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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1100–1103

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Michel, Stefan, u. Andres Straßberger [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Eruditio – Confessio – Pietas. Kontinuität und Wandel in der lutherischen Konfessionskultur am Ende des 17. Jahrhunderts. Das Beispiel Johann Benedikt Carpzovs (1639–1699).

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2009. 436 S. m. Abb. 23,0 x 15,5 cm = Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie, 12. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-02725-5.

Rezensent:

Friederike Nüssel

Dieser Band zur Konfessionskultur am Ende des 17. Jh.s leistet Pionierarbeit in mehrfacher Hinsicht. Zum Ersten erschließen die 16 Beiträge das bisher in der Forschung noch nicht hinreichend beachtete Leben, Umfeld und Werk des Leipziger Theologen und Predigers Johann Benedikt Carpzov. Zum Zweiten wird damit auf exemplarische Weise die »Erprobung eines […] ›kulturgeschichtlich‹ perspektivierten Forschungszugriffs« (15) verbunden, wie die Herausgeber Stefan Michel und Andres Straßberger in ihrer aufschlussreichen Einleitung darlegen. Mit der kulturgeschichtlichen Perspektive wird dabei der Horizont der um das »Stichwort des ›Konfessionalismus‹« sich gruppierenden älteren Forschung gezielt geweitet. Zum Dritten geht es in diesem Zugriff nicht nur um eine Öffnung für die Forschung in anderen Fächern, sondern auch darum, die herkömmlichen historiographischen Begriffe »Orthodoxie«, »Pietismus« und »Aufklärung« in Anlehnung an Thomas Kaufmann nicht mehr als Epochenbegriffe in Anschlag zu bringen, sondern als Charakterisierung dreier »frömmigkeitsgeschichtliche[r] Richtungen im deutschen Protestantismus« (15).
Für dieses historiographisch wichtige Anliegen bietet sich die Konzentration auf Carpzov in besonderer Weise an. Denn nach veralteter Sicht gilt er als »Vertreter eben jener ›Reformorthodoxie‹ […], die sich im Zuge der Leipziger pietistischen Bewegung zum exponierten Gegner derselben wandelte« (16). Im Hintergrund steht dabei das Klischee von »einer im Elfenbeinturm theologischer Ge­lehrsamkeit gefangenen Spätorthodoxie […], die den Pietismus in ›orthodoxer Verketzerungssucht‹ blindwütig bekämpfte […] und hinsichtlich ihrer Glaubenspraxis in einem Spinnengeflecht absurder homiletischer Methodenreiterei gefangen war« (16). Das Klischee betrifft also die theologische Gelehrsamkeit, die konfessionelle Abgrenzung und die gelebte Frömmigkeit, mithin die Perspektiven von eruditio, confessio und pietas. Entsprechend werden Person und Werk Carpzovs in diesem Band in ebendiesen drei Perspektiven in den Blick genommen. Das geschieht zunächst in einem solennen Überblick von Andres Straßberger, dem es im Rahmen des kulturgeschichtlichen Zugriffs gelingt, eine differenzierte Sicht auf die Anliegen und die Leistungen von Carpzov zu vermitteln. – Im ersten Teil des Bandes werden sodann in der Perspektive auf die eruditio, confessio, pietas: die »Kulturen der Gelehrsamkeit« untersucht.
