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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1116–1118

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Podmore, Simon D.

Titel/Untertitel:

Kierkegaard and the Self before God. Anatomy of the Abyss.

Verlag:

Bloomington: Indiana University Press 2011. 280 S. 22,9 x 15,2 cm = Indiana Series in the Philosophy of Religion. Kart. US$ 24,95. ISBN 978-0-253-22282-4.

Rezensent:

Hartmut von Sass

Kierkegaard legt eine detaillierte Anatomie des religiösen Abgrundes vor, ohne einen begehbaren Ausweg gezeigt zu haben. So lautet etwa Karl Barths Einwand gegen den Dänen, in dessen Schule man daher auf keinen Fall sitzen bleiben darf. Das sieht Simon Podmore, Research Fellow an der Theologischen Fakultät in Oxford, anders. Kierkegaard gilt ihm geradezu als einer der »most insightful ex-ponents of the triumph of faith over despair« (XI). Um diese Umwertung zu plausibilisieren, konzentriert sich P. auf den »ewigen we­sentlichen qualitativen Unterschied« zwischen Gott und Mensch, der nun nicht allein als Resultat der Sünde, sondern zu­gleich als Ausdruck der Vergebung gelesen wird. Die wahre Bedeutung dieser Differenz liegt demnach in »the infinite quality of mercy« (176). Die abgründige Sünde und die Gnade der Vergebung werden folglich als zwei Modi verstanden, in denen das Individuum sein Leben vor Gott vollzieht, so dass es bei Gott als dem »wholly other« im Modus des Sündenbewusstseins nicht bleiben kann, wenn Gott im Modus der Vergebung als der »Holy other« erscheint (XVIII).
Was sich P. in seiner Studie vorgenommen hat, ist keine Spiegelung der intentio auctoris, sondern die Ausarbeitung einer möglichen Lesart zu Kierkegaards Werk, das als Ganzes, wenn auch mit besonderer Berücksichtigung der Krankheit zum Tode in den Blick genommen wird (XIII). Dies geschieht in einem sehr gründlichen close reading, das ganz bei Kierkegaard bleibt, nicht ohne den Dialog mit benachbarten Denkern wie Luther und Rudolf Otto auf erhellende Weise zu suchen. In das Netzwerk des Kierkegaardschen Vokabulars wird im Verlauf der acht Kapitel zunehmend intensiv eingedrungen, um dem Problem klarer terminologischer Abgrenzungen zwischen ›Abgrund‹, ›Melancholie‹, ›Anfechtung‹ und ›Verzweiflung‹ in spiralförmigen Variationen zum qualitativen Unterschied zwischen Gott und Mensch Rechnung zu tragen (5).
Nach einer einleitenden »Anatomy of the Abyss« widmet sich P. im zweiten Kapitel dem »Inner Abyss« als Spiegelung einer säkularen Geisteshaltung. Dazu wird zu den Anfängen idealistischer Gott-ist-tot-Theologie zurückgegangen, um den von Hegel und Kierkegaard hergestellten Konnex zwischen dem Tod Gottes und dem Tod des Selbst nachzuzeichnen (31f.). Schließlich sei dieser zweite Tod nur die Vollendung des ersten, so dass auch der Wille, selbst ein Selbst zu sein, erodiert (23). Doch Deutungen, die Kierkegaards »Glaubensritter« als Bestätigung dieser Diagnose präsentieren, tritt P. entgegen; denn Abraham hat die ethische Ordnung nicht gänzlich aufheben wollen, sondern hat sie im Sprung lediglich suspendiert (41). Dieser Sprung über den Abgrund lässt Gott als den ganz Anderen zum heiligen Anderen werden, dessen Alterität– gegen Derridas spätere Ge­neralisierung auf jeden Anderen – singulär bleibt (44 f.).
Die beiden folgenden Kapitel beschäftigen sich mit dem Phänomen der Melancholie und kreisen um das spezifischere Problem, ob es eine genuin religiöse Form der Melancholie gibt (56). Ohne diese Frage direkt zu beantworten, geht P. der via melancholica des Glaubens nach (59), wobei dieser »Weg« zugleich den Ausdruck des qualitativen Unterschieds zu Gott und ein soteriological symptom darstellt (49.51). Das spiegelt sich auch in der »Melancholy Theophany«, die sich erschließt, indem sie sich zugleich entzieht (68). Während Otto jedoch diese Erfahrung realistisch deutet (72), integriert Kierkegaard diese Begegnung in den Bezug des Einzelnen zu Gott: Aus einem objektiven Verständnis des Tremendum wird daher ein relationales gegenüber jener unbedingten Andersheit (87, vgl. aber 178).
