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Ausgabe:

März/1996

Spalte:

262–264

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bendemann, Reinhard von

Titel/Untertitel:

Heinrich Schlier. Eine kritische Analyse seiner Interpretation paulinischer Theologie.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1995. 492 S. 8o = Beiträge zur evangelischen Theologie 115, Lw. DM 68,­ . ISBN 3-579-02004-8.

Rezensent:

Friedrich W. Horn

Dieses Buch über den Neutestamentler Heinrich Schlier (31.3.1900-26.12.1978) ­ nicht wie der Buchrücken sagt: Heinrich Schlier über Reinhard von Bendemann ­ ist eine geringfügig überarbeitete Fassung einer Dissertation, die von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn 1994 angenommen wurde. In Reinhard von Bendemann hat Heinrich Schlier einen umsichtigen Leser und Interpreten gefunden, der sein Gesamtwerk in unveröffentlichten und veröffentlichten Quellen mit Akribie erschließt (Quellenverzeichnis 428-448), es behutsam ohne polemisierende Verzerrung wahrnimmt und darstellt, der aber dennoch zu einem sachlichen und klaren Urteil kommt. Was der Untertitel anzeigt, wird eingebunden in einen biographischen Rahmen, der die theologie-, philosophie- und zeitgeschichtlichen Aspekte stets im Blick hat und gegebenenfalls thematisiert. Das mit großem Fleiß sauber gearbeitete Buch wird daher nicht allein Neutestamentler ansprechen, sondern ebenfalls alle, die an kirchlicher Zeitgeschichte (Schliers Stellung im Kirchenkampf), Hermeneutik (Schliers Verhältnis zu Heidegger und Bultmann) und Ökumene (Schliers Konversion zum Katholizismus) interessiert sind. Wer nur den Schlußteil (418-427) liest, erhält eine präzise Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der Arbeit, er würde aber nicht des ’Dramas’ (419) ansichtig werden, als welches Schliers Gesamtwerk in von v. B.s fairer Nachzeichnung erscheinen muß.

Nach der Einleitung widmet sich Teil II ’Heinrich Schliers Vita und seinem akademisch-theologischen Weg, (25-127). In dem ersten biographischen Teil kommt natürlich dem 1953 vollzogenen Austritt aus der evangelischen Kirche und dem Übertritt zur römisch-katholischen Kirche besondere Bedeutung zu. Dieser Schritt war seit 1948 mehrfach mit dem bereits 1930 konvertierten Erik Peterson bedacht worden und er wurde in seinem Beisein vollzogen (61). Schlier hat diese Entscheidung als Konsequenz seines theologischen Verständnisses des biblischen Zeugnisses verstanden, da nach seiner Auffassung die Evangelische Kirche im Verständnis des Sakraments, des Amts und des Bekenntnisses nicht neutestamentlich ist (59, Anm. 173: Brief an den Präses der EKiR vom 22.7.1952). Mittelbar war dieser Schritt auch eine Folge der in der Kirchenkampfzeit gestellten Frage nach dem Wesen der Kirche, die ­ so Schlier im Bonner Album professorum ­ "an der Grenze der ev. Theologie bzw. an der Grenze der katholischen Theologie endeten" (57), unmittelbar wohl eine im Sommer 1947 vollzogene Absetzung von Karl Barth, in dem sich neben Bultmann für Schlier die evangelische Position personifizierte (81 f.). Die Darstellung der maßgeblichen Lehrer und ihrer Relevanz für Schliers Interpretation paulinischer Theologie blickt neben Karl Barth und Rudolf Bultmann auf Martin Heidegger und Erik Peterson. In Zustimmung zu Barth wird die historische Fragestellung in der Exegese zunehmend zurückgestellt. Dabei hatten die Dissertation ’Religionsgeschichtliche Untersuchungen zu den Ignatiusbriefen’ und die Habilitationsschrift ’Christus und die Kirche im Epheserbrief’ "keinen explizit theologischen Teil" (192) geboten, bzw. ­ mit Worten Schliers ­ "das philologisch-histor. Ruhekissen nicht ... verlassen..." (192 Anm. 126). Die nun folgenden exegetischen Arbeiten Schliers müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, "den historischen Aussagegehalt der Texte anachronistisch zu verdecken und vorschnell für das dogmatische Gespräch interessant zu machen" (420). Die Grundzüge einer paulinischen Theologie werden in den Worten Barths als Theologie ’mit Paulus’ entfaltet (73). Das Verhältnis zu Bultmann wird eindrücklich durch den Briefwechsel von Schlier an Bultmann aus den Jahren 1922-1950 (im Text und in Anmerkungen ausführliche Zitate) beleuchtet. Die Darstellung der Schülerschaft Schliers zu Bultmann verbindet v. B. mit der These einer Flucht vor bestimmten Konsequenzen des Bultmannschen Denkens (83). Zumindest sind klare, am biblischen Befund sich festmachende Differenzen im Begriff der Offenbarung und im Verständnis des Sakraments festzumachen.

