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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1088–1091

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Schreiner, Klaus

Titel/Untertitel:

Rituale, Zeichen, Bilder. Formen und Funktionen symbolischer Kommunikation im Mittelalter. Hrsg. v. U. Meier, G. Signori u. G. Schwerhoff.

Verlag:

Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2011. 343 S. m. Abb. 23,0 x 15,5 cm = Norm und Struktur, 40. Geb. EUR 49,90. ISBN 978-3-412-20737-3.

Rezensent:

Hubertus Lutterbach

Entsprechend seinem reichhaltigen wissenschaftlichen Lebenswerk gibt der Mediävist und Kulturgeschichtler Klaus Schreiner auch in diesem Band seiner wissenschaftlichen Grundüberzeugung Raum, dass »Rituale, Zeichen, Bilder« einen besonderen Zugang zu der uns oftmals fremden Epoche des Mittelalters er­möglichen. Bemerkenswert an dieser Publikation, die pionierhafte Beiträge von S. anlässlich seines 80. Geburtstag zusammenstellt, ist das Bemühen, die in sechs umfänglichen Aufsätzen behandelten »Rituale, Zeichen, Bilder« aus der Perspektive der zwischen Frühmittelalter und Gegenwart ausgespannten longue durée zu untersuchen. Wenn so die Kontinuitäten und Wandlungen dieser symbolischen Kommunikationsmedien wissenschaftlich erhellt werden, gilt sowohl deren jeweiligem sozialen Ort als auch deren jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Funktionen die besondere Aufmerksamkeit.
Der Sammelband präsentiert – gerahmt von einem »Vorwort« und einem »Schriftenverzeichnis Klaus Schreiner« – die folgenden Aufsätze: »Signa Victricia. Heilige Zeichen in kriegerischen Konflikten des Mittelalters« (11–63); »›Gerechtigkeit und Frieden haben sich geküsst‹ (Ps 84,11). Friedensstiftung durch symbolisches Handeln« (65–124); »Nudis pedibus. Barfüßigkeit als religiöses und politisches Ritual« (125–205); »›Deine Brüste sind süßer als Wein‹. Ikonographie, religiöse Bedeutung und soziale Funktion des Mariensymbols« (207–241); »Antijudaismus in Marienbildern des späten Mittelalters« (243–281); »Das Buch im Nacken. Bücher und Buchstaben als zeichenhafte Kommunikationsmedien in rituellen Handlungen der mittelalterlichen Kirche« (283–322).– Alle genannten Aufsätze sind als Zweitpublikationen zu charakterisieren. Den »Drucknachweisen« (343) ist zu entnehmen, in welch renommierten Werken die Aufsätze jeweils erstmalig veröffentlicht wurden.
Einige Beispiele aus den vorgelegten Aufsätzen mögen die Reichweite von S.s Perspektiven unterstreichen und zur eigenen Lektüre anregen. Anhand der »Signa Victricia« widmet sich S. der Macht ›heilig-aufgeladener Zeichen‹. So zeigt er am Beispiel des »Kreuzes als Siegeszeichen«, wie dieses Signum in seiner ursprünglichen Bedeutung auf die Erlösungstat Christi verwies, um schließlich zu einem wirkmächtigen Zeichen in Angriffs- und Verteidigungskriegen zu werden. Das Kreuz als »politisiertes Siegeszeichen« verbreitete sich ab dem 5. Jh. und sollte bis zum ausgehenden Mittelalter selbstverständlich bleiben, wie S. anhand von vielen Beispielen dartut (siegbringende Kreuze in verschiedenen Domschätzen, aufgenähte Abzeichen der Kreuzfahrer etc.). Auch der Siegeszug der »geweihten Fahnen« mit ihrem »Mehrwert an Macht« (29) fällt in das Mittelalter und wird anhand von Fahnensegensformeln oder überlieferten Fahnenexemplaren rekonstruierbar. Nicht weniger zählten Heiligenreliquien zu jenen Medien, die den Sieg in der Schlacht herbeizuführen halfen, sah man in den Reliquien doch den Heiligen lebendig und wirkmächtig. Grundsätzlich ließ sich jeder Gegenstand, der irgend mit Christus und den Heiligen in Verbindung gebracht wurde, als siegverheißendes Zeichen instrumentalisieren; denn in diesen Zeichen sah man als gläubiger Christ den Religionsstifter bzw. die Heiligen unterstützend gegenwärtig und versuchte zugleich, den eigenen Lebenswandel diesen heiligen Vorbildern anzugleichen.
Der zweite Aufsatz zur »Friedensstiftung durch symbolisches Handeln« analysiert auslegungsgeschichtlich, mit welchen Ritualen die Menschen im Mittelalter ihre Friedensabsicht zum Ausdruck brachten. Hier widmet sich S. einleitend der Friedensmetaphorik, alsdann den mittelalterlichen Friedenszeichen und -ritualen (Eid, Mahl, gegenseitige Handreichung etc.), der Friede­herstellung durch Buß- und Unterwerfungsrituale, den gottesdienstlichen Handlungen als Element der Friedensbildungen (Eucharistiefeier, Prozessi­onen etc.), dem Friedenskuss als »fraglos ausdrucksstärkstes Zeichen mittelalterlicher Friedensstiftung« und untrügliches »Signal für die Wiederherstellung konfliktfreier Beziehungen« (114). S. veranschaulicht anhand zahlreicher historischer Beispiele, dass die analysierten Friedensrituale vom Willen und Glauben derer abhängen, die sie vollziehen. Im Vergleich von Früh-, Hoch- und Spätmittelalter stellt er eine zunehmende »Entritualisierung« (122) heraus.
