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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1110–1112

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Stange, Christoph

Titel/Untertitel:

Zum Umgang mit Religiöser Musik aus musikpädagogischer Sicht.

Verlag:

Essen: Die Blaue Eule 2011. 205 S. m. Abb. 21,0 x 14,8 cm = Musikwissenschaft/Musikpädagogik in der Blauen Eule, 98. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-89924-317-8.

Rezensent:

Harald Schroeter-Wittke

Dieses musikpädagogische Buch wird zu Recht in einer theologischen Zeitschrift rezensiert. Denn in ihm reflektiert der Berliner Studienrat Christoph Stange das Phänomen »religiöse Musik« mu­sikpädagogisch in einer Weise, die auch für Theologie und Religionspädagogik insgesamt äußerst lehrreich ist.
S. eröffnet seine Überlegungen mit fünf Spots, die die Bedeutung von religiöser Musik sinnenfällig machen: 1. der Gesang von Dona nobis pacem und Herr, gib uns deinen Frieden im Oktober 1989 während der Friedensgebete in Dresden; 2. der Besuch der wö­chentlichen hadra des Sufiordens der Tariqa burhaniya; 3. die vollen Kirchenbänke bei der Aufführung von Bachs Weihnachtsora­torium. Dazu treten zwei typische musikpädagogische Szenerien: 4. eine musikpädagogische Präsentation der Musikalischen Exequien von Heinrich Schütz, die deren religiöse Dimension weitgehend nicht erwähnt; 5. eine musikpädagogische Einheit zur Begegnung mit außereuropäischer Musik, die deren religiöse Grundierung nicht thematisiert.
Im Bewusstsein der emotionalen Besetzung dieses Themas ar­beitet S. zunächst auf, wie es zu diesem Missstand gekommen ist. Da ist zum einen die Bevormundung der Musik durch Kirche und Religion, von der sich die Musik erst im 19. Jh. emanzipieren konnte. Da ist zum anderen das verbreitete Vorurteil, dass Religion und Vernunft einander ausschließen. Die daraus resultierende faktische Ausgrenzung religiöser Musik in musikpädagogischen Kontexten geschieht aber zum Schaden der Musik, weil diese im globalen Maßstab eben sehr häufig im Zusammenhang von Religion er- und gelebt wird. S. plädiert daher für eine erneute Wahrnehmung von religiöser Musik, die allerdings der Deutungsoffenheit von Musik das Primat einräumt.
Was aber kann als religiöse Musik bezeichnet werden? S. dekonstruiert die verbreitete Annahme einer natürlichen Verbindung von Musik und Religion ebenso wie den Versuch, religiöse Musik als reines Rezeptionsphänomen dingfest zu machen. Er plädiert stattdessen für einen Religionsbegriff, der nicht nur formal, sondern auch inhaltlich gefasst ist und die auktoriale Intention beim Musikschaffen ebenso berücksichtigt wie die Anerkennung dieser Musik als einer religiösen auf der nicht nur individuellen Rezep tionsebene. Durch die inhaltliche Bestimmung des Religions­begriffs ergibt sich jedoch das Problem einer Gefährdung der Deutungsoffenheit von Musik, die aber notwendig ist für einen gelingenden musikpädagogischen Prozess. Vor diesem Hintergrund un­tersucht S. vier musikpädagogische Positionen. Dabei erweist sich die »Identitätsfindung mit christlicher abendländischer Kunstmusik« (66, Karl Heinrich Ehrenfort) als ebenso unzureichend wie die »Aneigung des bürgerlich-humanistischen Erbes« in der DDR (77, Siegfried Bimberg/Anita Zuna-Kober) einerseits oder die »unbewusste Religiosität« (96, Volker Schütz) andererseits oder schließlich Versuche, »das Eigentliche wahrnehmen« (99, Wolfgang Roscher) zu wollen.
