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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1061–1064

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Engberg-Pedersen, Troels

Titel/Untertitel:

Cosmology and Self in the Apos­-tle Paul. The Material Spirit.

Verlag:

Oxford/New York: Oxford University Press 2010. XV, 287 S. 23,4 x 15,6 cm. Geb. £ 75,00. ISBN 978-0-19-955856-8.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Wer Zugang zu diesem Buch von Troels Engberg-Pedersen finden will und nicht schon mit dessen früheren Arbeiten zu Paulus vertraut ist (vgl. vor allem Paul and the Stoics, Edinburgh 2000; ders. [Hrsg.], Paul Beyond the Judaism/Hellenism Divide, Louisville 2001), der sollte zunächst sorgfältig die Introduction lesen (1–7). Denn es handelt sich hier im Vergleich zu den vorwiegend theologischen Paulus-Interpretationen der herkömmlichen Exegese um einen durchaus ungewöhnlichen Interpretationsansatz. E.-P. nennt ihn philosophical exegesis (2) und meint damit einen zweifachen Zu­gang zu den Paulus-Texten:
Zum einen stellt er die paulinischen Argumentationen in den Zusammenhang antiker philosophischer Traditionen, insbesondere solcher der Stoa, zum andern möchte er aber Paulus auch mit den Mitteln gegenwärtiger Philosophie analysieren und verstehen und bezieht sich dabei vor allem auf Pierre Bourdieu und Michel Foucault. Dabei bemüht er sich, Einseitigkeiten zu vermeiden. Weder spielt er seine philosophische Exegese gegen ein theologisches Verständnis des Paulus aus, noch möchte er eine pagane Paulus-Interpretation gegenüber einem jüdischen Paulus in Stellung bringen. Das macht seinen Ansatz anregend nicht nur für die neutestamentliche Paulus-Forschung, sondern auch für eine gegenwartsbezogene Auseinandersetzung mit dem Denken des Paulus. Insofern kann man das Buch von E.-P. auch in die Reihe neuerer Paulus-Bücher stellen, die den Apostel unter die Philosophen rechnen.
In der philosophiegeschichtlichen Einordnung bleibt E.-P. im Wesentlichen bei seiner schon früher entfalteten Sicht, wonach Paulus primär von stoischen Positionen bestimmt sei, obwohl sich in jüngerer Zeit Stimmen mehren, die auch Bezüge zum Mittelplatonismus herausstellen (G. van Kooten, V. Rabens, E. Wassermann). Sein Hauptargument, das in seiner philosophiegeschichtlichen Le­seweise des Paulus insgesamt eine entscheidende Rolle spielt, ist ein materielles Verständnis des Pneuma, das Paulus durchgängig vertreten habe. Diese Position begründet E.-P. ausführlich in den ersten beiden Kapiteln des vorliegenden Buches ( A Stoic Understand­ing of the Pneuma and Resurrection in 1 Corinthians 15, 8–38; The Bodily Pneuma in Paul, 39–74). Hier versucht er anhand der Pneuma-Vorstellungen in 1Kor 15, Phil 3, 2Kor 4 f., Röm 8 und Gal 3 f. zu zeigen, dass Paulus im Unterschied zur Sapientia Salomonis und zu Philon, die beide dem Mittelplatonismus zuneigen, ganz von einem stoischen Weltverständnis her zu verstehen sei. Sein wichtigster Belegtext ist 1Kor 15,35–55. Ohne die jüdisch-apokalyptische Prägung der Argumentation von 1Kor 15 in Abrede zu stellen, will E.-P. hier doch spezifisch stoische Züge der Kosmologie (im Unterschied zu platonischen) entdecken, die sich insbesondere in der Interpretation der σώματα ἐπουράνια (1Kor 15,40) und des σῶμα πνευματικόν (1Kor 15,44) im Sinne der stoischen Vorstellung von den Himmelskörpern als pneumatischen Wesen (28) sowie bei der Interpretation der »Verwandlung« in 1Kor 15,50 ff. im Sinne der Ekpyrosis (34) zeige.
