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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1082–1084

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Borgolte, Michael, Dücker, Julia, Müllerburg, Marcel, u. Bernd Schneidmüller [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2011. 612 S. u. 21 Taf. m. Abb. 24,0 x 17,0 cm = Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik, 18. Geb. EUR 99,80. ISBN 978-3-05-004973-1.

Rezensent:

Jörg Ulrich

Es handelt sich um die Dokumentation der Arbeitsergebnisse aus der zweiten Laufzeithälfte des DFG-Schwerpunktprogramms 1173 »Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter«. Nachdem aus dem ersten Arbeitsabschnitt der Band »Mittelalter im Labor« (EMA 10, Berlin 2008) hervorgegangen war, dokumentiert das nun vorliegende Buch den Fortgang und Abschluss des mediä­vistischen Großprojekts. Die insgesamt sieben transdisziplinären Arbeitsgruppen legen je gemeinschaftlich verfasste Beiträge vor. Ein achter Beitrag gibt einen umsichtigen Rück- und Ausblick auf Ar­beitsprozesse und sich ergebende Perspektiven.
Was zunächst als ein relativ willkürlich zusammengewürfeltes Konglomerat von Beiträgen von beängstigender thematischer Vielfalt erscheinen könnte, erweist sich bei näherem Hinsehen schnell als Projekt, das gerade dank der enormen historischen und geographischen Erstreckung seiner Erkundungsgänge zu einem neuen Verständnis des europäischen Mittelalters vordringt: weg von der Vorstellung eines kulturell statischen und uniformen Mittelalters und hin zur Einsicht in die Dynamik sich permanent vollziehender Integrations- und Abgrenzungsprozesse, durch die sich die mittelalterlichen Kulturen in ihrer Einheit und Vielfalt konstituieren. Zentrales methodisches Interesse besteht mithin an der Analyse von Unterscheidungsvorgängen. Dieses spiegelt sich in den drei Abschnitten des Bandes »Formen der Grenzziehung« (Identitätskonstruktion), »Differenz als kulturelle Praxis« (situative Aushandlung) und »Grenzüberschreitungen als kreativer Prozess« (Neuformierungen) wider.
Im ersten Abschnitt finden sich Beiträge zu christlichen Selbstvergewisserungsprozessen in Auseinandersetzung mit anderen Religionen (Jörg, Parker, Pleuger, Zwanzig: 17–102), zu Funktionen kultureller Rückbindung vom 9. bis 16. Jh. (Brauer, Cecini, Dücker, König, Küçükhüseyin: 103–192) und zu textuellen Konstruktionen des »Anderen« im (früh)mittelalterlichen Europa (Jochum-Godglück, Linseis, Potthast, Saßenscheidt, Schorr: 193–258). Christliche Selbstvergewisserung vollzieht sich durch Abgrenzungsakte (dis­tinktive Identitätsstiftungen), die sich am Beispiel der Cordobenser Märty­rerhagiographien im Zusammenhang christlich-islamischer Konkurrenzlagen, z. B. bei Samson von Cordoba im Streit mit Bischof Hostegesis von Malaga, aber auch im Kontext innerchristlicher Konflikte aufzeigen lassen. Das Phänomen kultureller Rückbindung wird durch fünf historisch und sachlich höchst unterschiedliche Fallstudien bearbeitet, die aber alle gemeinsam haben, dass sie die Aneignung von Vergangenheit als Teil von Identitätsstiftungsvorgängen analysieren. Herausgegriffen sei das Beispiel des Rechtsgelehrten, Grammatikers und Geschichtsschreibers Ibn al-Qūţiyya aus Cordoba (10. Jh.), der seine Herkunft dezidiert auf die westgotischen Witizianer zurückführt, vermutlich in der Absicht, sein Selbstverständnis und seine Position als vollständig integrierter Repräsentant muslimischer Eliten im umayyadischen al-Andalus (König: 137) zum Ausdruck zu bringen. Die textuellen Konstruktionen des »Anderen« werden in abermals fünf Fallstudien analysiert, wobei sich sehr unterschiedliche Vorgehensweisen und Motivlagen herausarbeiten lassen: Die Darstellungen der Juden im deutschsprachigen Geistlichen Drama etwa zielen nicht auf besseres Verständnis, sondern durch ihren karikierenden Zug auf Unterhaltung und auf Etablierung eines Feindbildes. Sie dürften in dieser Hinsicht ihre Wirkung kaum verfehlt haben, zumal das Geistliche Drama nur als Teil eines komplexen antijüdischen Kommunikationszusammenhanges ( Linseis: 227) anzusehen ist.
