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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1093–1094

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Andreae, Johann Valentin

Titel/Untertitel:

Autobiographie.Bücher 6 bis 8. Kleine biographische Schriften. Bearb. v. F. Böhling. Übers. v. B. Hintzen.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2012. 489 S. 17,4 x 11,4 cm = Johann Valentin Andreae Gesammelte Schriften, 1,2. Lw. EUR 188,00. ISBN 978-3-7728-1449-5.

Rezensent:

Martin Brecht

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Andreae, Johann Valentin: Autobiographie. Bücher 1 bis 5. Bearb. v. F. Böhling. Übers. v. B. Hintzen. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2012. 451 S. m. Abb. 17,4 x 11,4 cm = Johann Valentin Andreae Gesammelte Schriften, 1,1. Lw. EUR 188,00. ISBN 978-3-7728-1427-3.


In Blick auf Andreaes Gesammelte Schriften dürften sich stärkste Erwartungen u.a. auf seine Vita/Autobiographie richten, könnte sie doch eine der Hauptquellen für die Frage nach seiner immer auch rätselhaften Persönlichkeit und seinem Werk sein. Zwar lag der Text auch schon bisher gedruckt vor (in der Übersetzung von David Christoph Seybold, Winterthur 1799, und im ursprünglichen Latein in der Ausgabe von F. H. Rheinwald, Berlin 1849), aber ab­-gesehen von der Seltenheit dieser Veröffentlichungen gilt die unentbehrliche Übersetzung als ungenau und der Herausgeber Rheinwald war nicht mehr in der Lage gewesen, die eigentlich notwendigen Erklärungen noch beizusteuern. Die Vita war darum nur bedingt brauchbar und verfügbar. Der Freude über eine nunmehrige Wendung zum Besseren sind freilich derzeit Grenzen gesetzt. Erneut erscheinen die Texte ohne Erklärungen. Diese sind dem Kommentar des hinsichtlich der Materie ausgewiesenen Hermann Ehmer in einem weiteren Teilband vorbehalten, auf den man gespannt sein darf, von dem man aber noch nicht weiß, wie er ausgestaltet sein wird, und auf den vor allem einstweilen gewartet werden muss. Damit kann auch die Rezension vorläufig nur eingeschränkt erfolgen.
Die Einleitung bleibt ziemlich karg und äußert sich lediglich zur Überlieferung und Präsentation des Textes. Die Konstituierung des lateinischen Textes erfolgt auf der Grundlage der in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart und der Universitätsbibliothek Tübingen vorhandenen Handschriften. Die Marginalien (Wolfenbüttel), soweit vorhanden, werden als Zwischentitel geboten und gliedern den kompakten Text wohltuend.
Auf die Übersetzung des anspruchsvollen Textes werden die meis­ten Benutzer angewiesen sein. Bei dem vielfach schwie­rigen Satzbau ist das offenkundig eine herausfordernde, manchmal auch kaum zu lösende Aufgabe. Dazu hat der Autor, wie es seine Art zu sein pflegt, es nicht an gezielt feinen, ironischen oder verschlüsselten Wendungen und Anspielungen fehlen lassen, die realisiert und verstanden sein wollen, sollen dem Leser nicht die Pointen verschlossen bleiben. Gerne hätte man erfahren, in welchem Verhältnis die Übersetzerin zu ihrer Aufgabe steht, was Qualifikation und Motivation anbelangt. Anzuerkennen ist, dass eine einigermaßen flüssig zu lesende deutsche Fassung geboten wird. Aber der Benutzer ist gut beraten, ständig auch den Grundtext einzusehen. Er wird dann nicht ohne Vergnügen Nuancen und Verstehensmöglichkeiten entdecken, die ihm sonst verstellt bleiben oder entgehen würden. Bedauerlicherweise scheint es zu einer in diesem Fall angebrachten Abstimmung zwischen Übersetzung und Kommentierung nicht gekommen zu sein.
