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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1113–1114

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Huyssteen, J. Wentzel van, and Erik P. Wiebe [Eds.]

Titel/Untertitel:

In Search of Self. Interdisciplinary Perspectives on Personhood.

Verlag:

Grand Rapids/ Cambridge: Eerdmans 2011. XI, 387 S. 22,8 x 15,2 cm. Kart. US$ 45,00. ISBN 978-0-8028-6386-7.

Rezensent:

Christina Aus der Au

Wenn es weiterer Indizien bedürfte dafür, dass die Neurowissenschaften auch in der Philosophie die Definitionsmacht übernommen haben, so wäre dieser Sammelband eines davon. »In Search of Self«, auf der Suche nach dem Selbst, sind die Philosophinnen und Philosophen nämlich vor allem deswegen, weil sie sich vom neurowissenschaftlichen Befund herausfordern lassen, dass es im Gehirn kein neuronales Korrelat zu einer zentralen Kommandostelle gibt. Kein Neuronenverband, also auch kein einheitliches Selbst.
J. Wentzel van Huyssteen und Erik P. Wiebe, die beiden Herausgeber, führen in ihrem Vorwort das Nachdenken über das Selbst zwar auf Ricœur und dessen Konzeption eines narrativen Selbst zurück. Sein »sich selbst als ein Anderer Erzählen« habe uns vor einer narzisstischen Engführung auf unser Eigeninteresse bewahrt, ohne dass unser Selbst dabei vollständig verloren ginge. Ricœur wird im Buch dann allerdings lediglich vom norwegischen Systematiker Henriksen kurz gestreift, der für ein phänomenologisch hergeleitetes erotisches Selbst argumentiert, das sich durch liebendes Begehren auf die Welt bezieht.
Alle anderen Autorinnen und Autoren denken und schreiben vor allem gegen die Herausforderung der Neurowissenschaften an. Wie können wir an der phänomenal gegebenen Einheit des Selbst festhalten, wenn sich im Gehirn keine Repräsentation eines solchen Selbst nachweisen lässt?
Der Band beginnt mit den Ursprüngen des Selbst. Neben den Anthropologen Tattersall, Hodder und Barbara J. King, die sich mit den archäologischen bzw. den evolutionären Wurzeln des Selbst beschäftigen und sich dort kompetent, spannend und durchaus ihrer Grenzen bewusst auch auf spekulative Äste hinauswagen, mischt der Artikel aus einer Gruppe um Siegel aus dem Mindsight Institute etwas unreflektiert Begriffe wie Spiritualität, Realität und Möglichkeit mit Quantenphysik, Komplexitätstheorie und buddhistischer Psychologie. Sehr lesenswert dann wieder der Artikel von Emma Cohen und Barrett, die archäologische, ethnologische und entwicklungspsychologische Befunde nach präreflexiven Vorstellungen von Personalität befragen, welche allen Menschen ge­meinsam sind. Offenbar ist quer durch Zeitalter und Kulturen ein Dualismus tief verwurzelt, der mit Vorstellungen von mentaler Verursachung, Lebenskraft und Identität/Essenz zusammenhängt.
Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem Selbst als Vielheit. Hier mühen sich vor allem Religionspsychologen und Praktische Theologinnen um Argumente dafür, dass auch für die Theologie eine Multiplizität des Selbst nicht unbedingt pathologisch sein müsse.
Turner unterscheidet zwischen krankhafter disorder und normaler disunity und hält die theologische Flucht in das Postulat einer exozentrischen Einheit des Menschen in Gott für unbefriedigend. Er bietet allerdings auch nicht mehr an als den Rat, sich der Vielfältigkeit des menschlichen Selbst und den daraus folgenden ethischen und existenziellen Herausforderungen zu stellen. Pamela Cooper-White unterscheidet ebenfalls zwischen multiplicity und fragmentation und schlägt den interessanten Begriff eines »braided self« vor, in dem sich die Stränge des eigenen Körpers, der jeweiligen Beziehungen, der Spiritualität und der gelebten, ethisch relevanten Praxis zu einer narrativen Einheit verbinden. Das Subjekt »bewohnt« diese Subjektivitäten im Fluss der Zeit, und während es nach außen an seinem Handeln in den jeweiligen Kontexten erkennbar wird, ist es letztlich nur Gott, von dem es ganz und gar erkannt wird. So­wohl die Praktische Theologin Hetty Zock als auch die Prozesstheologinnen Helene Russell und Majorie Suchocki verweisen demgegenüber auf die bleibende Dialogizität bzw. die Dialektik des Selbst, welches oszilliert zwischen seiner radikalen Vielfältigkeit und der phänomenal erfahrenen Einheit. Sie ge­langen damit wenigstens auf der reflexiven Metaebene zu einer zumindest ge­dachten Einheit in der Relationalität. Nur die Philosophin Maxine Sheets-John­stone bleibt konsequent. Mit Bezug auf bud­dhistische Philosophie und Husserl kritisiert sie die Suche nach einem einheitlichen Selbst als geleitet durch die Verführungen der Sprache und findet nichts weiter als die Summe von Gewohnheiten.
