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Ausgabe:

März/1996

Spalte:

258–260

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Werner H.

Titel/Untertitel:

Die zehn Gebote im Rahmen alttestamentlicher Ethik. In Zusammenarb. mit H. Delkurt u. A, Graupner.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993. IX, 177 S. 8o = Erträge der Forschung, 281 S. Kart. DM 39,­. ISBN 3-534-10007-7.

Rezensent:

Eleonore Reuter

Seit der ’Grundwertediskussion’ Ende der siebziger Jahre erleben wir eine Renaissance des Dekalogs.(1) Im vorliegenden Band werden die Ergebnisse der exegetischen Forschung der letzten Jahrzehnte gesammelt, systematisiert und auch für Nichtexegeten und Nichtexegetinnen verständlich dargestellt. Wie der Titel anzeigt, sind exegetische Feinheiten zur Entstehung des Dekalogs den Fragen nach ethischen und theologischen Zusammenhängen untergeordnet (VIII). Die pastorale Fragestellung nach der heutigen Relevanz des Dekalogs ist zwar ausdrücklich (VIII) nicht Inhalt dieser exegetischen Darstellung, dennoch zieht sich das Bemühen, den Dekalog im Hinblick auf moderne Probleme zu übersetzen wie ein roter Faden durch das Buch. Der Band ist als Ergänzung zu W. H. Schmidt, Exodus, Sinai und Mose (EdF 191) Darmstadt 21990 gedacht.Die Monographie wurde von W. H. Schmidt als Gemeinschaftswerk mit H. Delkurt und A. Graupner gestaltet.

Das Werk ist in drei Hauptteile gegliedert. Teil A (3-35) beinhaltet die grundsätzlichen ethischen und exegetischen Vorüberlegungen. Im ersten Abschnitt wird das Verhältnis von Glaube und Ethik im AT reflektiert. Die theonome Begründung wird als etwas erkannt, das erst im Laufe der Zeit dem Ethos integriert wurde. "Demnach beruht die von den Zehn Geboten bezeugte feste Verbindung von Glauben und Ethos vermutlich auf langem theologischen und ethischen Nachdenken." (11)

Im zweiten Abschnitt werden in Abgrenzung zu anderen Rechtstexten des AT sowie zu prophetischen und weisheitlichen Mahnreden sechs Charakteristika des Dekalogs erarbeitet: 1. Die Gebote sind unmittelbare Anrede, die jeden persönlich in Anspruch nehmen; 2. Sie sind von einprägsamer Kürze; 3. Sie haben absolute, unbedingte Geltung; 4. Sie enthalten keine Rechtsfolgebestimmungen und eignen sich daher nicht zur Rechtsprechung. Sie sind... mehr Ethos als Jus." (18); 5. Sie verstehen sich als Gebote für das befreite Volk. Der Zuspruch geht also dem Anspruch voraus; 6. Sie verstehen sich in erster Linie als Grenzmarkierungen des Lebensraums in der Gottesgemeinschaft.

Den Fragen der Dekaloggenese widmet sich Abschnitt III. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, daß der Dekalog sowohl in Ex als auch in Dtn erst redaktionell seine Position im Anschluß an die Theophanie und als Ausgangspunkt für weitere Rechtsbestimmungen (Bundesbuch bzw. dtn Gesetze) erhalten hat. Formal ist er uneinheitlich gestaltet. Die Sprache weist eine Nähe zur dtr Literatur auf. Zur Datierung fassen die Vf. zusammen: "Der Dekalog stammt darum kaum aus früher, erst recht nicht aus mosaischer Zeit ... Seine vorliegende Gestalt reicht wegen der jüngeren (dtr) Sprachanteile kaum in vorexilische Zeit zurück." (26) Den Weg zu dieser Endgestalt erklären sie überlieferungsgeschichtlich. "Ältere Kurzreihen wandeln sich, nehmen neue Glieder hinzu, stoßen andere ab, wachsen schließlich zu einem Dekalog zusammen." (28) Von einem redaktionsgeschichtlichen Ansatz grenzen sie sich streng ab.(2) Aufgrund der geringen Länge halten sie Ex 20 für älter als Dtn 5. Bereits die Propheten des 8. Jh.s kannten die Dekaloggebote (30 ff.).