Am Anfang steht hier die Studie von Günther Wartenberg über die auf Benedikt I. Carpzov zurückgehende Gelehrtenfamilie der Carpzovs, deren letzter Vertreter Johann Benedikt V. Carpzov 1803 verstarb. In Entsprechung zum kulturgeschichtlichen Forschungskonzept zeigt Wartenberg, wie die soziokulturellen Veränderungen vom Spätmittelalter bis hin zur frühen Neuzeit zur Entwick-lung von Gelehrtenfamilien beitragen. Vor diesem Hintergrund präsentiert er die Theologen- und Juristendynastie der Carpzovs als »signifikantes Beispiel für die in der Reformation angestoßene und für den protestantischen Bereich charakteristische auf die Familie sich stützende Akademikerelite, die im Austausch mit Pastoren- und Beamtendynastien vom frühneuzeitlichen Territorialsystem profitierte, dieses aber auch entscheidend stabilisierte und zur Fes­tigung des reformatorischen Kirchenwesens beitrug« (69). Welche Stellung der Universität Leipzig als dem Ort des akademischen Wirkens von Johann Be­nedikt Carpzov innerhalb der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 17. Jh.s zukam, untersucht Detlef Döring, indem er zeigt, wie in Leipzig in den verschiedenen Disziplinen »die wissenschaftlichen Entwicklungen im nationalen und internationalen Rahmen aufmerksam« (90) verfolgt wurden. Die Situation der Leipziger Theologischen Fakultät in der Zeit von Carpzovs Mitgliedschaft (1684–1699) stellt Andreas Gößner dar, und zwar hinsichtlich der personellen Rahmenbedingungen sowie des Arbeitsprofils der anderen Fakultätsmitglieder. Dietrich Blaufuß gibt anhand des über 36 Jahre währenden Briefwechsels von Johann Benedikt Carpzov mit dem Augsburger Geistlichen Gottlieb Spizel einen Einblick in die Korrespondenz-Kultur der Zeit (ergänzt durch eine Aufstellung der Korrespondenten Spizels). Stefan Michel stellt die hebraistischen Studien des Alttes­tamentlers Carpzov vor, dessen »Werke noch bis etwa 1750 Eingang in bibelwissenschaftliche Darstellungen« (125) fanden. Dabei macht er deutlich, dass Carpzov, wiewohl »völlig in den Bahnen der lutherischen Exegese des späten 17. Jahrhunderts« (145) bleibend, doch die exegetische Beachtung des Kontextes forciert und der Exegese gegenüber der Dogmatik vermehrten Raum gegeben habe. Auch sei der »Auseinandersetzung mit dem Judentum und seinen Theologien« (145) mehr Aufmerksamkeit zugewandt worden als im darauf folgenden Jahrhundert.
Ist mit diesen Beiträgen das akademische Umfeld umrissen, so wenden sich die folgenden Beiträge unter dem Oberbegriff der »Confessio« dem Widerstreit von Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung zu.
Zuerst widmet sich hier Sascha Müller der Auseinandersetzung Carpzovs mit dem katholischen Theologen Richard Simon, dem Carpzov vorwirft, »die Sicherheit des Glaubens vom biblischen Textbestand« (150) zu trennen und sie stattdessen in die kirchliche Lehrtradition zu verlegen. Überdies komme er der Bibelkritik Spinozas nahe. Müller selbst gelangt abschließend zu einer Würdigung der »traditio als das Bibel und mündliche wie praktische Traditionen übergreifende Prinzip, welches erst alle Glaubensvollzüge trägt und authentisch vermittelt« (158). Die traditio sei dabei letztlich »das durch Gott befreite Denken und Handeln des Menschen« (ebd.). Die beiden folgenden Beiträge wenden sich sodann der kritischen Auseinandersetzung Carpzovs mit dem Pietismus zu. Ernst Koch untersucht hier die Auseinandersetzung mit Philipp Jakob Spener, Susanne Schuster konzentriert sich auf Grenzziehung zwischen Carpzov und seinem Schüler August Hermann Francke. Dabei wird deutlich, wie die Orthodoxie im Rahmen der »Grenzbefestigung« (202) den Pietismus zu definieren sucht. Dass Carpzov den Kampf gegen den Pietismus auch im Medium von Lehr- und Liederpredigten führte und dabei mit dem Thomas-kantor Johann Schelle zusammenarbeitete, demonstriert sodann Stefan Michel. Das Verhältnis des orthodoxen Carpzov zur frühen Aufklärung