Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1998–1100

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Mayes, Benjamin T. G.

Titel/Untertitel:

Counsel and Conscience. Lutheran Casuistry and Moral Reasoning after the Reformation.

Verlag:

Göttingen/Oakville: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. 250 S. m. Tab. 23,2 x 15,5 cm = Refo500 Academic Studies, 1. Geb. EUR 69,95. ISBN 978-3-525-55027-4.

Rezensent:

Christian V. Witt

Für das deutschsprachige Luthertum ist mit Blick auf die Gewissenskasuistik der von Georg Dedekenn 1623 erstmals herausgegebene Thesaurus conciliorum et decisionum einschlägig – und es ist das Verdienst von Benjamin Mayes, diese beeindruckende Quelle für die religiösen, ethischen und auch theologischen Vorstellungswelten der lutherischen Orthodoxie in weiten Teilen einer historischen Analyse unterzogen zu haben.
Besondere Aufmerksamkeit schenkt M. den Vorreden und Widmungsbriefen des Thesaurus, der inhaltlichen Ausrichtung und Breite des Werkes (108–162) und zur Konkretisierung den Passagen, die sich mit Ehescheidung und Wiederverheiratung befassen (163–211). Eine Gelenkstelle des Buches bildet dabei gewissermaßen die Auswertung der Vorreden und Widmungsbriefe (60–107); in diesem Kapitel führt M. die in den vorangegangenen historischen Überblicken gezeichneten Linien gekonnt zusammen und verlängert sie anschließend in die Detailanalyse.
M. bündelt den Gehalt des Kapitels unter drei Aspekten (106 f.): Den ersten markiert die Beantwortung der Frage, warum der Thesaurus überhaupt veröffentlicht wurde. Nach dem Willen seiner Herausgeber sollte er lutherischen Pfarrern eine praktische Hilfe bei der Ausübung einer ihrer zentralen Funktionen sein, nämlich bei der Beratung und Führung der verunsicherten oder gar angefochtenen Gewissen ihrer Gemeindeglieder.
Den zweiten Aspekt konstituiert die Beantwortung der Frage, an welchen Normen sich die Kasuistik, wie sie im Thesaurus präsentiert wird, ausrichten sollte. Selbstverständlich gilt grundsätzlich: »Holy Scripture is the highest norm. Answers dare not conflict with Scripture, for this would burden consciences.« (106) Nun war allerdings auch einem orthodoxen Lutheraner wie Dedekenn klar, dass sich nicht jedem sich aus dem alltäglichen menschlichen Handeln ergebenden Gewissenskonflikt problemlos mit einem Schriftzitat abhelfen lässt. So müssen also auch nichtbiblische Gewährsinstanzen herangezogen werden – freilich immer orientiert am in der Heiligen Schrift offenbarten göttlichen Wort, demgegenüber die lex naturae nach M. nur eine der »subordinate sources of authority« (15) ist. Hier erzeugt M. eine Eindeutigkeit mit Blick auf die Hierarchisierung von Heiliger Schrift und lex naturae, die dem Alten Luthertum fremd war: Die lex naturae ist schon bei Luther eine auf die Schöpfungsordnung zurückgehende eigene Instanz im Menschen, die sich unter verschiedenen historisch-kulturellen Bedingungen auf unterschiedliche Weise manifestiert, weshalb Luther z. B. vom mosaischen Gesetz bekanntlich als »der Juden Sachsenspiegel« sprechen kann. Sie wird also keineswegs den biblischen Schriften wegen der »Lutheran emphasis on ›Scripture alone‹« (ebd.) untergeordnet, sondern korrespondiert als dem Menschen eingepflanztes Gesetz mit dem geschriebenen.
Drei jener Instanzen stechen hervor: Einzelaussagen prominenter Theologen bis hin zu den Reformatoren, die Bekenntnisschriften, besonders die Konkordienformel, und Gutachten lutherisch-theologischer Fakultäten (168–197). Diese zusätzlichen autoritativen Instanzen bedürfen im Zeitalter der Orthodoxie freilich der Legitimierung, wollen sie neben und in Übereinstimmung mit der Bibel bestehen. Und diese Legitimierung ist gerade für das 17. Jh. wenig überraschend: Nach Dedekenn sind sie schlicht göttlich inspiriert (80.85). Das wirft natürlich die Frage auf, wie zum Beispiel auch Persönlichkeiten wie Calvin oder William Perkins als Ratgeber (73.117) Eingang in den nicht nur in seiner Sakramentenlehre dezidiert anti-reformierten (101.118–128) Thesaurus finden konnten. M. nimmt dieses hermeneutische Problem wahr, belässt es aber bei dürftigen Erklärungsversuchen (117 f.), die dringend einer Blickfelderweiterung hinsichtlich der Eigenart innerprotes­tantischer Polemik im 16. und 17. Jh. bedurft hätten. Schließlich ist der Thesaurus mit seinen umfangreichen profiliert lutherischen dogmatischen Teilen auch eine kontroverstheologische Schrift.