Um die historische Bedeutung der Vita als Quelle sichtbar zu machen, sei hier schon wenigstens im Überblick über ihren Inhalt referiert. Man bekommt keine großen oder tiefen theoretischen Ausführungen geboten, erhält aber Einblick in ein Netz von Konstellationen und Beziehungen, wie es für jene Zeit sonst kaum zur Verfügung steht und deshalb auch weithin unbekannt ist. Gewidmet sind die ersten sechs Bücher der Vita 1642 Herzog August von Braunschweig-Lüneburg mit der ungemein selbstbewussten Zu­schrift des lutherischen Theologen. Zu jener Zeit wurde der Herzog zu Andreaes wichtigem Freund (!). Die Selbstvorstellung An­dreaes folgt zumeist dem Gang der Jahre, fasst aber die einzelnen Lebensabschnitte nach den Stationen Tübingen, Vaihingen/Enz, Calw und Stuttgart zusammen. Für die späteren Jahre bis fast an das Ende (1654) wird in den Büchern sechs bis acht stärker anna­-listisch berichtet. Der bedeutsame familiäre Hintergrund und der Bildungsweg Andreaes werden in gezielter Auswahl vorgestellt. Schon hier fordert auch das jeweils Weggelassene oder Übergangene zum Nachdenken heraus. Die Umsetzung von An­dreaes reifem Reformprogramm (in Calw) wird nirgends so wie in der Vita fassbar. Die lokalen und personalen Bezüge des südwestdeutschen Luthertums mit seinen Zentren (Straßburg, Nürnberg, Augsburg und Ulm) und gelegentlich darüber hinaus werden nachvollziehbar. Überraschende Besucher tauchen auf. Das Interesse ist nicht allein auf Kirche und Theologie fixiert, sondern, wie es dem Autor entsprach, auch auf Musik, Malerei, Kunsthandwerk und Dichtung gerichtet. Die unsägliche Not des 30-Jährigen Kriegs macht sich samt den Mühen der damaligen württembergischen Kirchenleitung bedrängend bemerkbar. Zunehmend werden schließlich die Folgen von Krankheit und Schwäche zum Thema. Man könnte in der Aufzählung fortfahren, ohne freilich die zusätzlich verstreuten Goldkörner einzelner spezifischer Informationen zu er­fassen.
Dem zweiten Teilband sind noch Kleine biographische Schriften beigefügt. Ganz konsequent erscheint dies im Rahmen der Ge­samtausgabe aus mehreren Gründen nicht zu sein. Zum einen sind andere autobiographische Texte wie die Gedenkreden auf die Mutter oder den Bruder Johann Ludwig schon früher in der Gesamtausgabe veröffentlicht worden. Zum andern könnte man erwägen, ob nicht weitere Texte vor allem aus den Gedenkreden in denselben Zusammenhang gehören. Umgekehrt passen die nunmehr aufgenommenen Stücke auch nicht alle gleich gut in die autobiographische Sparte. Einleuchtend ist die Berücksichtigung des Breviarium Vitae mit seinen Kurzangaben über Andreaes Le­bensgang. Sie ge­hen mit großer Sicherheit auf den Autor selbst zurück, müssen aber von dem Sohn Gottlieb Andreae beendet worden sein. Der Bericht von der zweiten österreichischen Reise zu Beginn des 30-Jährigen Kriegs, der auch schon Seybolds Übersetzung beigegeben war, be­richtet von Andreaes geheimem Besuch bei den lutherischern Adligen in Österreich und handelt somit von einer (anticalvinistischen) Staatsaktion, die wohl noch genauer aufgehellt werden sollte. Die beiden Berichte über die zwei Stadtbrände in Vaihingen/Enz richteten sich in (sitten-)kritischer Absicht gegen das Verhalten von Teilen der Bürgerschaft und werden Andreae vor Ort bis heute nachgetragen. Der Bericht über den Calwer Stadtbrand 1634 ist partiell abhängig von einer gleichfalls von Andreae herausgegebenen Darstellung des Schulmeisters Christoph Luz, die wohl einzube­ziehen gewesen wäre. Andreaes zugegebenermaßen eindringliche Schilderung präsentiert sich als Teil der Threni Calvenses, des erschütternden Hilferufs um Unterstützung für die vernichtete Stadt. Das ist mithin kein autobiographisches Stück mehr, sondern wäre in der Gesamtausgabe besser separat und komplett für sich zu berücksichtigen. Die Kommentierung wird sich dazu äußern müssen.
Der Rezensent schließt in der Erwartung, seine Beurteilung der wichtigen Edition nach Vorliegen der Kommentierung bald ab­schließen zu können.