Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1084–1086

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Brauer, Michael

Titel/Untertitel:

Die Entdeckung des ›Heidentums‹ in Preußen. Die Prußen in den Reformdiskursen des Spätmittelalters und der Reformation.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2011. 339 S. 24,0 x 17,0 cm = Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik, 17. Geb. EUR 89,80. ISBN 978-3-05-005078-2.

Rezensent:

Karl-Heinrich Lütcke

Mit der Arbeit von Michael Brauer liegt eine materialreiche Darstellung zur Frage nach Religion und Kultur der prußischen Urbevölkerung im Deutschordensland des 15. und 16. Jh.s vor, die viele interessante Einzelergebnisse erbringt. Der Anspruch der bei Michael Borgolte an der Berliner Humboldt-Universität geschriebenen Dissertation geht freilich weiter: B. möchte in kritischer Analyse der Quellen untersuchen, ob die gängige These, »dass Teile der prußischen Bevölkerung noch bis nach Einführung der Reformation ihrer alten Religion anhingen« (11), zutrifft. Seine eigene These ist: Die Quellen geben das nicht her. Man müsse vielmehr von einer »Dialektik von Christianisierung und Entdeckung des Heidentums« (35.109.147 u. ö.) sprechen, bei der »Heidentum« auch das Konstrukt einer Christianisierung sei, die »Glaubensfeinde« brauche (40).
In einer ausführlichen methodologischen Einleitung schildert B. den Forschungsstand und die verschiedenen Zugänge zur Erforschung paganer Religion in Ethnologie und Religionswissenschaft, um anschließend seinen eigenen »diskursanalytischen« Ansatz vorzustellen: Er untersucht die Quellen aus dem 15. und 16. Jh. getrennt nach »Diskursen« (Landesordnungen, Kirchenordnungen, Geschichtsdarstellungen). In Abgrenzung zu dem Versuch, die verschiedenen Aussagen in diesen Texten unkritisch zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen, will er in kritischer Analyse herausfinden, inwieweit die Quellen die Realität widerspiegeln und inwieweit gattungsspezifische Aspekte die Wahrnehmung der Realität verzerren. Nicht jeder in der Kirchenordnung geregelte Sachverhalt z. B. müsse auch im Ordensland akut sein, da viele Bestim mungen aus der allgemeinen Tradition von Kirchenordnungen stammen.
Vor diese Analyse stellt er in Kapitel II eine Übersicht über den Prozess der Eroberung und Christianisierung und eine kritische Darstellung der »Chronik der Preußenlande« Peter von Duisburgs. In Kapitel III wendet er sich dem Schwerpunkt seiner Untersuchung zu. Zuzustimmen ist seiner These, dass die Zunahme von Belegen zum »Heidentum« der Prußen am Beginn des 15. Jh.s nicht mit einem Wachstum des Heidentums zusammenhängt, sondern mit einer neuen, interessengeleiteten Aufmerksamkeit: Überzeugend macht er das am Beispiel der Auseinandersetzung zwischen Deutschem Orden und polnisch-litauischer Union deutlich, in der man sich gegenseitig vorwirft, nicht genug für das Wachstum des christlichen Glaubens getan zu haben.
In den Kapiteln IV bis VI werden dann die schon erwähnten Gattungen von Texten aus dem 15. Jh. auf das Thema »Heidentum« befragt. In den Landesordnungen sieht B. das (Reform-)Interesse, den Christianisierungsprozess durch Unterweisung und Regu­-lierung zu intensivieren (Einschärfung der Sonntagsheiligung, Kenntnis christlicher Grundtexte, Pflicht zu Gottesdienstbesuch und Beichte, Verbot ausschweifender »heidnischer« Trinkgelage). Ein ähnliches Interesse an der Intensivierung christlicher Unterweisung sieht er auch in den Kirchenordnungen und stellt dabei die Sprachenfrage in den Mittelpunkt: Während im Samland vor allem mit Hilfe hinzugezogener Übersetzer gearbeitet wird, gibt es im Ermland das Bemühen um muttersprachliche Predigten. In Kapitel VI legt B. eine Analyse der Geschichtsschreibung vor und zieht eine interessante Entwicklungslinie von der Sicht der Prußen als Heiden und Feinde im 14. Jh. (Peter von Duisburg) über die humanistische Darstellung als Barbaren (im Zuge der Suche nach dem Ursprung und der Zuordnung zu den Goten) bis hin zum Verständnis der Prußen als »Vorfahren« bei Erasmus Stella und Simon Grunau, die germanische Einflüsse und Ursprünge im Land der Prußen »entdeckten«.