Den dritten Bündelungsaspekt macht die Beantwortung der Frage aus, was der Thesaurus überhaupt enthält. »For the most part, it contains cases of conscience that arose from real-life experiences. These cases are related not just to correct action but also to correct belief; they deal both with faith and life, theory and practice.« (106) Die enge Verknüpfung von »questions of right belief« und »ethical questions« unter Betonung der Glaubens- und theologischen Lehrfragen ist nach M. eine Eigenart der lutherischen Gewissenskasuis­tik überhaupt (118), gerade im Gegensatz zur Kasuistik beispielsweise eines William Perkins (43 f.). Schon die Verfasser der Vorreden und Widmungsbriefe sehen nun die Widersprüche unter den im Thesaurus dargebotenen Ratschlägen und Antworten als Problem (74–77.117) – und die nicht weiter konkretisierte Proklamation der in den Thesaurus aufgenommenen nichtbiblischen Quellen als Produkte göttlicher Inspiration schafft dabei erst recht keine Abhilfe. So verschweigt auch M. jene Widersprüche nicht und bemüht sich um eine Erklärung des offenbar auch von ihm als äußerst problematisch empfundenen Phänomens (202 f.), wobei er sich auffällig eng an die Argumente der Vorreden anschließt (72–74.176) und die Behauptung der Inspiration schlicht ausblendet (106.163).
M.s überall spürbare Hochschätzung des Thesaurus, die ihn bisweilen die historische Distanz aus den Augen verlieren lässt (z. B. 128.203.211; vor diesem Hintergrund schon 11), erstreckt sich allerdings nicht auf alle Autoren gleichermaßen, die Eingang in Dedekenns kasuistisches Werk gefunden haben: Für eher »liberale« Denker, die sich nach seiner Wahrnehmung eben nicht streng und mit einem gewissen Grad der Ausschließlichkeit am neutestamentlichen Gotteswort orientieren, hat M. nicht viel übrig; besser als deren laxe Positionen z. B. bezüglich der Ehescheidung gefallen ihm die strengen, aus heutiger Sicht traditionalistisch-konservativen Standpunkte (z. B. 168–180.203). Hinzu tritt eine andere, mit dieser ersten korrespondierende Beobachtung: Die nicht zuletzt durch die Aufklärung und ihren Gewissensbegriff geprägte Skepsis moderner protestantischer Theologie gegenüber der frühneuzeitlichen Ge­wissenskasuistik ist M. suspekt. Im Gegensatz zu ihr fühlt sich M. der Hochschätzung der lutherisch-orthodoxen Kasuistik durch konservative, aufklärungsskeptische Theologen wie Wilhelm Löhe und Carl Ferdinand Wilhelm Walther verwandt (51.206–209).
Gerade die offensichtliche Sympathie für Walthers wohlmeinende Haltung gegenüber der lutherisch-orthodoxen Kasuistik ist freilich kein Zufall: Wie Walther, »the nineteenth-century father of The Lutheran Curch – Missouri Synod« (51), gehört auch M. zu einer der konservativsten Formationen, die das Luthertum weltweit zu bieten hat – er ist selbst Pastor der Missouri Synode. Dass nun ein konservativer Lutheraner die Lehre der Konkordienformel vom tertius usus legis, die den usus in renatis fein austariert zwischen usus paedagogicus und usus elenchticus, vulgär-calvinistisch deutet (15), verwundert freilich.
Die dogmatische Einstellung zum historischen Stoff mit all den aus ihr resultierenden und aufgezeigten Schwächen des Buches scheint vor diesem Hintergrund nur so erklärbar: Eine konsequente Distanzierung vom Thesaurus und seine adäquate Kontextualisierung zugunsten der historischen Analyse ist M. aufgrund seiner eigenen religiösen wie theologischen Einstellung, die sich durch positionelle oder zumindest so anmutende Formulierungen immer wieder Bahn bricht, offenbar nur sehr bedingt möglich. Dennoch hilft M. bei der Erschließung eines bedeutenden Werkes der lutherischen Orthodoxie und motiviert zu einer vertieften Beschäftigung mit dem Phänomen der explizit lutherischen Ge­wissenskasuistik.