwürde und -rechten führte, nennt Joas einen Prozess der Sakralisierung. Solche Sakralisierungsprozesse sind kontingent und reversibel, und sie gelten keineswegs nur den Menschenrechten. Auch Nationalstaaten sind beispielsweise im 19. Jh. sakralisiert worden, haben aber diesen Charakter der Sakralität auch wieder verloren.
Das führt gleich dazu, vor dem naheliegenden Missverständnis zu warnen, den Begriff der Sakralität für ein Theologumenon zu halten. Eher ist dieser Begriff der Sakralisierung durch die Religionssoziologie Emile Durkheims geprägt. Joas will zeigen, dass die Menschenrechte nicht eine säkulare Bewegung gegen die Religion waren, wie es eine bestimmte antiklerikale Interpretation der Aufklärung suggeriert. Aber Menschenrechte lassen sich auch nicht ausschließlich auf Entwicklungen zurückführen, die im Kontext von Judentum und Christentum ihren Ursprung haben. Vielmehr gilt es zu sehen, wie historische Unrechtserfahrungen – Ungleichheit im Absolutismus des 18. Jh.s, der Kampf gegen Folter, der Kampf gegen Sklaverei, die Erfahrung des Holocaust und des Massenmords im Gulag, die durch den Weltkrieg verursachten Flüchtlingsströme – die Entwicklung von Menschenrechten bis zur Kodifizierung ihrer noch heute geltenden Fassung leiteten. Schon im 18. Jh. spielte das Menschenrecht der Religionsfreiheit dabei so et­was wie die Rolle eines Katalysators, weswegen die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die amerikanische Verfassung für Joas einen sehr viel bedeutenderen Anteil an der Entwicklung der Menschenrechte haben, als das bisher zugestanden wurde.
Deswegen, so Joas in einer sehr wichtigen methodologischen Zwischenbetrachtung (147–203), bedarf es einer Argumentationsmethode jenseits von rein systematisch-philosophischer Begründung (im Anschluss an Kant) und willensorientiertem Dekonstruktivismus (im Anschluss an Nietzsche). Die Grundlagen dafür findet Joas bei Ernst Troeltsch, seinem »existentiellen Historismus« und der historisch-kritischen Methode, die immer wieder die Vermischung von historischer Intention und gegenwärtiger Deutung auflösen und neu interpretieren.
Menschenrechte begründen sich dann letzten Endes in anhaltenden Prozessen der »Wertegeneralisierung« (251), d. h. der Entwicklung von Praktiken, Werten und Institutionen, die einem universalistischen, auf Gleichheit beruhenden Bild vom Menschen geschuldet sind. Darüber ist zu argumentieren, aber eben auch zu erzählen. In der Methode des Narrativen wird die historisch kontingente Entwicklung von Menschenrechten ebenso ernst genommen wie die pluralistische Koexistenz unterschiedlicher Werte und Erfahrungen, die zur Institutionalisierung und Kodifizierung von Menschenrechten geführt haben.
Joas und Bielefeldt unterscheiden sich grundsätzlich in der Be­wertung der Philosophie Kants und in der Bewertung historischer Erfahrung als einem Element zur Begründung von Menschenrechten. Während Bielefeldts Menschenwürdereflexionen dem Kantschen Autonomiedenken weiter vertrauen und es als Tiefendimension der Menschenwürdebegründung in Stellung bringen, sucht Joas im Ernstnehmen von Nietzsches Kritik an Kant neue Wege, den Menschenrechten gerecht zu werden. Während Bielefeld die Historie durch die (systematische) Philosophie überbietet, holt Joas sie kulturwissenschaftlich in die Philosophie hinein.
Dass Menschenwürde und Menschenrechte einer besonderen Begründung und anthropologischen Fundierung bedürfen, darin sind sich beide einig. Die Differenz liegt in folgenden Fragen: Wie viel Begründungsoffenheit für die Menschenrechte kann man zulassen? Wie sind historisch-genetische und systematische Argumente bei der Begründung von Menschenrechten zu gewichten? Welche Rolle spielen exemplarische Unrechtserfahrungen bei der Kodifizierung von Menschenrechten? Obwohl sie nicht aufeinander Bezug nehmen, tragen Bielefeldt und Joas eine implizite Kontroverse aus, die auch von grundsätzlicherer Bedeutung ist. Wie kommt die Gesellschaft zu fundierenden Werten, in denen Gleichheit und Freiheit von allen Menschen respektiert werden?
Joas’ affirmative Genealogie der Menschenrechte nimmt die historischen Erfahrungen, die zur Entwicklung von Menschenrechten führten, aber auch die pluralistische Wertekonkurrenz ernster, als mir das bei Bielefeldt der Fall zu sein scheint. Aber die wichtige soziologisch-juristische Debatte, die durch diese beiden Bücher eröffnet ist, ist damit hoffentlich noch nicht zu Ende. Und diese Debatte benötigt die ethische wie die theologische Stellungnahme, denn darin sind sich beide, Bielefeldt wie Joas, letztlich einig, dass Theologie, Ethik und Religion zur Begründung der Menschenrechte einen wichtigen Beitrag leisten können.