Die beiden folgenden Kapitel (Physics, Cognition, and Superhuman Persons, 75–105; Divine and Human Agency and Freedom, 106–138) beschäftigen sich vertiefend mit der charakteristischen Weltanschauung (world-view) des Paulus. Hier geht es E.-P. vor allem darum zu zeigen, dass bei der paulinischen Verwendung stoischer Begriffe und Vorstellungen ein materielles Verständnis auf der einen Seite und kognitive Funktionen derselben Begriffe auf der anderen Seite sich nicht ausschließen. Aus dieser Überlegung heraus möchte er auch im Blick auf Röm 7 f. eine spezifisch stoische Prägung des Paulus (im Unterschied zu einer platonischen) wahrscheinlich machen, denn nur nach stoischer Sicht sei mit dem Wandel in der Erkenntnis auch ein Wandel im Status der Person verbunden, wie er in der paulinischen Argumentation hier vorausgesetzt ist (79 mit Anm. 7; vgl. dazu aber mit anderem Ergebnis unter Berücksichtigung der platonischen Moralpsychologie E. Wassermann, The Death of the Soul in Romans 7, Tübingen 2008). Der zweite Hauptgedanke dieser beiden Kapitel liegt darin, dass nach paulinischer Weltsicht der Mensch verschiedensten irdischen, überirdischen und unterirdischen Kräften ausgesetzt ist, die personal vorgestellt werden. Damit verbunden ist die Frage nach der menschlichen Freiheit in der Sicht des Paulus, die von E.-P. wiederum mit Rekurs auf die stoische Ethik (Epiktet) beantwortet wird. Der Vergleich zwischen Epiktet und Paulus ergibt bemerkenswerte Parallelen in der Grundstruktur ihrer Ethik: Beide streben an, durch Selbstreflexion und Ausrichtung am Willen Gottes zur Erneuerung des Menschen zu gelangen. Freilich bleibt der Weg zu solch einem erneuerten Selbstverständnis ebenso wie das ihm zugrunde liegende Gottesverständnis zwischen beiden grundlegend verschieden. Im Unterschied zum stoischen Verfahren der Erkenntnis Gottes und seines Willens anhand der Strukturen des Kosmos gilt für Paulus: »God’s unpredictability lies behind the idea that the proper knowledge of God can only be acquired through ›revelation‹.« (134)
War für die vorangehenden Kapitel primär ein Forschungsansatz leitend, den man als religions- bzw. philosophiegeschichtlich bezeichnen könnte, so möchte E.-P. in den beiden abschließenden Kapiteln (From the Self to the Shared, 139–171; Bodily Practice, 172–207) die paulinischen Argumentationen selbst als auch heute ernst zu nehmende philosophische Beiträge interpretieren, auch wenn wir deren weltanschauliche Voraussetzungen und Implikationen nicht mehr teilen. Zu diesem Zweck greift er, ausgehend von für Paulus zentralen Themen wie der Reflexion seiner Berufungserfahrung, der Beschreibung der (mentalen wie physischen) Identität der Christen und der ethischen Ermahnung der Briefadressaten, Konzeptionen der neueren philosophischen Diskussion von der religiösen Erfahrung, vom Selbst und vom Habitus auf. Die heran gezogenen philosophischen Konzeptionen der Gegenwart (ins­-besondere Bourdieus Verständnis vom Habitus und Foucaults Verständnis vom Selbst) sollen helfen, die Vorbehalte moderner Philosophie gegenüber den weltanschaulich bedingten paulinischen Kategorien von religiöser Erfahrung und religiösem Selbstverständnis zu überwinden.
Die Auswahl Bourdieus hängt wohl auch mit der Vorliebe von E.-P. für das Leibliche zusammen. Denn bei Bourdieu ist der Habitus eine soziologische Kategorie, die an den menschlichen Körper und seine Wahrnehmungen gebunden ist und den Einzelnen im­mer als Glied einer Gruppe in Betracht zieht, die bestimmte Überzeugungen und Verhaltensweisen teilt bzw. in der sich Wandlungsprozesse in der Beurteilung solcher Werte vollziehen (141 f.). Diese Merkmale findet E.-P. auch bei Paulus wieder: Er selbst und seine Adressaten werden in ihrer Gruppenzugehörigkeit als Juden, Nichtjuden oder etwas Drittes (z. B. Glieder am Leib Christi) thematisiert. Die Vorstellungen vom Geist oder die Mahnungen zum Verhalten der Christen sind stark auf leibliche Gegebenheiten bezogen. Und auch die Intention des Paulus, den neuen Status der Christen aufgrund ihrer Konversion bzw. Taufe herauszustellen und abzusichern, lässt sich von der Analyse des Habitus im Sinne Bourdieus her erfassen.