Damit sind die entscheidenden Weichen gestellt, die in Teil B (39-141) die Richtung der Dekaloginterpretation bestimmen. Jedem Gebot ist ein eigener Abschnitt gewidmet. Dabei gibt Ex 20 die Norm ab. Das hat z.B. Konsequenzen bei der Zählung der Gebote. Diese werden aber nicht reflektiert, obwohl sie von ökumenischem Interesse sind.

Bei Fremdgötterverbot, Bilderverbot und Sabbatgebot erwägen die Autoren eine Herkunft aus vorstaatlicher (49) oder nomadischer (63; 87) Zeit. Bei der Entwicklung der einzelnen Gebote weisen sie eine Tendenz zur Bedeutungserweiterung, Verallgemeinerung und Verinnerlichung nach (128; 140; 146).

Teil C (145-177) umfaßt ein Nachwort, ein Literaturverzeichnis, das eigens um einen Anhang mit Literatur zur Gegenwartsbedeutung des Dekalogs erweitert ist und Register.

Aus der Fülle der Details, die der Diskussion wert wären, können hier nur wenige ausgewählt werden:

­ Daraus, daß die Propheten, insbesondere Hos und Mi, bestimmte Verhaltensweisen kritisieren, schließen die Vf. auf die Kenntnis der entsprechenden Dekaloggebote. Die normbildende Kreativität der Propheten wird somit gering veranschlagt. Die Nichteinhaltung fixierter Normen anzuklagen ist Aufgabe der Jurisdiktion. Prophetische Gabe ist es, zu erkennen, wo der Raum der Lebensgemeinschaft Israels mit JHWH verlassen ist, ohne dafür auf Gebote angewiesen zu sein.

Darüberhinaus wird der Eindruck erweckt, die Kenntnisse einzelner Dekaloggebote setze die Existenz des Dekalogs voraus. Tatsächlich ist jedoch beides auseinanderzuhalten. Der Zeitpunkt, an dem eine Reihe von Zehn Geboten vorlag, wird in dem besprochenen Werk nur sehr beiläufig behandelt. Wir wissen von Kurzreihen z.B. bei Hos 4,2; Jer 7,9; Ps 50,18. Aber wann, durch wen und warum wird daraus ein Dekalog?

­ Die Geschichte der einzelnen Gebote wird z.T. bis in "nomadische Zeit" verfolgt. Damit begeben sich die Vf. auf äußerst problematisches Terrain, weil die Textzeugnisse fehlen. Atl. Texte erzählen gerne und viel über die Zeit, bevor Israel ein Königreich wurde. Aber das meiste davon ist ein Spiegel der Entstehungszeit ­ also der Königszeit oder jünger ­ und bietet kaum Informationen über die vorstaatliche Zeit. Speziell der Begriff "nomadisch" trifft für die gemeinte Zeit wohl nicht zu.(3) Das Interesse für die "Frühgeschichte" des Dekalogs führt zu ’Leerstellen’ in der Betrachtung der weiteren Entwicklung: Wie kommt der Dekalog dorthin, wo er heute steht, also in den Kontext der Sinai-/Horebtheophanie? Ist er Teil einer der sogenannten Pentateuchquellen? Und wenn nicht, welche Redaktion fügt ihn ein? Die DatierungŠ kaum in vorexilische ZeitŠ" (26) bedarf der näheren Präzisierung. Dazu gehört auch die komplexe Problematik der kanonischen Stellung des Dekalogs im Verhältnis zu den anderen Rechtstexten des AT.(4) Die Gesamtkomposition des Pentateuch versteht den Dekalog als das Grundgesetz, das von den anderen Texten ausgelegt wird.

­ Dankenswerterweise werfen die Vff. häufiger einen Blick in die Rezeptionsgeschichte des Dekalogs. Er hilft zu erkennen, daß nicht jede Interpretation dem Sinn des Gebotes entsprochen hat. Die Weise der Behandlung der ntl. Dekalogrezeption ist allerdings dazu geeignet, übliche Ressentiments dem AT gegenüber zu verstärken.(5) Inwiefern ist uns z.B. die Ethik des NT näher als die des AT? (3) Für das Doppelgebot mag es aufgrund des häufigeren Gebrauchs in Homilie und Katechese gelten. Aber doch kaum für die Haustafeln, die uns teilweise sehr fremd sind!

