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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1095–1097

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Danz, Christian, u. Werner Schüßler [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Paul Tillichs Theo­logie der Kultur. Aspekte – Probleme – Perspektiven.

Verlag:

Berlin/ Boston: de Gruyter 2011. IX, 505 S. 23,0 x 15,5 cm = Tillich Re­-search, 1. Geb. EUR 79,95. ISBN 978-3-11-026236-0.

Rezensent:

Gunther Wenz

Um die Säkularität bzw. den Säkularismus des sog. säkularen Zeitalters näher zu bestimmen, in dem die Menschen in weiten Teilen der Erde gegenwärtig lebten, versucht Charles Taylor (Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a. M. 2009) drei Verwendungsweisen des Säkularitätsbegriffs zu unterscheiden. Die erste hebe auf die Emanzipation von Recht, Wirtschaft und Staatlichkeit von religiös-kirchlicher Dominanz und auf das Faktum fortschreitender funktionaler Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften ab, in denen kein System mehr alle Teilsysteme zu einem ungeteilten Ganzen zu integrieren vermöge. In dieser Bedeutung affirmiert Taylor den Begriff und anerkennt ihn als charakteristische Be­zeichnung des gegenwärtigen Zeitalters. Kritisch beurteilt wird hingegen der Gebrauch, den man in der lange üblichen, mittlerweile problematisierten Standardtheorie von ihm gemacht habe, wonach der Einfluss von Religion im Laufe der neuzeitlichen Entwicklung immer mehr zurückgehe bis hin zu ihrer endgültigen Verabschiedung aus dem öffentlichen Leben, die bald zu erwarten sei. Gegen dieses säkularistische Verständnis von Säkularität bringt Taylor eine dritte Verwendungsweise des Begriffs in Stellung: danach sei zwar das Ende religiöser Einheitskulturen unter Bedingungen der Moderne irreversibel und obligat, ohne dass dies zu einer gesellschaftlichen Marginalisierung der Religion führen müsse. Auch im säkularisierten Zeitalter stelle Religion eine echte Option dar, die gerade dann unverzichtbar sei, wenn sie sich mit der berechtigten Forderung freier Wahl und Entscheidung verbinde. Seien doch die Grundrechte der Religions- und Gewissensfreiheit an sich selbst nicht einfachhin neutrale Daten, sondern an Vorgaben gebunden, die eines religionskulturellen Gehalts nicht entbehren könnten.
Die vielbeachteten Gegenwartsanalysen des dem Katholizismus verbundenen US-amerikanischen Philosophen Taylor reizen zu Vergleichen mit Deutungsversuchen des säkularen Zeitalters, die Paul Tillich ein knappes Jahrhundert zuvor angestellt hat, um ihnen in einem vor der Berliner Sektion der Kant-Gesellschaft am 16. April 1919 gehaltenen Vortrag »Über die Idee einer Theologie der Kultur« programmatischen Ausdruck zu verleihen und später über seine Wirkungszeit in Deutschland hinaus immer wieder in mehr oder minder modifizierter Form auf sie zurückzukommen. Eine gute Grundlage für einen solchen Vergleich bieten Ulrich Barths systematische und werkbiographische Erwägungen zu Tillichs Verhältnisbestimmung von Protestantismus und Kultur (13–37), und das umso mehr, als durch sie auf eigentümliche Verschiebungen in Tillichs Verständnis von Säkularität, Säkularismus und Säkularisierung aufmerksam gemacht wird (vgl. 33 f.). Barths ge­haltvoller und perspektivenreicher Text zu Tillichs Protestantismuskonzeption und ihren kulturtheologischen Folgen bildet den Auftakt einer Reihe von Beiträgen, die auf dem Zweiten Internationalen Kongress der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft vom 7. bis 10. Oktober 2010 in Wien zur Diskussion gestellt und in überarbeiteter und erweiterter Form in dem vorliegenden Band gesammelt worden sind. Die Herausgeber betonen in ihrer Einleitung zu Recht, dass Tillichs Kulturtheologie bezüglich ihrer Genese, ihres Kontexts, ihrer Aufbauelemente und Perspektiven in dieser Breite noch nicht thematisiert worden sei (vgl. 6).
Die einzelnen Beiträge des Sammelbandes sind nach vier thematischen Gesichtspunkten geordnet. Zunächst wird die Entwick­lung von Tillichs Theologie der Kultur thematisiert, von U. Barth in umfassender Weise, von E. Sturm unter Konzentration auf früheste, von W. Schüßler auf späte Texte. Aufsätze zur Programmatik (P. Haigis) und zu geist- (G. Neugebauer) und religionsphilosophischen (C. Cordemann) Grundlegungsfragen von Tillichs Kultur­theologie sind beigegeben. Die Beiträge des zweiten Abschnitts behandeln Tillichs Theologie der Kultur in ihrem Kontext unter Be­rück­sichtigung von Einflüssen von E. Troeltsch und G. Simmel (F. Voigt), der neukantianischen Rechtstheorie (M. Moxter) und ins­besondere der sog. Dialektischen Theologie Karl Barths (D. Korsch; Chr. Danz). Sodann werden einzelne Problem- und Themenfelder erörtert wie etwa kulturtheologische Bezugnahmen auf die hellenistische Philosophie (St. Dienstbeck), auf die Wissenschaft und Kunst der Moderne (A. M. Reijnen/W. Stoker/R. R. Manning) sowie auf die neuzeitspezifische Angstthematik (P. Schüz). Zum Schluss wird nach Anstößen der Kulturtheologie Tillichs für die gegenwärtigen Diskussionen in der Praktischen Theologie (H.-G. Heimbrock), in der praktisch-theologischen »Kulturhermeneutik« (A. Ku­bik), in der Homiletik (I. Nord) sowie in Bezug auf andere Felder aktueller religiöser Kulturanalyse gefragt (J. Lauster; H. v. Sass; M. A. Stenger; M. Dumas).