nimmt Markus Matthias anhand des Streites mit Christian Thomasius in den Blick. Wenngleich Carpzov nicht anders denn als Verlierer und »Exponent einer untergehenden […] Epoche« (223) erscheinen könne, bringt Matthias in einer systematischen Gegenüberstellung der beiden Positionen doch deutlich zur Geltung, worin die Probleme der Position des Thomasius liegen. Seine Konzeption führe nicht nur »zu einer völligen Verdrängung der Religion aus dem öffentlichen Raum« (247), sie negiere auch »das Recht auf kollektive und öffentliche Glaubensfreiheit in Wort und Tat« (ebd.).
Im dritten Teil des Bandes geht es schließlich um die Predigtkultur und damit die Pietas in der lutherischen Orthodoxie.
Albrecht Beutel konturiert hier zunächst die Predigtlehre Carpzovs, die auf dem »Hodegeticum« seines Vaters aufruht. Dieser »Klassiker der orthodoxen Predigtlehre« biete entgegen der landläufigen Kritik »eine konzentrierte, knappe und luzide Anleitung zur Predigtarbeit«, »in der sich die unbedingte Verpflichtung auf den biblischen Text, die Anmutung eigener Urteils- und Entscheidungskompetenz und die Maßgabe einer durchgehenden Hörer­orientierung zu organischer Einheit verbinden« (257). Andres Straßberger erörtert sodann in detaillierter und höchst aufschlussreicher Weise die homiletische Relevanz der psychischen Kategorie der memoria in der lutherischen Orthodoxie, ihre antiken Voraussetzungen und ihre Kritik in Pietismus und Frühaufklärung bei Joachim Feller, Philipp Jakob Spener, Christian Thomasius und August Hermann Francke. Anschließend erörtert Joachim Jakob Carpzovs ebenfalls von mnemotechnischen Erwägungen bestimmtes Erbauungsbuch Außerlesene Tugendsprüche von 1685. Katrin Löffler wendet sich der Gattung der protestantischen Leichenpredigt zu und zeigt, dass Carpzovs Predigten im literaturgeschichtlichen Vergleich zu dem fast 80 Jahre älteren Valerius Herberger »geradezu abgekoppelt von der Literatur seiner Zeit« (361) erscheinen. Der hier erkennbare Bedeutungsverlust der Rhetorik könne nur »homiletikgeschichtlich erklärt werden mit der Bemühung um eine Rhetorica sacra, die letztlich theologisch begründet ist und sich von der Rhetorica civilis grundlegend unterscheidet« (ebd.). Der letzte Beitrag des Bandes von Michael Beyer stellt schließlich übergreifende Beobachtungen zu den in sieben Bänden gesammelten 173 Leichenpredigten von Carpzov an und bietet zudem ein Verzeichnis derselben mitsamt Register.
Am Ende des Bandes wird eine Edition des Pfingstprogramms des Rektors der Universität Leipzig von 1691 geboten, das Johann Benedikt Carpzov als damaliger Dekan der Theologischen Fakultät verfasst und zu harscher Kritik am Pietismus genützt hat. Ein Mitarbeiterverzeichnis, Personenregister und Abkürzungsverzeichnis unterstützen die Lektüre. Insgesamt wird in den Beiträgen des Bandes das eingangs beschriebene Forschungsprogramm überzeugend durchgeführt. Dazu gehört auch, dass die meisten Autorinnen und Autoren auf weitere Forschungsdesiderate verweisen, die sich in der neuen Perspektive auftun. In den drei Perspektiven von eruditio, confessio und pietas tritt plastisch vor Augen, wie sich Johann Benedikt Carpzov als spätorthodoxer Denker gegenüber Pietismus und Frühaufklärung profilierte. Die alten Epochenbegriffe werden nicht überflüssig, sondern charakterisieren nunmehr in der Analyse des Carpzovschen Wirkens unterschiedliche frömmigkeitsgeschichtliche Richtungen und Auffassungen be­züglich der Gestaltung und Bedeutung evangelischen Christentums.