Auch die Rezeption des Dekalogs in den Antithesen der Bergpredigt läßt sich nicht einfach als Verschärfung bezeichnen (23). Die Frage nach der Erfüllbarkeit geht an der Intention der Antithesen vorbei. Vielmehr stellt die Bergpredigt grundsätzlich den Umgang mit den Mitmenschen auf der Grundlage rechtlicher Kategorien in Frage. Angesichts der angebrochenen Gottesherrschaft ist nur die bedingungslose unbegrenzte Zuwendung zum Nächsten angemessen.(6)

­ Die Frage nach der Rolle der Frau im Dekalog wird mehrfach thematisiert (33; 92; 117; 132-136). Dabei wird das Modell der "inklusiven Sprache" vertreten: Auch wenn die Frau nicht erwähnt wird, so ist sie doch mitgemeint. Feministische Exegese kritisiert dieses Modell zunehmend.(7) Ähnlich wird beim Begehrensverbot von einer kontinuierlichen Höherentwicklung der Stellung der Frau ausgegangen, um ein höheres Alter von Ex 20,17 gegenüber Dtn 5,21 nachzuweisen. Die Position der Frau ist jedoch von so vielen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Faktoren abhängig, daß eine einfache Linearität nicht zutrifft.(8) So läßt sich vermutlich im Dtn ein "emanzipatorisches Bemühen" beobachten. Für die jüngere Priesterschrift gilt dies sicher nicht. Das kultische Interesse und die restaurative Tendenz der Priesterschrift lassen im Gegenteil keine besondere Wertschätzung der Frau erkennen.

Alles in allem liegt mit dem Band eine materialreiche Darstellung der Dekalogexegese vor. Die Fülle der verarbeiteten Literatur wie die inhaltsreiche Besprechung der einzelnen Gebote machen ihn zum Standardwerk sowohl bei ethischen als auch bei exegetischen Diskussionen über den Dekalog. Da die Darstellung sehr systematisch und verständlich bleibt, ist er zugleich als Einführung zu empfehlen. Ob der hier zugrundegelegte überlieferungsgeschichtliche Ansatz aber der "Ertrag der Forschung" ist, wird die Zukunft zeigen.

Fussnoten:

(1) Grundwerte und Gottes Gebot. Gemeinsame Erklärung des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz, 1979.
(2) Vor allem von F. L. Hossfeld, Der Dekalog. Seine späten Fassungen, die originale Komposition und seine Vorstufen (OBO 45), Fribourg 1982.
(3) Vgl. E. A. Knauf, Die Umwelt des Alten Testaments (NSKAT 29) Stuttgart, 1994, 58-63.
(4) Die jüngsten Entwürfe hierzu vgl. F. Crüsemann, Die Thora, München 1992, 407-413 und E. Otto, Theologische Ethik des AT, Stuttgart 1994, 218 f.
(5) Sie führt zu fragwürdigen Versuchen wie die ’Christianisierung’ des Dekalogs bei J. Zink, Neue Zehn Gebote, Stuttgart 1995, der die alttestamentlichen Gebote jesuanischen Angeboten gegenüberstellt! Aber die Sätze "Gott gibt das Leben. Darum hilf den Menschen und allen Geschöpfen, daß sie leben können." oder "Gott ist der Gebende. Darum halte nicht fest." sind kaum Neue Gebote, sondern vielmehr eine zeitgemäße Interpretation des 5. und 7. Gebotes.
(6) Vgl. H. Merklein, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft (SBS 111), Stuttgart 1983, 105-111.
(7) Vgl. A. Brenner, An Afterword: The Decalogue ­ Am I an Addressee?: Dies. (Hrsg.), A Feminist Companion to Exodus to Deuteronomy, Sheffield 1994, 255-258.
(8) Vgl. H. Schüngel-Straumann, Biblisches Ethos aus feministischer Perspektive: W. Lesch/M. Loretan (Hrsg.), Das Gewicht der Gebote und die Möglichkeiten der Kunst, Fribourg 1993, 131-144.