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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1120–1122

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Weinrich, Michael

Titel/Untertitel:

Religion und Religionskritik. Ein Arbeitsbuch.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. 333 S. 21,5 x 15,2 cm = UTB M 3453. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-8252-3453-9 (UTB).

Rezensent:

Klaus von Stosch

Das Arbeitsbuch des Bochumer Systematikers Michael Weinrich bietet eine breit angelegte Einführung in den neuzeitlichen Religionsdiskurs. Dabei wird einerseits die kritische Bedeutung des Religionsbegriffs erörtert, andererseits werden die wichtigsten Linien der Religionskritik und der darauf antwortenden Religionsbegründung insbesondere seit dem 19. Jh. nachgezeichnet.
W. eröffnet sein Arbeitsbuch mit einigen Annäherungen an den neuzeitlichen Religionsbegriff (11–24), indem er verdeutlicht, dass der allgemeine Religionsbegriff eigentlich ein Produkt der modernen Staatsphilosophie ist, die diesen aus dem Friedensbedürfnis der nachreformatorischen Konfessionalisierung heraus entwickelt hat. Auf diese Weise sei »Religion« trotz der großen, bis heute an­dauernden Probleme, den Begriff der Religion überhaupt zu definieren, sehr einflussreich geworden. Nach diesen ersten eher historisch orientierten Annäherungen steigt W. in die Darstellung der Religionskritik ein, indem er zunächst einmal einen Überblick über die Kritik der überkommenen Religionen gibt, die vom Religionsbegriff selbst ausgeht (25–62). Es geht ihm hier also noch nicht um Kritik der Religion im Sinne des genitivus obiectivus, sondern um eine Rekonstruktion der Kritik der Religion im Sinne des genitivus subiectivus. Dabei bietet er eine Übersicht von der aufkläre­rischen Kritik an religiösen Absolutheitsansprüchen bis zu den Systemen des deutschen Idealismus und betont insbesondere die friedensstiftende und integrative Kraft des Religionsbegriffs. Nach einigen sehr facettenreichen Erläuterungen zur theologischen Rezeption der Aufklärung mit besonders ausführlicher Würdigung von Schleiermacher und Marheineke (63–93) wendet sich W. ausführlich den verschiedenen Spielarten der Kritik der Religion im Sinne des genitivus obiectivus zu (95–182). Er geht dabei aus von der philosophischen Religionskritik der Aufklärung, um dann ausführlich auf die verschiedenen Spielarten funktionalistischer Religionskritik einzugehen, die er in philosophische, gesellschaftskritische und psychologische Formen der Kritik untergliedert. Schließlich rundet er das Kapitel noch mit einigen Ausführungen zur Religionskritik in der existenzialistischen Philosophie ab.
Nach der Auseinandersetzung mit den Kritikern der Religion präsentiert W. einige Denker (u.a. Schopenhauer, Weber und Jaspers), die zu Differenzierungen im Umgang mit Religion einladen, indem sie deren Ambivalenzen aufzeigen (183–216). In Kapitel 6 beginnt dann die Rekonstruktion von Verteidigungsversuchen der Religion, indem zunächst einmal Denker zu Wort kommen, »die der Religion nicht nur eine möglicherweise erst freizulegende kritische und lebensdienliche Potenz bescheinigen, sondern diese als unersetzlich einfordern« (217). Zu Wort kommen neben philosophischen (Lübbe) und soziologischen (Luhmann, Berger) auch psychologische Verteidigungsstrategien (Fromm) (217–235). Da­nach referiert W., wie Religion zum Thema der neueren Theologie wird (237–301), indem er auf fundamentaltheologische und religionsgeschichtliche Bestimmungen des Religionsbegriffs eingeht (u. a. Schleiermacher, Pannenberg, Tillich und Troeltsch), aber auch dezidiert theologische Formen der Religionskritik artikuliert (u. a. Barth, Bonhoeffer und Gollwitzer). Den Abschluss dieses Kapitels bilden Ausführungen zur theologischen Renaissance des Religionsbegriffs in der Gegenwart (Wagner, Graf und Gräb). So kommt er zum Fazit, dass sich die Theologie insgesamt mit dem Religionsbegriff arrangiert hat. »Die Theologie ist auf die Religion – zumindest auf ihre christliche Variante – verwiesen oder sie verabschiedet sich von der Wirklichkeit, für die sie in besonderer Weise relevant ist.« (301)
Im letzten Kapitel beschäftigt sich W. mit dem Phänomen der Zivilreligion, der Wiederkehr der Religionen und der Religionstheologie (303–326). Vielleicht hätte man gerade in diesem Kapitel noch ein Eingehen auf den Neuen Atheismus erwartet, was aber auch der einzige Diskussionsstrang ist, den der Rezensent in dem Buch angesichts seiner beeindruckenden Materialfülle wirklich vermisst hat. Allerdings kann man bei jedem der einzelnen Unterkapitel natürlich wieder fragen, wie W. zu seiner Materialauswahl kommt.
Eine große Stärke des Buchs besteht darin, dass es derartige Fragen dadurch im Keim erstickt, dass es eine beeindruckend breite Übersicht über verschiedenste Positionen bietet und sich immer bemüht, den dargestellten Positionen gerecht zu werden. Be­son­ders hilfreich sind jeweils die sehr übersichtlichen, knappen Zwischenbilanzen am Ende aller Kapitel sowie die kurzen grauen Kästen zu den einzelnen Autoren. Sie helfen angesichts der erfreulichen Ausdifferenziertheit der Darstellung, den Überblick zu behalten.
Allerdings irritiert an den Zwischenbilanzen, dass sie meistens ganz ohne eigene Wertung W.s auskommen. Oft fragt man sich, wie W. eigentlich selbst zu den referierten Positionen steht, und ich stelle es mir für Studierende schwierig vor, auf diese Weise mit den herausfordernden Positionen umzugehen, die er so minutiös nachzeichnet. Wenn W. Position bezieht – wie beispielsweise bei der Diagnose, dass die Zeit einer religionslosen Christentumsinterpretation vorbei ist –, tut er auch dies nicht theologisch argumentierend, sondern eher notierend wie ein Geschichtsschreiber. Von daher vermisse ich etwas die eigene theologische Positionierung W.s, die eher zwischen den Zeilen zu finden ist und dadurch wenig greifbar ist und nicht genügend zu eigenen systematischen Denkbewegungen einlädt.
Stilistisch arbeitet W. viel mit oft auch längeren Zitaten, so dass man gut an die Gedanken der jeweils behandelten Autoren herangeführt wird, die Lektüre aber auch recht mühsam ist. Überhaupt scheint Objektivität und Sachlichkeit das zentrale Ideal W.s zu sein, und so erhält man durch das Buch eine gute Gelegenheit, sich mit sehr unterschiedlichen Positionen zur Religion auseinanderzusetzen. Allerdings werden so viele Autoren in dem Buch behandelt, dass es kaum mehr möglich ist, die einzelnen Positionen richtig zu würdigen. Die beeindruckende Fülle an verarbeiteten Positionen hat die Kehrseite, dass es trotz der Zwischenbilanzen schwierig wird, die großen Linien im Blick zu behalten. Da W. sich zudem so stark in seinen Wertungen zurücknimmt, fühlt man sich als Leser mitunter etwas alleingelassen. Aber vielleicht ist ja auch das eine Stärke des Buches, das programmatisch und damit in gewisser Weise gegen den Zeitgeist und die Bedürfnisse vieler Studierender keine »abgepackten und einfach zu reproduzierenden Wissenspositionen« (10) bieten will, sondern gerade auch durch seine Sperrigkeit zum Arbeiten einlädt.