Auch an Foucault (den er im Wesentlichen nach seiner Rezeption durch den britischen Soziologen Nikolas Rose heranzieht) interessiert E.-P. besonders die Bezogenheit der Selbstkonzepte und ihrer Wandlungen auf Leibliches (145–147). Solche Selbstkonzepte sind überaus heterogen und existieren nicht abstrakt kultur- oder zeitübergreifend, sondern werden jeweils in institutionalisierten Praktiken generiert, mit Hilfe derer Individuen ihr eigenes Selbst konstruieren (diesen Prozess nennt E.-P. subjectification). Bei der Herausbildung solcher Selbstkonzepte und der Befolgung der mit ihnen verbundenen Verhaltensregeln spielt der Rekurs auf (bisweilen ganz unterschiedliche) Autoritäten eine wichtige Rolle. Von ihnen her beziehen die Selbstdisziplinierungsmaßnahmen (self-disciplinary technologies, 146) ihre Macht, die für eine erfolgreiche Konstruktion des Selbst erforderlich sind. Wieder findet E.-P. Analogien bei Paulus zu diesen Merkmalen des Foucaultschen »Selbst«-Verständnisses: Natürlich bieten die Paränesen ein gutes Beispiel für den Rekurs auf (verschiedene!) Autoritäten, wenngleich der Befund dadurch verkompliziert wird, dass Paulus sich einerseits den Adressaten gegenüber selbst als Autorität darstellt und doch andererseits auf die Autorität Gottes verweist, der er sich zusammen mit den Adressaten unterstellt. Gerade diese Dreierbeziehung zwischen Gott, Paulus und den Briefadressaten ist ein wichtiges Kennzeichen der paulinischen Argumentationen.
Die Durchführung der philosophischen Interpretationen an den paulinischen Textzusammenhängen (bes. Phil 3,4–4,1; Gal 1 f.; 5 f.; Röm 7,7–8,13, im Blick auf die bodily practice auch 2Kor 1–7) kann hier nicht mehr referiert werden. Es überrascht nicht, wenn E.-P. in diesen Textanalysen seinen Interpretationsansatz konsequent auf die paulinischen Ausführungen bezieht und dabei auch seine in den vorangehenden Studien erarbeiteten philosophiegeschichtlichen Einordnungen erneut zur Geltung bringt (insbesondere das stoische, durchgehend materiell gedachte Pneuma-Verständnis). Dass er damit gegenüber der gegenwärtig weithin vertretenen Paulus-Exegese einen Sonderweg geht, ist ihm wohlbewusst (vgl. nur die Bemerkung zu seiner Interpretation von Röm 8,5 f.: »I can imagine that this reading will be roundly rejected by scholars. I can only reply that I have a strong sense that exactly here we are extremely close to Paul’s own understanding of what is going on in this text. If he were present, he would have nodded.« [168]).
Dass E.-P. die Fülle der aktuellen und älteren Forschungslite­ratur zur Paulus-Exegese nur in enger Auswahl heranzieht und nicht in extenso diskutiert, wird man ihm nicht vorwerfen wollen. Im Gegenteil: Es trägt zur Lesbarkeit seiner eigenen Analysen nicht wenig bei und führt dazu, dass wir endlich wieder einmal ein relativ kurzes und dennoch umfassendes Paulus-Buch vor uns haben! Auch die heute kaum noch übliche Praxis der end notes (208–253, danach folgen noch Bibliographie und Register) habe ich im Interesse der Erfassung von E.-P.s Interpretationsansatz gern in Kauf genommen (wer will, findet in den Anmerkungen ausführliche Einzelbegründungen und bibliographische Nachweise). Forschungsgeschichtliche und spezialexegetische Materialschlachten zu Paulus gibt es derzeit genug. Hier liegt ein wirklich origineller und durchaus über die Grenzen der neutestamentlichen Exegese hinaus attraktiver Interpretationsansatz zur paulinischen Theologie vor, der zu vertiefter Auseinandersetzung reizt.
Strittig bleiben werden sicher bestimmte Einseitigkeiten bei der philosophiegeschichtlichen Einordung des Paulus – aber vielleicht ist ja auch E.-P. irgendwann einmal bereit, das »Stoicism/Platonism divide« zu überwinden. Darüber hinaus wird man aber auch über seine Interpretation des paulinischen Pneuma-Verständnisses weiter diskutieren können (vgl. dazu jüngst V. Rabens, The Holy Spirit and Ethics in Paul: Transformation and Empowering for Religious-Ethical Life, Tübingen 2010; H. Scherer, Geistreiche Argumente. Das Pneuma-Konzept des Paulus im Kontext seiner Briefe, Münster 2011). Solche Diskussionen wieder angeregt und auf eine neue Basis ge­stellt zu haben, bleibt E.-P.s Verdienst. Dass Paulus heute wieder zum Thema und geistigen Anstoß für Zeitgenossen weit über die engen Grenzen theologisch-exegetischer Fachwissenschaft hinaus geworden ist, wird man jedenfalls vorbehaltlos begrüßen.