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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1068–1069

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Pokorný, Petr

Titel/Untertitel:

Hermeneutics as a Theory of Understanding. Transl. from Czech by A. Bryson-Gustová. Foreword by J. H. Charlesworth.

Verlag:

Grand Rapids/Cambridge: Eerdmans 2011. XV, 208 S. 22,8 x 15,2 cm. Kart. US$ 30,00. ISBN 978-0-8028-2721-0.

Rezensent:

Ulrich Luz

Hermeneutik ist heute ein umfassender Allerweltsbegriff geworden, der ganz verschieden gefüllt werden kann. Es gibt ganz unterschiedliche Typen von Hermeneutiken, auch von biblischen Hermeneutiken. Eine biblische Hermeneutik kann ihren Schwerpunkt z. B. in einer Aufarbeitung der Geschichte des Bibelverständnisses haben (z. B. Stuhlmacher, Jeanrond); sie kann zentral theologische Auslegung des Neuen Testaments sein (z. B. Weder); sie kann ihr Zentrum in der philosophischen Reflexion haben (z. B. A. Thiselton) oder sie kann eine philosophische, sprachtheoretische oder literaturwissenschaftliche Metareflexion der Methoden der Textauslegung sein (so z. B. O. Wischmeyer). Die von Petr Pokorn ý vorgelegte Hermeneutik, eine Übersetzung von Teilen eines 2005 unter dem Titel »Hermeneutika jako teorie porozumĕni« in Prag erschienenen tschechischen Buches, gehört zu diesem letzteren Typ. Sie liegt damit nahe beim ursprünglichen Typ der Hermeneutik, wie er in der Aufklärung dominierte. In der Tradition der Aufklärung hält P. fest: »There is essentially only one hermeneutics (hermeneutica generalis)«; seine eigene biblische Hermeneutik ist »something like ›regional hermeneutics‹« (8). Sie beschreibt die einzelnen Methoden der Auslegung und ordnet sie in größere Zusammenhänge ein, ohne im engeren Sinn des Wortes ein Methodenbuch zu sein. Sie dient der Metareflexion der Exegetinnen und Exegeten über das, was sie tun. Geschrieben wurde sie in erster Linie für Studenten, kann aber auch für Fachkollegen manche Anregung bieten.
Das Buch umfasst vier Hauptteile. Ein erster Hauptteil, »The World of Language« (7–66), bringt sprachtheoretische Überlegungen. Ein Text ist »communication expressed in language« (7). Darum sind Überlegungen zur »Welt der Sprache« von fundamentaler Bedeutung. Alle Wirklichkeit ist interpretierte Wirklichkeit: »As soon as we start talking ›about something‹, then what we say is an interpretation« (9). Sprache ist ein Netz, welches Erfahrungen generalisiert und zugleich kommunikabel macht. Das Verhältnis von langue und parole bestimmt P. im Anschluss an Paul Ricœur, dem seine Hermeneutik viel verdankt, in Analogie zum Verhältnis von Unbewusstem und Bewusstem. Die Interpretation eines fixierten Textes ist ein Versuch »to express what the text is concerned with, with the help of signs and structures different from those used in the text itself« (17). Diese Definition macht verständlich, warum für P. der Vorgang des Übersetzens von fundamentaler hermeneutischer Bedeutung ist. Interpretation ist immer – im weites­ten Sinn des Wortes – Übersetzung. Besonders wichtig ist ihm dies bei der Interpretation von Metaphern, die für ihn, wie für Ricœur, in biblischen Texten eine fundamentale Bedeutung haben (42–67). Die Interpretation muss die Metapher ersetzen. Mythen versteht P. als ausgearbeitete Metaphern, Metaphern als ›säkularisierte‹ Mythen (vgl. 59). Wichtig ist ihm aufgrund seiner Definition von Interpretation auch, wie er oft betont, die Paraphrase als erster Übersetzungsversuch eines Textes in andere Strukturen mit anderen Zeichen (z. B. 69.162)
Der zweite Hauptteil beschäftigt sich mit dem Text (67–122). Ein schriftlicher Text ist fixiert und kann darum nicht in direktem Sinn zum Dialogpartner werden (71); er kann, wie schon Plato wuss­te, nicht »antworten«. Aber diese Schwäche wird dadurch ausgeglichen, dass er interpretiert werden kann, »so that indirectly, with an interpretational loop, its real pragmatics may be found« (71). Die pragmatische Dimension von Texten, d. h. ihre Wirkungsabsicht, ist für P. außerordentlich wichtig. »A good interpretation of a text is one that is able to determine, express and evaluate its pragmatics« (98; vgl. 179). In diesem Zusammenhang ist es durchaus sinnvoll, nach der Wirkungsabsicht, die ein Autor mit seinem Text verband, zu fragen. Die Offenheit von Texten ist immer eine begrenzte: Keine Interpretation kann das Ganze des Sinnpotentials eines Textes erfassen, aber auf der anderen Seite gibt es »illegiti-mate possibilities of meaning« (106); Offenheit ist nicht gleich »in­determinacy« (185). Auch die Wirkungsgeschichte, welche Interpretationsmöglichkeiten dokumentiert, »is subject to its checking […] by the analysis of the interpreted text and its function« (104).
Der dritte Hauptteil (123–176) steckt den Horizont einer Methodenlehre ab. Synchrone und diachrone Methoden (von P. »übergreifende« – »cross-cutting methods« genannt, weil sie immer auch ein synchrones Moment einschließen) ergänzen sich. Bemerkenswert ist das Gewicht, das P. auf die Philologie legt, die heute »un­derevaluat­ed« sei (132). Der Schlussteil über »Interpetation« (177–199) bietet Synthesen: Interpretation ist eine Begegnung zweier verschiedener Welten, deren Norm der Text ist (179), nicht einfach eine Differenzen verwischende Horizontverschmelzung. Der gemeinsame Nenner zwischen beiden Welten ist »our humanity« bzw. sind gewisse anthropologische Universalien, die wir mit allen Mitmenschen teilen (182).
Das Buch enthält zahlreiche knappe und wertvolle Exkurse, u. a. über Semiologie, Phänomenologie und Hermeneutik, Erfahrung, Augustins Überlegungen zur Erinnerung, Intertextualität, den hermeneutischen Zirkel etc. Manche Ausführungen, besonders im dritten Hauptteil, sind durch Kurzexegesen neutestamentlicher Texte illustriert. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit anderen Positionen ist dagegen im Rahmen dieses knappen Buches nicht möglich. Die Stärke dieses gut verständlichen und sehr abgewogenen Bu­ches liegt in seinen präzisen Formulierungen. Kernsätze sind dankenswerterweise durch Fettdruck hervorgehoben – eine druck­technische Innovation, die Nachahmung verdient. Alles in allem: ein schönes Buch, dem ich viele Leserinnen und Leser wünsche.