Eine entwicklungsgeschichtlich auf die longue durée des Mittelalters bezogene Blickrichtung nimmt S. auch bei seiner Untersuchung der Barfüßigkeit ein: Einleitend thematisiert er die geistliche Bedeutung der Barfüßigkeit im Grundsätzlichen sowie im Überblick über die Kontinuitäten und Diskontinuitäten über mehr als 1000 Jahre hinweg (in der Spätantike: Akzentuierung der Barfüßigkeit im Kirchenraum; im Hoch- und Spätmittelalter: Akzent auf Verletzung der Heiligkeit des Kirchenraums durch unbeschuhte Füße). Alsdann folgen alltagsbezogene Ausdifferenzierungen: Barfüßigkeit in öffentlichen Bußritualen, Barfüßigkeit als Versöhnungsritual in Akten kollektiver Buße, Barfüßigkeit bei Mönchen und beim Amtsantritt von Bischöfen oder Barfüßigkeit bei Wallfahrten und im Rahmen der Bettelmönchsbewegung. Im Rahmen der vielfältig und anschaulich beschriebenen Rituale und Zeichenhandlungen erfährt man immer wieder Überraschendes (»Nudus kann sowohl barfuß als auch barhäuptig, nur mit einem Hemd bekleidet, halbnackt bis zum Gürtel oder vollkommen nackt bedeuten.« [157]).
Die beiden marienbezogenen Aufsätze gehen aus von der hoch- und spätmittelalterlichen Marienverehrung, um diese unter verschiedenen Perspektiven (Theologie, Kunstgeschichte, Bedeutungsforschung etc.) diachron einzuordnen (»Milch«- und Brust-Metapher etc.) und die entsprechenden Stimmen der spätmittelalterlichen Kritik besonders vernehmbar zu machen (»Die Sym­bolkraft von Marias Milch und Marias Brüsten verblasste zusehends. Das Mittelalter, ein Zeitalter der Zeichen, ging zu Ende.« [238]). Auch antijüdische Interpretationen bestimmter Marienbilder (vor allem Marienlegendenmotive) hatten ihre Konjunktur zwischen Hoch- und Spätmittelalter: »Judenfeindliche Marienbilder, die von Klerikern, Mönchen und Laienchristen wahrgenommen und verehrt wurden, lösten keine Gewaltaktionen gegenüber Juden aus. Sie rechtfertigten auch keine Anwendung von Gewalt aus religiösen Motiven.« (281)
Im letzten Aufsatz des Sammelbandes geht es nicht um das ›Buch an sich‹, sondern um den »Verweischarakter und Aufschlusswert von Büchern und Buchstaben, die in kirchlichen Ritualen Verwendung fanden« (284). Um die Zeichenhaftigkeit von Büchern und Buchstaben in rituellen Handlungen zu veranschaulichen, erschließt S. vier Rituale: das Auflegen des Evangeliars auf Kopf und Nacken bei der Bischofsweihe, die Übergabe des Evangeliums bei der Priester-, Bischofs- oder Papstweihe sowie bei der Taufe, die Inthronisierung des Evangeliums bei der Abhaltung von Konzilien sowie die Bedeutung des ABC bei der Kirchweihe. Nicht zuletzt macht dieser Aufsatz deutlich, wie stark das Christentum über eine Hör- und Sehreligion hinaus auch eine Gemeinschaft ist, deren Hauptbuch im Mittelpunkt vielfältiger symbolischer Kommunikation im Mittelalter stand und bis heute steht!
Der Sammelband von S. verdient höchste Beachtung. Mit seinen vielfältig einbezogenen kulturgeschichtlichen Perspektiven macht er deutlich, wie sehr »das liturgische Brauchtum [im Mittelalter] genereller Gleichförmigkeit entbehrt« und sich stattdessen vielmehr »durch eigenwillige Rezeptionen und Traditionen auszeichnet« (289). Anhand vieler Konkretionen zeigt S. auf, wie versteckt die »ursprünglich mit einem Ritual verknüpften Intentionen sind« und welch »erhebliche Unterschiede« spätere Deutungsangebote aufweisen (291). Beispielsweise stellt sich als Erstes – ausgehend von S.s Aufsätzen – mit Blick auf die Reformationsgeschichte verschärft die Frage, von ›welchem Mittelalter‹ sich Martin Luther und seine Mitstreiter ehedem eigentlich abgrenzten. Als Zweites bietet S. eröffnende Perspektiven für die Überlegung, welche ritual-, zeichen- und bildbezogenen Vorgaben mittelalterlicher Provenienz in den konfessionellen Streitigkeiten des 16. Jh.s eigentlich in welcher – möglicherweise nochmals veränderten – Weise rezipiert wurden. Drittens bietet der Sammelband sowohl mit Blick auf das Mittelalter als auch hinsichtlich der konfessionellen Ausdifferenzierungen im 16. Jh. (oder besser: seit dem 16. Jh.) eine Fülle von neuen buch-, bildungs- und wissensgeschichtlich rückgebundenen Einsichten auch zu christentumsgeschichtlich »sperrigen« Themen (Antijudaismus, Abgrenzungen der Christen von Andersgläubigen etc.).
Kurzum: Was S. an »Ritualen, Zeichen, Bildern« mit erstrangigem Blick auf das Mittelalter untersucht hat, verdiente unter anderem eine weiterführende detaillierte Analyse mit Blick auf die von Martin Luther ausgelöste Bewegung, um auf diese Weise neue Ansatzpunkte für die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität zwischen Mittelalter und Frühneuzeit zu erzielen. Fraglos enthalten die für S.s Untersuchungen charakteristische Fülle an bestens moderierten historischen Beispielen, seine durchweg in anschaulich-einladender Wissenschaftsprosa geschriebenen Texte sowie sein stets hoher methodischer Reflexionsgrad ein besonders für die theologische Forschung hohes Innovationspotential.