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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1105–1108

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Korsch, Dietrich, Röhring, Klaus, u. Joachim Herten [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Universum im Ohr. Variationen zu einer theologischen Mu­-sik­ästhetik. Hrsg. im Auftrag der Evangelischen Akademie Hofgeismar.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 264 S. m. No­tenbeispielen u. CD-ROM. 23,0 x 15,5 cm. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-374-02894-8.

Rezensent:

Christoph Krummacher

Unter den Evangelischen Akademien ist die Akademie Hofgeismar sicherlich diejenige, in deren Programm am häufigsten musikalische und musikalisch-theologische Themen auftauchen. In deren Auftrag wurde das vorliegende Buch als erste Veröffentlichung eines Arbeitskreises herausgegeben, der sich dort bereits 2006 als »Arbeitskreis Theologische Musikästhetik« gebildet hat. Ihm gehören Musikwissenschaftler, Komponisten sowie evangelische und katholische Theologen an. Sein Ziel ist es, »das musikalische Kunstwerk zu beschreiben, gehörte Musik zu verstehen und ihre anthropologische und theologische Dimension zu entdecken«, wie Akademiedirektor Kurt Waldeck in seinem Geleitwort (5) schreibt. Im Vorwort der Herausgeber heißt es: »In den nachfolgenden Texten erproben wir Vorschläge zum Verstehen von Musik, die sich unter Voraussetzung einer musikwissenschaftlichen Betrachtung dem zu öffnen versuchen, was sich im Hören erschließt. Dass und inwiefern wir es in solchem Hören mit einem Phänomen zu tun haben, das religiösem Verstehen verwandt ist […], muss sich im Nachvollzug […] jedem Lesenden und Hörenden selbst erweisen. Uns, die wir an diesem Band gearbeitet haben, sind solche Evidenzerlebnisse immer wieder beschieden gewesen.« (8)
Im Einzelnen handelt es sich um 14 analytische Beiträge zu Franz Schubert (zwei Mal Streichquartett Nr. 14 d-Moll »Der Tod und das Mädchen«; Der Doppelgänger [Nicolas Schalz, Dieter Schnebel, Eva-Maria Houben]), Robert Schumann (Gesänge der Frühe op. 133 [Thomas Henneberger]), Johannes Brahms (zwei Choralvorspiele aus op. 122 [Wolfgang Bretschneider]), Charles Ives (The Unanswered Question [Henneberger]), Anton von Webern (Nr. I und V aus Sechs Bagatellen für Streichquartett op. 9 [Schalz]), Jehan Alain (Litanies für Orgel [Houben]), Olivier Messiaen (L’échange aus Vingt regards sur l’enfant de Jésus [Klaus Röhring]), John Cage (Music for Piano [Stefan Berg]), Herbert Eimert (Epitaph für Aikichi Kuboyama für Sprecher und Sprachklänge [Joachim Herten/Houben]), Morton Feldmann (The King of Denmark for Solo percussionist [Herten]), György Ligeti (Lux aeterna [Meinrad Walter]) und Dieter Schnebel (Rufe für Horn und Violoncello [Röhring]).
Eingeleitet wird der Band mit einem Text von Dietrich Korsch, »Das Universum im Ohr. Umrisse einer theologischen Musikästhetik« (15–23), den Schluss bildet ein Beitrag von Stefan Berg, »Von den Grenzen einer theologischen Musikästhetik. Eine religionsphilosophische Expansion« (247–259). Die beigefügte CD enthält die besprochenen Kompositionen (im Falle von Cage immerhin einen beträchtlichen Ausschnitt). Das ist umso erfreulicher, als es sich teilweise um Stücke handelt, die nicht so leicht verfügbar sind. Eimerts Epitaph ist in der originalen Fassung des WDR zu hören und schließt eine ausführliche Einleitung zu Möglichkeiten der elektronischen Stimmbehandlung und -verfremdung, mit anderen Worten ihrer Musikalisierung ein. Von den beiden Brahms-Choralbearbeitungen fehlt op. 122/11. Wirklich ärgerlich ist aber, dass von A. von Webern statt der besprochenen Bagatellen die Fünf Stücke für Streichquartett op. 5 wiedergegeben werden, noch dazu unter einem falschen Titel. Es ist rätselhaft, warum dies ebenso wie die nicht wenigen Druckfehler weder den Herausgebern noch dem Verlag aufgefallen ist! (Ergänzung nach Abschluss der Rezension: Während dem Rezensenten diese fehlerhafte CD vorgelegen hat, haben Herausgeber und Verlag diese inzwischen durch eine korrigierte Fassung ersetzt und ausgegeben.) Trotzdem liegt hier ein ambitioniertes Buch vor, das dank Notenbeispielen und CD seine Intention deutlich vermittelt, freilich auch einige musikalische und musiktheoretische Kenntnis beim Leser voraussetzt.