S.s eigenes Modell geht demgegenüber davon aus, dass alle Musikpädagogik die gelingende Mensch-Musik-Relation ermöglichen soll, so dass die musikpädagogische Wahrnehmung von Religiöser Musik immer bei der Musik selbst anzusetzen und von da aus einen Zugang zu deren existenziellem Sinn zu eröffnen habe. Dabei hilft ihm die Musiktheorie Helmuth Plessners, die die Voluminosität der Musik mit der exzentrischen Positionalität des Menschen in Beziehung setzt, so dass der Mensch durch Musik mit sich selbst vermittelt wird, dies aber unmittelbar. Denn Stimme bzw. Schallerzeugung gehen vom Menschen aus und kehren zugleich wieder zu ihm zurück. »Etwas ringt sich aus ihm los und begegnet ihm als Ton wieder von außen: das ursprünglich Eigene kehrt zu ihm zurück als ›seine‹ Äußerung.« (Plessner-Zitat, 121) Die eigentümliche Fern-Nähe der Musik macht ihre Einzigartigkeit aus. Sie bringt den Menschen zugleich in den Zustand eines Spiels, das er selbst spielt und das zugleich mit ihm gespielt wird und zugleich ein Spiel der Töne darstellt.
Vor diesem Hintergrund erläutert S. die Prämissen, mit deren Hilfe er religiöse Musik so erschließen will, dass dies den existenziellen Sinn von Religiöser Musik deutlich macht, ohne dabei übergriffig zu werden:
1. Musikzentrierung (125): Die Begegnung mit der Musik hat eine zentrale Stellung in dem Wissen, dass religiöse Musik sich nicht musikalisch definieren lässt.
2. Gelingende Begegnungen (128): Es geht um gelingende Mensch-Musik-Beziehungen, die zugleich erlebnisbedingend als auch erlebnisbedingt sind.
3. Eigene Sinnzuschreibungen (131): Die unterrichtlichen Settings sind so anzulegen, dass die Lernenden zu eigenen Sinnzuschreibungen herausgefordert werden.
4. Durchlässigkeit (140): Die unterrichtliche Beschäftigung mit Musik muss durchlässig sein für ein Leben mit Musik jenseits des Unterrichts. Die beim Umgang mit religiöser Musik als altered states of consciousness beschriebenen Zustände wie Ekstase, Trance und Besessenheit können und dürfen im Unterricht nicht reinszeniert werden, sondern müssen in der gebotenen Abständigkeit so thematisiert werden, dass deren Leerstelle im Musikunterricht bewusst bleibt und durchlässig wird für die Erkenntnis, dass religiöse Musik außerhalb der Schule eine Rolle spielt und dort auch gelebt wird. – So benennt S. mit Christian Kaden abschließend das bisherige Hauptproblem mit der religiösen Musik: »Nicht säkulare Auffassungen oder Verstehensweisen sind das Problem, sondern ein Umgang, der das Potenzial, das in dieser Musik liegt, nicht wahrnimmt, nicht ernst nimmt und nicht nutzt.« (149)
Zum Schluss bietet S. sechs didaktische Beispiele, die seine Theorie in beeindruckender Weise praktisch machen: György Ligeti (1923–2006): Lux aeterna; Joan Osborne (*1962): One of us; Christoph Schönherr (*1952): Fecit potentiam; Johann Bach (1604–1673): Unser Leben ist ein Schatten; Nusrat Fateh Ali Khan (1948–1997): Allah hoo; Johann Sebastian Bach (1685–1750): Sinfonia aus BWV 21.
S.s Buch beeindruckt durch eine ungeheure Kenntnis des Religions-Diskurses, durch pädagogische Weitsicht und durch didaktische Kreativität – eine interdisziplinäre Arbeit, deren Horizont auch für die Wahrnehmung von Religiöser Musik in dezidiert religiösen Zusammenhängen weiterführend ist. S.s musikpädagogische Einsichten korrespondieren dabei mit den Grundproblemen einer Religionspädagogik, deren performative Verfahren zunehmend wichtig und zugleich kritisch zu reflektiert sind.