Im sechsten Kapitel nimmt P. die Hegelsche Wendung des un­glücklichen Bewusstseins auf (90), das an Abraham veranschaulicht wird (94 f.). Damit ist der Übergang geschaffen zur Auseinandersetzung Kierkegaards mit Luther, welcher sich das sechste Kapitel unter dem Titel »The Anatomy of Spiritual Trail« widmet. Bei allen Ähnlichkeiten hat Kierkegaard den Reformator wegen dessen Anfechtungsdualismus kritisiert. Hat Luther sowohl Gott als auch den Teufel als Subjekt der Anfechtung zugelassen, beschränkt der Däne diese Möglichkeit allein auf Gott, ohne die satanische Realität des Dämonischen zu leugnen. Dennoch, die Anfechtung bleibt für Kierkegaard ausschließlich eine Sache zwischen Gott und Mensch (129). Es folgen gegen Ende des Kapitels Ausführungen zum Gebet als Unterbrechung melancholischer Verzweiflung (150). Besonders hier zeigt sich P.s Interesse, die systematischen Fragen mit jenen der pastoral care zu verbinden.
Luther tritt noch einmal auf, wenn sich P. im siebenten Kapitel der im Titel angekündigten Existenz coram Deo zuwendet. Dieses Vor-Gott-Stehen legt P. zunächst von dessen Ambivalenz in seiner dänischen Originalbedeutung aus, die räumlich, aber auch im Sinne von »zugunsten« oder »mit Blick auf« verstanden werden kann (157), um dann im Anschluss an George Pattison abzuwägen, inwieweit die forensische Formel des before God ein regulatives Prinzip bildet, das die Frage einer objektiven Realität des adressierten Forums in den Hintergrund abdrängt (158). In jedem Fall sieht Kierkegaard das Vor-Gott-Existieren als einen Vollzug, in dem alles auf den »heiligen Anderen« bezogen wird, sofern man sich selbst ganz auf Gott bezieht (138). Daher gilt der Glaube als eine Entscheidung, auf welche Weise man Gott empfangen will: in der Verzweiflung an der Sünde oder in der Gnade der Vergebung (160).
Im abschließenden Kapitel wehrt sich P. gegen die daraus folgende Befürchtung, Kierkegaard habe diese Coram-Relation vollkommen internalisiert (182). Dies führt auf die Verbindung zwischen der Vergebung als Gottes Gabe und der zwischenmenschlichen Vergebung. Einerseits behauptet Kierkegaard, Vergebung ist eine allein Gott mögliche Unmöglichkeit, während in den Taten der Liebe ein subtileres Verständnis angedeutet ist, nach dem Gott vergibt, der Empfang dieser göttlichen Vergebung sich jedoch in der Vergebung unserem Nächsten gegenüber realisiert (184–186). Das Buch endet mit einer Präzisierung dieser Unmöglichkeit, um im Anschluss an Derrida die mögliche Vergebung an etwas unmöglich Vergebbares zu koppeln: Die Existenz von Unvergebbarem ist damit Voraussetzung der Vergebung (190 f.).
P. ist eine Studie gelungen, in der Sachkenntnis, Umsicht und Engagement für den Gegenstand eine glückliche Allianz eingehen, obwohl sich Karl Barth in seiner Reserve gegen die ausweglose Anatomie eines negativistisch-verzweifelten Individualismus bestätigt fühlen dürfte. Die Hauptthese, der qualitative Unterschied sei durch zwei Modi – Sünde und Vergebung – bestimmt, wird in einer nahe an den Texten und Kontexten verbleibenden Lektüre einsichtig. Leider verhindert auch hier die Nähe jene nötige Distanz, die fragen ließe, welcher Status dem hier Präsentierten zukommt und welche Form dessen Kritik überhaupt annehmen könnte. P. legt sich zuweilen selbst die Frage vor, ob es erforderlich sei, durch die Untiefen der via melancholica hindurchzugehen, um eine authentische Existenz vor Gott führen zu können (126.137). Zuletzt scheint P. die Frage dieser theologischen Notwendigkeit durch das vorgelagerte Problem ihrer existentiellen Möglichkeit ersetzen zu wollen. Und ob diese Möglichkeit verwirklicht werden kann, überlässt P. – auch darin ganz der Kierkegaardschen Eigenlogik folgend (192)– dem melancholischen Leser.