Die Komponistennamen schlagen einen weiten Bogen von harmonisch elaborierter Musik des frühen 19. Jh.s über Werke der »klassischen Moderne« (Ives, Webern, Alain, Messiaen) und der Avantgarde (Cage, Eimert, Feldmann, Ligeti) bis zur unmittelbaren Gegenwart (Schnebels Rufe wurden 2006/07 komponiert). Handelt es sich überwiegend um Kompositionen, die einen religiösen Kontext nicht von vornherein evozieren, so sind mit Brahms, Alain, Messiaen und Ligeti doch auch Werke vertreten, die in einem im weiteren Sinne kirchenmusikalischen Zusammenhang stehen. Auffällig ist, dass es sich größtenteils um textbezogene Stücke oder um solche mit einem »literarisch«-anschaulichen Titel handelt. Damit wird das hermeneutische Anliegen, dem »Ins-Spiel-Kom­men der Religion« (Berg, 252.253 ff.) nachzuspüren, sicherlich er­leichtert. Einige Autoren gehen mit solchen Verweisen dennoch sehr behutsam um – z. B. beendet Schnebel seine Betrachtung von Schuberts d-Moll Quartett mit der vorsichtigen Frage, ob »hier Sehnsucht nach einem Anderen – nach Transzendenz, nach Erlösung« (46) zu hören sei; Houben schlägt (67) von Schuberts Doppelgänger zwar einen überraschenden Bogen zu 2Kor 5,17, ohne ihn indes allzu sehr zu strapazieren; Schalz spricht mit Blick auf Weberns Bagatellen davon, dass eine theologische Lesart vielleicht möglich sei, dann aber »die Musik, bzw. die Ästhetik, die Lehrmeis­terin der Theologie sein« müsste (123). Andere greifen hier direkter zu, was nicht immer plausibel ist – beispielsweise Henneberger, der aus Schumanns Titelbegriff der »Frühe« eine Beziehung zum »Morgenglanz der Ewigkeit« ableiten zu können meint (79 f.), wozu es bei Schumann selbst wohl kaum einen Beleg geben dürfte, oder Röhring, der Schnebels Rufe wegen ihrer Siebenteiligkeit mit den sieben Bitten des Vaterunser in Korrespondenz setzt, was im konkreten Falle und trotz des theologischen Hintergrunds des Komponisten nur schwer nachvollziehbar ist. Könnte es sein, dass sich in solchen Fällen das theologische Interpretationsinteresse etwas verselbständigt hat? – Durchweg handelt es sich aber um ebenso anspruchsvolle wie gründliche Werkbetrachtungen. Dass sich deren Auswahl den Vorlieben der Verfasser verdankt, ist zu akzeptieren. Bemerkenswert ist dennoch ein Hinweis von Berg, man habe sich im Arbeitskreis auch mit anderer Musik befasst, in der aber »das Musikalische religiös stumm blieb […] und musikalische Situationen einfach musikalische Situationen blieben« (255). Man kann dies als rücksichtsvolle Selbstbeschränkung verstehen. Dennoch wäre gerade ein solcher »Gegentest« interessant gewesen, zu­mal zu fragen ist, ob denn »musikalische Situationen« sich erst dann als sinnvoll erweisen, wenn sie auf einen Metatext bezogen werden können. Und hier kommt der »theoretische Überbau« ins Spiel, den die Rahmentexte von Korsch und Berg ausführen, der aber in den Analysen selbst nur eine marginale Rolle spielt. Korsch leitet den Gesamttitel von Schleiermachers Definition der Religion als »An­schauung des Universums« ab, laut Korsch eine »optische Metaphorik«, die er seinerseits ins Akustische wendet, wodurch das Universum hörend erfahren und verinnerlicht und damit die Mu­sik zum Organon der Religion wird (vgl. 16).