Im Schlusskapitel über die Reformation lässt B. seine Ausführungen über die »Entdeckung«, ja »Konstruktion« des prußischen Heidentums kulminieren. Er geht in drei Unterabschnitten den Themen »Bocksheiligung«, Götter und Zauberei nach. Die Konstruktion eines »umfassenden ›Heidentums‹« sieht er in der evangelischen Absicht einer Neuchristianisierung begründet, in der das »Heidentum« der Preußen mit der »Idolatrie« der katholischen Kirche parallelisiert werde (274).
Ein hilfreicher Anhang enthält thematische Konkordanzen von Ordnungen, einige transkribierte Originaltexte, Quellen- und Li­teraturverzeichnis sowie ein Register.
Insgesamt sammelt B. zum Thema »Heidentum« bei den Prußen viele interessante Details, die er gründlich und in sorgfältiger Auseinandersetzung mit der einschlägigen Literatur kommentiert und analysiert. Seiner These, die »Entdeckung des Heidentums« sei »eine Mischung aus Autopsie und Konstruktion« (188), kann man zustimmen, aber in der Festlegung im Einzelnen (Was ist »Autopsie«, was nur »Konstruktion«?) wird man oft mit ihm streiten können.
Zwar räumt B. immer wieder ein, dass die von ihm analysierten Autoren auch »reale Praktiken« der Prußen gesichtet haben, bei denen die Prußen »an die heidnische Zeit« anknüpften (275, vgl. 40). In der Hauptsache aber sieht er die Wahrnehmung der Prußen in der Reformationszeit eher so, dass ihnen das »Heidnische« unterstellt wird. Er diagnostiziert »Überinterpretation« oder »Fehlinterpretation« (40. 273 ff.) harmloser Handlungen und sieht eine religiöse Aufladung ursprünglich nicht religiöser Sachverhalte durch die christlichen Interpreten: Das »Bocksopfer« sei eigentlich nicht mehr als ein großes Festmahl (247), die sog. »sermen« einfache Trinkgelage (147 f.275), das »Waideln« eigentlich eine Art Stammesversammlung (268 ff.); die prußische Festkultur sei »dämonisiert« worden (261), ein von christlichen Beobachtern als Rückgängigmachung der Taufe gedeuteter Badevorgang sei eigentlich ein Saunagang (191 f.).
Über jeden einzelnen dieser Sachverhalte mag man tatsächlich streiten. Aber ob die Untersuchung insgesamt das Urteil zulässt, das Heidentum der Prußen sei »größtenteils keine religiöse Praxis; sondern eine Zuschreibung« (276), wage ich zu bezweifeln. B. ist zuzustimmen, wenn er die Aporien der ethnologischen und der religionswissenschaftlichen Untersuchungen zur ursprünglichen »heid­nischen« Religion christianisierter Völker benennt (19f.). Richtig ist auch die Feststellung, dass viele Aussagen zu »heidnischen« Bräuchen und auch die Begrifflichkeit aus einer christlichen Perspektive herrühren. Trotzdem kann man unterstellen, dass Phä­nomene, die von den christlichen Beobachtern als »heidnisch« oder »polytheistisch« gekennzeichnet werden, eine Praxis widerspiegeln, die aus der Eigensicht vielleicht anders beschrieben werden würde, die aber doch mit einer realen religiösen Praxis verbunden sind. Kann man Kultur und Religion so scharf trennen, wie das B.s These tut, normale kulturelle Eigenarten der Ureinwohner seien in den von ihm analysierten Texten unter »Religion« und »Heidentum« verbucht worden?
Ein methodisches Problem steckt schon in der zentralen Fragestellung der Arbeit: »Gab es im 15. Jahrhundert noch heidnische Prußen?« (11) Diese Frage enthält eine Unschärfe, die sich auf die späteren Entscheidungen über den Realitätsgehalt der Aussagen christlicher Autoren auswirkt. Denn »heidnische Prußen« können ungetaufte Prußen sein oder Getaufte, die trotz der Taufe weiterhin ihrer alten Religion treu geblieben sind; es können aber auch getaufte Prußen sein, die bestimmte Elemente ihrer alten religi­ösen (»heidnischen«) Tradition festgehalten bzw. in ihr Christentum synkretistisch integriert haben, wie wir es auch bei anderen missionierten Völkern kennen (vgl. die missionswissenschaftliche Diskussion um »Inkulturation« und Klaus Hock, Religion als transkulturelles Phänomen, BThZ 19 [2002], 64–82).