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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1071–1072

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Talbert, Charles H.

Titel/Untertitel:

The Development of Christology during the First Hundred Years. And other essays on early Christian Christology.

Verlag:

Leiden/Boston: Brill 2011. XI, 204 S. 23,8 x 15,6 cm = Supplements to Novum Testamentum, 140. Geb. EUR 94,00. ISBN 978-90-04-20171-2.

Rezensent:

Kurt Erlemann

Mit seinem Aufsatzband legt der renommierte US-amerikanische Neutestamentler Charles H. Talbert (Baylor University, Texas) sein christologisches »Lebenswerk« vor. Der im Titel genannte einleitende Aufsatz bündelt die Ergebnisse eines fast fünf Jahrzehnte dauernden Nachdenkens über die frühchristliche Christologie. In gewohnt flüssiger Sprache offeriert T. seine leitenden Fragestellungen und Grundthesen. Das Modell einer einlinigen, dem Prinzip größerer Komplexität folgenden Entwicklung christologischer Gedanken bis hin zu Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft Christi wird bei ihm abgelöst durch eine konsequent religionsgeschichtliche und rezeptionsästhetische Fragestellung: Im Rahmen welcher antiken Denkmodelle konnten die christologischen Aussagen des Neuen Testaments verstanden werden bzw. an welchen antiken Denkmodellen orientierten sich die frühchristlichen Autoren, um Antworten auf die christologischen Fragestellungen ihrer Zeit zu entwickeln?
T. benennt in seinem Leitaufsatz vier Grundmodelle neutestamentlicher Christologie: 1. Erhöhung und gegenwärtige himmlische Herrschaft des Erhöhten als Komponenten; 2. Erhöhung und Kommen des Erhöhten zum Endgericht als Komponenten; 3. der Abstieg des Präexistenten als Epiphanie Gottes; 4. Inspiration und Einwohnung Gottes im Menschen Jesus. Die Grundmodelle seien kein Ausweis verschiedener frühchristlicher Gemeindetypen, vielmehr seien Ad-hoc-Kombinationen die Regel. Die Modelle orientieren sich nach T. allesamt an antik-mediterranen Konzepten über Götter, Halbgötter und göttliche Menschen. Die Konzepte lassen den Schluss zu, dass Jesus erst spät, jenseits des neutestamentlichen Zeitalters, als zweiter Gott neben Gott verstanden wurde. »Göttliche« Zuschreibungen wie Anbetung, Rede von Schöpfungsmittlerschaft und die Funktion im Endgericht implizierten für »ancient auditors« nicht das Gott-Sein Jesu Christi.
Nach den Analysen T.s sind die christologischen Modelle des frühen Christentums alle­samt aus den antiken, jüdischen wie nichtjüdischen, Vorstellungen erklärbar. Eine einlinige Entwicklung zu einer immer »höheren« Christologie sei nicht erkennbar, vielmehr wurde Jesus Chris­tus schon sehr früh mit göttlichen Funktionen und Titeln belegt; an­sonsten sei die Entwicklung chris­tologischer Gedanken in erster Linie den tagesaktuellen theo­logischen Bedürfnissen geschuldet: »Christological development […] has the messiness of lived life.« (41)
Die ebenfalls in dem vorgelegten Band enthaltenen acht Einzel­aufsätze sind Wegmarken der christologischen Forschung T.s von 1967 bis 2006. Unter anderem stellt er für Phil 2,6–11 den Gedanken einer Präexistenz in Abrede; vielmehr werde Christus von V. 6 an, in der Tradition der Gottesknechttheologie Deuterojesajas, als Antityp Adams porträtiert; die Selbstentäußerung (kenosis) Christi sei als Umschreibung der Lebenshingabe des Menschen Jesus zu verstehen (The Problem of Pre-Existence in Philippians 2:6–11; 45–60). Dass Christus in den Ohren paganer Zeitgenossen nicht als Gott (eternal), sondern als vergöttlichter Mensch (immortal) zu verstehen war, ist Thema eines weiteren Aufsatzes (The Concept of Immortals in Mediterranean Antiquity (61–82; 1967). Von den pa­-ganen Konzepten unterscheide sich die Rede von Jesus Christus lediglich durch das Element der Parusie und die Bezeichnung als »der eine Herr«.
Ge­mäß den Aufsätzen »The Myth of a Descending-Ascending Redeem­er in Mediterranean Antiquity« (83–112; 1976) sowie »›And The Word became Flesh‹: When?« (131–141; 1993) widerlegt T. die von der Bultmann-Schule postulierte Abhängigkeit des Johannesevangeliums von gnostischen Mythen. In der teilweisen Identifikation von Weisheit, Logos und Geist in jüdisch-hellenis­tischen Schriften sieht T. den traditionsgeschichtlichen Hintergrund der johanneischen Christologie. Nicht sei im Prolog eine Präexistenz Christi angedeutet, vielmehr deute Joh 1,14 auf die Herabkunft des Logos bei der Taufe Jesu hin. Die Vorschaltung der Geburtsgeschichte Jesu im Matthäus- und im Lukasevangelium deutet T. als Reaktion auf ein möglicherweise legalistisches Missverständnis der johanneischen und markinischen Christologie: Jesus wurde nicht aufgrund besonderer Lebensführung mit Gottes Geist ausgestattet und erhöht, vielmehr war von seiner Zeugung an Gottes Initiative für Jesu Werdegang ausschlaggebend (Expo­sitory Article: Luk 1:26–31; 127–130; 1985). Zuletzt beleuchtet T. in »The Christology of the Apocalypse« (143–160; 1999) die hellenis­tisch-jüdische Spekulation um eine zweite Richterfigur (be­sonders äthHen) als traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Chris­tologie der JohApk.
Der Aufsatzband zeigt einen in sich geschlossenen christo­-lo­gischen (Lebens-)Entwurf von hoher innerer Geschlossenheit und Konsequenz. Einige Standards christologischen Nachdenkens werden hier einer kritischen Prüfung unterzogen und erhalten eine nachdenkenswerte Alternative. Kritisch ist lediglich anzumerken, dass T. zwar die durch Bultmann und seine »Schule« angestoßene Diskussion rezipiert, nicht jedoch die weitere Entwick­lung der europäischen bzw. deutschsprachigen Theologie im Blick hat.