Der dritte Teil behandelt das Verhältnis von Selbst und Identität. Der Philosoph Schrag bietet eine relecture von Kants transzendentalem Ich an, das allerdings nicht als entkörperlichte res cogitans gesehen wird. Denken ist immer auch Interpretieren und geschieht in einem holistischen Netz von präreflexivem Verstehen. Das transzendentale Ich inkarniert sich in die verkörperte und damit auch historische Existenz hinein, und hier wird der soziopolitische Aspekt von Selbstheit erkennbar, welcher die Ich-Erfahrung in eine multikulturelle und postnationale Wir-Erfahrung transformiert.
Die konsequente Fortführung des idealistischen, körperlosen Selbst, das im Hintergrund vieler Diskussionen präsent geblieben ist, führt paradoxerweise in vielen Science-Fiction-Erzählungen zur posthumanen Auflösung des Subjekts. Jennifer Thweatt-Baker führt vor Augen, wie sehr dies schon Realität ist, wenn wir an die Auslagerung unseres Gedächtnisses in Smartphones und Laptops denken. So skizziert sie nicht nur eine Cyborg-Anthropologie, sondern auch den Cyborg-Christus, der als Erstling posthumaner Hybridität sowohl an der göttlichen als auch an der menschlichen Subjektivität teilhat.
Das eindrücklichste Plädoyer für ein Selbst ist der Aufsatz des Brasilianers João Biehl, der den Fall einer jungen Patientin beschreibt, an der sich zeigt, wie mit der Verabreichung von Medikamenten alle Probleme gelöst werden sollen. Die junge Frau vegetiert in einem Heim dahin, physisch und psychisch krank. Sie wird dort zum medikalisierten Objekt, im komplexen Netzwerk von Familie, Medizin, Staat und Wirtschaft gefangen. In ihren Tagebüchern versucht sie, ihre Gedanken und Wahrnehmungen festzuhalten. »Ich schreibe, um die Worte nicht zu vergessen«, notiert die ungebildete Frau aus den Slums, und erarbeitet sich aus dem geschundenen und manipulierten Körper heraus eine Subjektivität, die sich aber gerade als solche weigert, fremdbestimmt zu bleiben.
Während in Teil II und III die Dialektik von Außenbezogenheit und Einheit des Selbst in ihrer Phänomenalität beide gleichzeitig im Blick bleiben ließ, ist die Aufgabe von Teil IV Emergenz und Selbst diachron: Wie entsteht ein Selbst? Autorin und Autoren suchen nach der verlorenen Alternative zwischen der westlichen Aufblähung des Selbst und dem materialistischen Reduktionis­mus– ohne allerdings Letzteren genauer bestimmt zu haben.
Die Theologin Catherine Keller versucht mit Hilfe von Welkers Hermeneutik des pneumatologischen Kraftfelds eine biblisch inspirierte und gendertheoretisch gebrochene Autopoiesis des Selbst zu skizzieren, das letztlich aber trotz allem Geheimnis bleibt. Von philosophischer Seite her begründen Haag, Deacon und Ogilvy das Selbst via präferenzutilitaristischer Überlegungen als Zentrum der eigenen Interessen und des Handelns. Sie postulieren einen emergenten Übergang von Wirkkausalität zu Zweckkausalität, der ebenfalls autopoietisch zustande kommen soll. Das Selbst wird konstituiert durch die Begrenzungen, welche zur Erreichung des Zwecks nötig sind, und ist somit sowohl etwas als auch nichts. Und der Theologe Rolnick argumentiert mit Gödels Unvollständigkeitstheorie und Polanyis logischer Lücke und Quantenphysik, um zu zeigen, dass verschiedene Ebenen von Realität füreinander durchlässig und letztlich von Gottes transzendenter Ebene um­fasst sind.
Keiner dieser Aufsätze allerdings erklärt, wie man sich Emergenz jenseits einer innernaturwissenschaftlichen Definition vorzustellen hat und wie damit die Beziehung von na­turwissenschaftlich erfassbarer und subjektiv erlebbarer Realität verstehbar ist. So überzeugt einzig Roger Scruton, der erfrischend respektlos über den Neuro-Un­sinn herzieht und auf der unerklärbaren qualitativen Differenz von lebensweltlichem Verstehen und naturwissenschaftlichem Er­klären besteht. Auch wenn diese Ansicht nicht neu ist, so wird sie durch keinen Aufsatz in diesem Sammelband, so spannend er auch geschrieben sein mag, eines Besseren belehrt.