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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1075–1077

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Kalinowski, Anja

Titel/Untertitel:

Frühchristliche Reliquiare im Kontext von Kultstrategien, Heilserwartung und sozialer Selbstdarstellung.

Verlag:

Wiesbaden: Reichert 2011. XI, 228 S. u. Anhang m. 164 Abb. 24,0 x 17,0 cm = Spätantike – Frühes Christentum – Byzanz – Kunst im ersten Jahrtausend. Reihe B: Studien und Perspektiven, 32. Geb. EUR 59,00. ISBN 978-3-89500-794-1.

Rezensent:

Armin Bergmeier

Anja Kalinowski hat sich in ihrer Dissertation (bei Beat Brenk) einem in der christlichen Archäologie und spätantiken Kunstgeschichte altbekannten Thema gewidmet: In kaum einer Untersuchung zur Kunst der Spätantike fehlt der Verweis auf eines der bekannten Bilder der elfenbeinernen oder silbernen Reliquiare. Zu den berühmtesten gehört das in der Nähe des istrischen Pola ge­fundene Elfenbeinkästchen von Samagher, das auf den Seiten Darstellungen römischer Kirchenräume trägt und dessen Deckel die ursprüngliche Komposition der Apsis von Alt-St. Peter wiedergibt. K. untersucht diese Artefakte spätantiker christlicher Kultur allerdings unter neuen Gesichtspunkten.
Bislang hat sich die Forschung häufig damit begnügt, Reliquiare als Hilfsmittel zu benutzen, um verlorene Bilder der Monumentalkunst zu rekonstruieren bzw. um Aussagen zur ikonographischen Wiedergabe christlicher Themen zu machen. K. gliedert die Reliquiare nun wieder in ihren ursprünglichen rituellen und räumlichen Kontext ein. Auf dieser Grundlage benutzt sie die Reliquiare als Erkenntnismedium für weiterführende Fragestellungen, nicht jedoch ohne ihre Beobachtungen auf eine beeindru-ckende Fülle archäologischer Befunde und relevanter Textquellen zu stützen. Von besonderem Interesse ist die grundlegende Erforschung des Gebrauchskontextes der Reliquiare und ihrer Verortung im jeweiligen Kultraum. In diesem Zusammenhang wird die Sichtbarkeit und Zugänglichkeit der Objekte geklärt in Abhängigkeit von ihrer topographischen Verbreitung. Hier zeigt sich ein großer Vorzug von K.s umfassender Studie, die sowohl den Westen als auch den Osten des Römischen Reichs behandelt. Dies ist besonders in Bezug auf Reliquien sinnvoll, die in der Spätantike quer durch das Reich verschickt wurden. So sind eine Reihe von parallel verlaufenden Entwicklungen zu verzeichnen, jedoch auch Unterschiede. So behauptete Rom lange Zeit seine Sonderstellung im Reich und sperrte sich gegen gängige Praktiken der Reliquienteilung. Gregor der Große etwa verweigerte der Kaiserin Konstantina 594 kategorisch ihre Bitte um die Kopfreliquie des Apostels Paulus und bot ihr stattdessen Staub von der Kette des Petrus an. So blieb die Versendung von Sekundär- bzw. Berührungsreliquien lange Zeit Standard. Diese wurden, ähnlich wie die heiligen Gebeine, häufig in der Erde unterhalb des Altars beigesetzt und so den Blicken der Gläubigen entzogen. K. kann jedoch anhand archäologischer und schriftlicher Indizien zeigen, dass besonders in Syrien und dem Heiligen Land, wo die visuelle Präsentation der loca sancta eine ausgeprägte Tradition hatte, Reliquiare häufig sichtbar in Kirchen und Kapellen aufbewahrt worden sein müssen. Diese Beobachtung führt zu einem der interessantesten Ergebnisse der Untersuchung: K. stellt der aufwändigen visuellen Gestaltung der Reliquiare die Unsichtbarkeit ihrer Aufbewahrung gegenüber. Sie wendet sich damit gegen die in der Forschung noch immer verbreitete »Unsichtbarkeitsskepsis«, die darauf besteht, Reliquiare mit Bildern müssen sichtbar aufgestellt gewesen sein. Der archäologische Befund widerlegt dies. So ist auch das reich bebilderte Elfenbeinkästchen von Samagher in einer Steinkiste verschlossen im Boden unterhalb des Altarbereichs der Kirche des Heiligen Hermagoras gefunden worden. K.s Untersuchung widmet sich bei diesem Fallbeispiel nicht nur der formalen Bildanalyse, sondern geht darüber hinaus und stellt die Frage, warum sich ein Reliquiar, das in seinem Bildprogramm römische Kulträume evoziert, in der Kirche des istrischen Heiligen Hermagoras befand. Die Bilder des Kästchens, die wichtige Sanktuarien Roms abbilden, verweisen auf den Niederlegungsort der Reliquien im Sanktuarium des Hermagoras. Eine ideelle Verbindung zwischen dem christlichen Zentrum Rom und der Kirche in Istrien wurde auf diese Weise hergestellt. Eine Besonderheit der Bilder des Reliquiars, die allesamt Privatpersonen – keine Kleriker – an den Kultzentren zeigen, führt K. zu der Annahme, dass private Stifter für die Gestaltung verantwortlich waren.
K.s Publikation beeindruckt durch eine Fülle archäologischer und schriftlicher Quellen. Die untersuchten Objekte und architektonischen Komplexe sind im Abbildungsanhang hervorragend do­kumentiert. Die Arbeit bietet eine breite theoretische Grundlage der technischen und praktischen Aspekte des Umgangs mit Reliquien. Darauf aufbauend werden die Funktionen der Bilder bzw. der Anikonizität der Reliquiare an Beispielen diskutiert. Das Bestreben, den Ursprung der Gefäßformen und der Motive auszumachen, bleibt hingegen wenig überzeugend, nicht zuletzt aufgrund der schwierigen Quellenlage. Die Publikation ist unverzichtbar für jeden, der sich mit der rituellen und visuellen Aktivität in Sakralräumen der Spätantike beschäftigt. Sie führt die Gattung der Reliquiare eindrücklich als ein äußerst flexibles und kreatives Medium vor, das Erkenntnisse zu einer Vielzahl von Fragestellungen der Spätantikeforschung ermöglicht.