Die Teile III-VI stellen Schliers Interpretation der paulinischen Theologie dar und zielen jeweils auf einen Abschnitt ’Zur Diskussion und kritischen Würdigung’, in dem v. B. Schliers Position sachkundig und informativ, aber in überwiegender Fixierung auf die deutschsprachige Literatur mit gutem Urteil in Beziehung zur gegenwärtigen Paulusforschung setzt. Schliers Paulusinterpretation ist schon durch den Sachverhalt, daß Schlier an keiner Stelle die Rechtfertigungserkenntnis des Apostels (142) bzw. die Relevanz des Glaubens (250 Anm. 137) in einer Veröffentlichung eigens thematisiert, in ihrer Abständigkeit von der reformatorischen Tradition und ihrer Schriftauslegung gezeichnet. Als "Kernkonstrukt der Schlierschen Interpretation paulinischer Theologie" (175) erscheint Teil IV: Die Kirche als Crucifixus prolongatus bei Paulus ­ die creatio ecclesiae als konkrete Auswirkung des Zentralereignisses von Kreuz und Auferstehung. Schlier spricht sich seit 1946 für die ’Paulinizität’ (dieses grausige Wort wird mehrfach von v. B. verwendet) des Epheserbriefs aus, der nunmehr als Schluß- und Höhepunkt des paulinischen Denkens erscheint (192 f.). Die Aussagen aus Eph 2,14-18 und 3,18 werden von Schlier dahingehend interpretiert, daß "eine reale Identität von corpus carnis des Gekreuzigten und Kirche" (198) bestehe. Somit sei die Kirche Christi allumfassendes, raumwirkliches Anwesen, in der die neue Schöpfung präsent ist. Auch wenn Schlier zuletzt die Echtheit des Epheserbriefs nicht festhalten mochte, so brauchte er seine Ausführungen nicht zu revidieren, da sein Schriftverständnis den Kanon als eine Einheit betrachtete (368). In allem Respekt vor Schliers ekklesiologischem Anliegen der Auslegung des Epheserbriefs ist v. B.s Urteil "exegetisch ... eine Fehlinterpretation" gewiß noch moderat.

Teil V: Die Fleischwerdung des Wortes ­ die ’konkrete’ paulinische Eschatologie. "Ausgehend von Bultmanns Orientierung der ’Eschatologie’ als vollgültiger Heilsgegenwart sowie später Petersons entschiedener Absage an alle ’Dialektik’ erfolgt eine weit ausgreifende Systematisierung, in der die Heilsgegenwart und -realität mit der am Epheserbrief gewonnenen Ontologie der ecclesia visibilis verknüpft wird" (232). Schlier läßt sich von präsentischen Aussagen der Deuteropaulinen leiten und biegt den paulinischen Vorbehalt präsentisch um (230). Mit dieser Umstrukturierung innerhalb der Eschatologie gewinnt das Amt und die ihm vom Kyrios übertragene Oikonomia eschatologische Dignität, was zugleich eine Voranstellung des Sakraments und die These einer Grundlegung des Dogmas (Praesymbolik) in der paulinischen Theologie nach sich zieht. All dies verdeutlicht Schlier 1948 am 1 Korintherbrief, der anachronistisch als Buß- und Disziplinierungsruf an die Adresse der evangelischen Kirche ausgelegt wird (241). Man liest erschrocken v. B.s nie überzeichnende Darstellung der Folgerungen innerhalb der Theologie Schliers, die sich zwar auf Paulus berufen, aber doch weit von ihm entfernt sind: so etwa in der Entgegensetzung von Amt und Charisma mit Hilfe der Pastoralbriefe (288), Charismen sind Hilfsdienste der Laien, die das Amt befruchten (309), in der exklusiven Ableitung der Apostolizität von der Norm der Apostel (291), in der Rede vom jesuanischen Priesterdienst, dessen kultischer Liturg Paulus ist (297). Schliers Grundlegung des Priesteramts ist in der Tat als "eine Systematisierung zu beurteilen, die weitgehend auf die Wahrnehmung der einzelnen neutestamentlichen Aussagen in ihrem historischen Kontext verzichtet" (303).