Hier wäre eine spannende Dis­kussion zu führen, die im vorliegenden Rahmen nur angedeutet werden kann. Handelt es sich bei Schleiermacher wirklich um eine optische Metaphorik, die umstandslos ins Akustische transferiert werden kann? Bei Schleiermacher geht nicht zufällig jene Formulierung vom »Sinn und Geschmack fürs Unendliche« voraus, womit in eine andere Richtung gewiesen wird. Wäre zweitens nicht Schleiermachers eigene Musikerfahrung zu berücksichtigen, die ihr Ideal in der »harmonischen Musik«, nämlich in der Vokalpolyphonie des 16. und 17. Jh.s fand? Ehe man ihn also für die spätere, gar für die zeitgenössische Musik theologisch-ästhetisch in Anspruch nimmt, wären zumindest noch etliche Zwischenschritte zu leisten. Und ist sein Begriff des Universums als harmonisch »Umfassend-Einem« bruchlos auf neueste Musik anwendbar, der (wie Georg Picht einmal feststellte) der Rekurs auf dies tragende Eine (»den Grundton«) gerade nicht mehr zur Verfügung steht? – Während Korsch ziemlich grundsätzlich argumentiert (vgl. auch Bergs Rückverweis auf ihn, 257), geht Berg in seinem Schlusstext behutsamer vor und rechnet auch mit der Möglichkeit, dass ein nicht-religiöser Mensch die gleiche Musik auch ganz anders, deswegen nicht unbedingt weniger adäquat hö­ren mag. Für Berg geht es vor allem darum, eine religiöse Dimension ex post zu erkennen, nicht aber diese ex ante vorauszusetzen und zu reklamieren (vgl. 252).
Der Band stellt eine anregende Textsammlung dar. Von einer »Hofgeismarer theologischen Musikästhetik« zu sprechen (Berg, 259), mag dabei etwas vorschnell und übertrieben formuliert sein. Dass mit dem Thema »Religion und Musik« zu einem derzeit verbreiteten theologischen Diskurs beigetragen wird, ist unübersehbar. Und dass dies auf der Grundlage höchst anspruchsvoller Musik und fern von allen Forderungen nach musikalischer Niederschwelligkeit geschieht, ist keineswegs so selbstverständlich, wie man annehmen sollte. Der Pfahl im Fleische einer theologischen Musikästhetik bleibt dennoch, dass in der Musik etwas ausgesagt wird, was anders als musikalisch nicht ausgesagt werden kann. Ehe von einer »theologischen Musikästhetik« gesprochen werden kann, wäre nicht nur eine gründlichere Aufarbeitung der philosophischen Ästhetik erforderlich, sondern auch Klarheit darüber, ob es hierbei eher um fragile Erfahrungsberichte oder um einen ro­-busten Theorieansatz gehen soll und in wessen Interesse (dem der Musik oder dem der Religion?) gefragt wird. Schleiermacher jedenfalls ging es weniger darum, die Musik mit religiöser Bedeutung »aufzuladen«, als vielmehr, Religion vor intellektueller Vereinseitigung zu bewahren. Das könnte auch heißen, dass Musik und Religion je ihre eigene Weise der Verinnerlichung darstellen. Ihre Be­rührung dürfte dann eher in der Sensibilisierung des Gefühls (im Sinne Schleiermachers) liegen statt in einer immer schon vorauszusetzenden inhaltlichen Parallelität.