Unter den insgesamt lesenswerten Aufsätzen des Bandes verdient nach meinem Urteil neben dem Grundlegungsbeitrag von U. Barth derjenige von Dietrich Korsch über religiöses Selbstbewusstsein und kulturelle Form bei Paul Tillich und Karl Barth (193–210) besonderes Interesse, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil seine Ergebnisse in erkennbarer Spannung stehen zu üblichen Deutemustern. Korsch geht von der Annahme aus, »dass die bürgerliche Wende der Theologie im Aufgang des langen 19. Jh.s sich an dessen Ende zur Krise des bürgerlichen Subjekts zuspitzt – und damit eine neue Tieferlegung der theologischen Prinzipienlehre fordert« (195). Dieser Forderung stellten sich Tillich und Barth gemeinsam, jedoch unter unterschiedlichen Prämissen und mit gegenläufigen Konsequenzen. Die divergenten Voraussetzungen der Theoriebildung verdeutlicht Korsch am jeweiligen Verständnis des Paradoxalen, das zwischen beiden bekanntlich explizit strittig war. Was aber die kulturtheologischen Folgen des Streits anbelangt, so laufen sie nach Korsch darauf hinaus, dass Tillich unter seinen Voraussetzungen der Tendenz nach für eine religiöse Einheitskultur plädiert und plädieren muss, wohingegen für Barth in der Konsequenz seiner Weigerung, Gott mit der absoluten Positivität eines von allem Bedingten unterschiedenen Unbedingten koinzidieren zu lassen, Kultur stets Differenzkultur ist und bleibt. Um Korsch zu zitieren: »Die Tillichsche Unterscheidungslehre, die die Elemente der Abgrenzung immer schon mit einbezieht, läuft in kulturtheoretischer Hinsicht auf das Postulat einer Einheitskultur auf religiösem Grund hinaus; das theoretisch-theologische Unterscheiden kann das Andere des Unterschieds nie völlig separieren. Die Barthsche Positionalität, die auf eine logische Zuordnung zum kulturellen Umfeld verzichtet, stellt sich kulturtheoretisch als Befürwortung eines kulturellen Pluralismus heraus, dem allein in der Bestimmungsbedürftigkeit zur Humanität hin ein normatives Gefälle eingeschrieben wird (das aber gerade nicht exklusiv religiöser Begründung entspringen muss). So verweben sich auf merkwürdige Weise die beiden verschiedenen Ansätze mit dem Gegenteil ihres Ausgangspunktes, das scheinbar Monolithische wird pluralistisch, das scheinbar Weltoffene tendiert zu neuer Einheitskultur.« (209)
Korschs provokante These verdient es, diskutiert zu werden. Ansätze zu einer solchen Diskussion finden sich bereits im Sammelband, etwa bei U. Barth, der im Zusammenhang mit den er­wähnten Verschiebungen in Tillichs Säkularitäts-, Säkularisierungs- bzw. Säkularismusverständnis auf radikal zu nennende Selbstkorrekturen und auf ein Abrücken von dem kulturtheolo­gischen Theonomiemodell der 20er Jahre verweist (vgl. 32 f.). Als Beleg wird der Chicagoer Vortrag »Religion and Secular Culture« (MW II, 197–208; vgl. GW IX, 82–93) vom Januar 1946 angeführt. In der Tat scheint dieser Text eine geeignetere und unmissverständlichere Basis für aktuelle Auseinandersetzungen um Theologie und Kultur im säkularen Zeitalter zu bilden als die Programmschrift von 1919, so bedenkenswert grundsätzlich auch diese nach wie vor bleibt. Soll die Kultur als die Form der Religion und die Religion als die Substanz der Kultur gelten, so muss nach Tillich alle Heteronomie aus ihrem wechselseitigen Verhältnis ausgeschieden werden. Kulturelle Autonomie sei entsprechend ohne religiöse Vorbehalte anzunehmen. Doch bedürfe Kultur, um ihrem Begriff zu entsprechen und sich kultiviert zu gestalten, expliziter Religiosität, die ihr jenen Sinn verleihe, ohne den sie keinen Bestand haben könne. Die Verdrängung der Religion aus der Öffentlichkeit müsse zwangsläufig pseudoreligiöse Totalisierungen zeitigen, wohingegen ihre öffentliche Ausübung im Rahmen rechtsstaatlicher Freiheit antitotalitär wirke und verhindere, dass Bedingtes für unbedingt er­klärt werde.
Die kulturtheologische Richtigkeit dieser Grundsätze steht außer Zweifel, so zweifelhaft ihre Explikation bei Tillich im Einzelnen auch sein mag.