"Schlier verfolgt de facto unter dem Deckmantel der Exegese systematisch-theologische Interessen". Präziser wohl das von v. B. zitierte Urteil von H. D. Betz: "Schlier zögert nicht, die Grundstrukturen seiner römisch-katholischen Lehre von der Autorität der Kirche in den Text hineinzulesen..." (354). Freilich soll dabei nicht übersehen werden, daß Schlier, möglicherweise angeregt duch Barths Tauflehre, die eine "Katalysator-Funktion für die Wahrnehmung der Lage in der evangelischen Theologie und Kirche im Verlauf der vierziger und fünfziger Jahre" erhält (272), mit seiner Darlegung der paulinischen Tauflehre in verschiedenen Aufsätzen gegen den Trend seiner Zeit zu Recht auf die sakramentale Grundlage innerhalb der paulinischen Theologie aufmerksam gemacht hat.

Teil VI: Die Heilige Schrift als Ortschaft der Wahrheit ­ hermeneutische Grundentscheidungen der Schlierschen Interpretation paulinischer Theologie. Schlier hat, wie bereits erwähnt, der historischen Kritik eine zunehmend geringere Stellung eingeräumt. Er hat mit seiner Konversion die unfehlbar-lehramtliche Schriftauslegung der römisch-katholischen Kirche akzeptiert, sich dabei wohl auch auf Heideggers Skepsis gegenüber der historischen Wissenschaft berufen. Dem neutestamentlichen Schrifttum geht die vorausliegende Autorität der Kirche zuvor.

Der gedrängte und skizzenhafte Überblick über v. B.s Nachzeichnung der Paulusinterpretation Schliers ist hier abzubrechen. Der Fortgang der Forschung hätte Schlier letztlich zu einem mehrfachen Umdenken führen müssen (419 f.): Die religionsgeschichtlichen Substruktionen seiner Auslegung des Epheserbriefs waren mehr als brüchig geworden. Das zweite Vaticanum hatte im Anschluß an Paulus eine communio-Ekklesiologie gelehrt, die Schlier gerade zurückzudrängen gesucht hatte. Die Echtheit des Epheserbriefs war Schlier fragwürdig geworden. Der ökumenische Aufbruch ist von Schlier wohl in aktiver Mitarbeit mitgetragen worden, aber in der Hoffnung der Wiederherstellung der Einheit der römischen Kirche (426). Daß der angesichts solcher Verschiebungen in Unerschütterlichkeit an seinen Positionen festhaltende Schlier nur einzelne Schüler gefunden hat und es bald still um seine Publikationen wurde, ist verständlich.

Dem exegetischen Werk Heinrich Schliers, seinen religionsgeschichtlichen Arbeiten, den 30 ThWNT-Artikeln, unter den Kommentaren demjenigen zum Epheserbrief ist auch zukünftig mit großem Respekt zu begegnen. Es ehrt einen jungen protestantischen Theologen, der aus einer von Barthscher Tradition geprägten Fakultät kommt, dem dieser Tradition sich zunehmend versagenden und einen gänzlich anderen Weg beschreitenden Heinrich Schlier so zu begegnen, wie v. B. es in seiner eindrucksvollen Dissertation getan hat. Daß in den ’Zur Diskussion und kritischen Würdigung’ überschriebenen Teilen v. B. selbst gediegene exegetische Arbeit leistet, sei abschließend nochmals verzeichnet.