Der zweite Abschnitt bietet Beiträge zur ambivalenten Funktion der Vernunft in ausgewählten Religionsdialogen des 12. Jh.s (Müllerburg, Müller-Schauenburg, Wels: 261–324) und zu Konzeptionen des »Heidnischen« in volkssprachigen literarischen und chronokalischen Texten des 13. Jh.s (Seidl, Zimmermann: 325–381). Bei der Analyse von vier Beispieltexten aus dem Genre christlich-jüdischer Religionsdialoge (der Begriff »Dialog« ist an dieser Stelle zu problematisieren) wird deutlich, dass der Vernunft in diesen Texten eine ambivalente Rolle zukommt, denn sie soll einerseits die Folgerichtigkeit christlichen Argumentierens demonstrieren, andererseits aber kann das vernunftgemäße Denken aus inneren theologischen Gründen nicht als eigentlicher Beweggrund für die Hinwendung zum als unverfügbar gedachten Glauben in Betracht kommen (307 u. ö.). Diese Aporie hat Verunsicherungen mit sich gebracht und wohl auch zu einer allmählichen Abkehr vom Genre geführt. Die Analyse der literarischen Verarbeitungen von Konzeptionen des »Heidnischen« im 13. Jh. führt zu einem überraschenden Resultat. Die Texte bewegen sich auf einer breiten Skala zwischen Faszination und Abwehr – ein Befund, der das Vorhandensein geschlossener Konzepte des Christlichen in den volkssprachigen Milieus des Mittelalters fraglich erscheinen lässt (374 f.).
Im dritten und letzten Abschnitt finden sich Beiträge zum Kulturtransfer in vergleichender Betrachtung (Gerogiorgakis, Scheel, Schorkowitz: 385–466) und zur Hybridisierung von Zeichen und Formen durch mediterrane Eliten (Burkhardt, Mersch, Ritzerfeld, Schröder: 467–557). In drei Fallstudien zum Thema Kulturtransfer werden sowohl die integrativen als auch die desintegrativen Aspekte derartiger Prozesse deutlich, die sich in Differenz, Asymmetrie und Ausgleichsbestreben als Folgen kulturellen Beeinflusst-Seins niederschlagen (420). Die Entstehung gemeinsamer Formen- und Symbolsprache im Mittelmeerraum wird in vier sachlich sehr verschiedenen Einzelstudien, die von der Architektur über die Metallverarbeitung bis zur Sphragistik reichen, untersucht. Es zeigt sich, dass die transkulturellen Austauschprozesse nicht nur auf Basis direkter, absichtlich hergestellter Verbindungen, sondern durchaus auch in nichtintentionalen Abläufen erfolgten (542).
Die in der Förderpolitik der DFG und anderer Förderinstitutionen zu beobachtende Tendenz zugunsten der Cluster-Förderung, die leider mitunter zu Lasten vielversprechender Einzelanträge geht, muss und wird weiter diskutiert werden, vor allem hinsichtlich ihrer An­gemessenheit im Bereich der Geisteswissenschaften. Wie immer man hier zu urteilen geneigt ist – der vorliegende Band ist (wie schon sein Vorgängerband) jedenfalls ein eindrucksvolles Beispiel für das hohe Ertragspotential solcher Großprojekte. Dies dürfte immer dann zum Tragen kommen, wenn deren Einzelprojekte bei Wahrung ihrer me­thodischen und sachlichen Vielfältigkeit durch einen stabilen und gut elaborierten Theorierahmen (hier zum Thema kulturelle Identität) nicht nur zusammengehalten, sondern wirklich miteinander verwoben werden. Da dies im vorliegenden Band – trotz oder gerade wegen des durchaus experimentellen Charakters des Schwerpunktprogramms – der Fall ist, stellt er das große Erschließungspotential von echter Transdisziplinarität und von Verbundforschung auch in den Geisteswissenschaften unter Beweis. Die nachdenkliche Bilanz von Julia Dücker und Marcel Müllerburg (561–586) macht diese Li-nie zu Recht stark, ohne bestehenden Verbesserungsbedarf zu verschwei­gen und ohne offene Fragen hinsichtlich der konzeptionellen Weiterentwicklung transkultureller Mediävistik insgesamt und hinsichtlich der Angemessenheit derzeit förderpolitisch favorisierter Projektformate auszublenden.