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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1060–1061

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Dietzfelbinger, Christian

Titel/Untertitel:

Der Sohn. Skizzen zur Christologie und Anthropologie des Paulus.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2011. XIII, 353 S. 20,5 x 12,5 cm = Biblisch-Theolo­gische Studien, 118. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-7887-2509-9.

Rezensent:

Petr Pokorný

In der Einleitung erwähnt Christan Dietzfelbinger zunächst die Tendenz der Theologie des 19. Jh.s, in Paulus den zweiten Begründer des Christentums zu sehen, und betont, dass »Christus als der Sohn (Gottes)« das Zentrum paulinischer Theologie ist. Paulus hat Christi Kreuz als Heil verkündigt. In dieser Hinsicht ist D. von Rudolf Bultmann inspiriert. Er geht allerdings methodisch weiter: Anders als Bultmann demonstriert er, wie Paulus seine Rechtfertigungslehre entfaltet, »indem er die Person und den Weg Jesu in der Welt bedenkt und nachzeichnet«. Im Unterschied zu den früheren Deutungen der Rechtfertigungslehre setzt sich D. mit der »New Perspective« aus dem letzten Viertel des 20. Jh.s auseinander, die Paulus als Vertreter eines im Rahmen des damaligen Judentums durchaus annehmbaren »Bundesnomismus« verstanden hat.
Das Damaskuserlebnis wird im ersten Teil (»Voraussetzungen«) als Folge, eigentlich noch als Teil von Ostern betrachtet, das schon vor Paulus die Verkündigung Jesu als des Messias hervorgerufen habe (die christologischen Hoheitstitel, Deutung der Passion Jesu als Heilsereignis). Paulus erfuhr dabei, dass der unter dem Fluch der Tora stehende Gekreuzigte die Offenbarung Gottes und der Sohn Gottes (im hebräischen Sinn: sein vollmächtiger Vertreter in der Welt) ist. Das bedeutete für ihn eine Relativierung der Tora, die an einige alte Traditionen über Jesus anknüpfen konnte. Aufbewahrt wurden sie wahrscheinlich von der Stephanusgruppe – An­hänger Jesu, die zum Griechisch sprechenden Teil der jüdischen Bevölkerung Jerusalems (den »Hellenisten«) gehörten.
Für Paulus begann mit seiner Bekehrung das Leben »in Chris­tus«, das er als wirkliche Neuschöpfung Gottes erlebt hat. Er hat erkannt, dass die Tora dem Missbrauch durch die Sünde ausgesetzt ist (siehe Röm 7,7–13: Verbot erweckt das Begehren). Positiv kann das Gesetz (nomos) zur Erkenntnis der Sünde führen und eventuell Zeuge, aber nicht Mittler der Gerechtigkeit sein.
Im Hauptteil (»Der Weg des Sohnes in die Welt«) wird die Rolle Jesu als des Sohnes Gottes aufgrund von Gal 4,1–7 dargestellt. Die Menschen, die unter dem Gesetz stehen, können ihre Beziehung zu Gott nicht frei erleben. Weil er in ungebrochener Einheit mit Gott als dem Vater lebt, ist Jesus der wahre Sohn. Im Gehorsam dem Vater gegenüber geriet er in einen tödlichen Konflikt mit den entfremdeten Menschen und Mächten. Jesus starb infolge der Sünde der Menschen, was paradoxerweise der Weg zu seiner Erhöhung (Phil 2) war. Diese seine Unterschiedenheit von den Menschen hat er laut Paulus benutzt, um ihnen zu helfen: Sein Tod als ein dem Gesetz nach Verfluchter, der an dem Holz des Kreuzes hängt (Dtn 21,22 f.), offenbart im Licht der Auferweckung, dass das Gesetz nicht das letzte Wort hat und dass die Menschen, die mit ihm durch den Glauben in der Taufe sterben, auch mit ihm vom Fluch des Gesetzes befreit sind. Die vielen positiven Deutungen des Todes Jesu, die bald nach Ostern entstanden, deuten seinen Tod als Vollendung, nicht als Ende seines Werkes, und wurden mit der Verkündigung seiner Auferweckung verbunden. In der Auferweckung war dieselbe schöpferische Macht Gottes am Werk wie bei der Erschaffung der Welt. Das ist nach D. die paulinische Deutung von Ostern, die Paulus in seinem Damaskuserlebnis selbst erfuhr. Die Tradition über das leere Grab, falls er sie überhaupt gekannt hat, brauchte er nicht für seine Argumentation.
Der letzte Teil (»Die Konsequenzen«) untersucht die paulinische Sicht der Wirkung Jesu, die von seinem Tod abgeleitet ist. Paulus hat die älteren christlichen Interpretationen des Todes Jesu (das göttliche Muss, das Leiden des Gerechten, Loskauf, der Sieg über die Mächte des Todes, Sühne und Stellvertretung) übernommen und interpretiert. Beides muss D. betonen. Anfangs wehrt er sich gegen die Annahme, dass Paulus der zweite Begründer des Christentums sei, in diesem Abschnitt betont er seine kreative und existentielle Neuinterpretation des urchristlichen Erbes. Er befasst sich am meisten mit den Texten über die Sühne, z. B. Röm 3,24–26, die aus dem judenchristlichen Milieu stammen und doch die Traditionen über die Sühne provokativ auf den unter dem Fluch stehenden (Dtn 21,22 f.) und zur Sünde gewordenen (2Kor 5,21) Jesus beziehen, um seinen Tod positiv zu deuten. D. harmonisiert diese Traditionen nicht, er versucht allerdings, von der Auferstehung her ihr gemeinsames Anliegen zu finden: Sie bezeugen die Erfahrung mit Gott, der die Gottlosen (Verfluchten) rechtfertigt und die Toten lebendig macht. Die Welt ist seitdem der Raum, in dem sich der alte und der neue Äon verschränken, wobei Jesus den neuen Adam repräsentiert. Die Freiheit des neuen Menschen ist nicht durch stoische Distanz zur Welt oder durch ihre asketische Ablehnung, sondern durch die Bindung an Jesus bedingt. Die Ethik der neuen Menschen, die mit Christus verbunden sind, gründet in der Tatsache, dass Christus sich den anderen Menschen verpflichtet sah.
Diese kurze Zusammenfassung hat hoffentlich gezeigt, dass der Theologieprofessor mit langer pastoraler Erfahrung ein gedräng-tes Bild der paulinischen Theologie vorlegt. Eine Vorarbeit (»Sohn und Gesetz«) hat er schon 1991 (FS F. Hahn) veröffentlicht. 2001 (2. Aufl. 2004) hat er auch einen umfassenden Kommentar zum Johannesevangelium publiziert, so dass er in relativ kurzer Zeit zwei Grundpfeiler des christlich-theologischen Denkens untersucht hat. Außer den johanneischen Schriften sind nämlich die an­deren kanonischen Texte (einschließlich der Synoptiker) mit Paulus direkt oder indirekt, durch positive Aufnahme oder polemische Abgrenzung, verbunden. Man darf sagen, dass D.s Entwurf der Anfänge christlicher Theologie als Grundlage weiterer Forschung und Diskussion tragfähig ist. Wenn ich jetzt als Rezensent einige Fragen und Einwände äußere, tue ich es unter diesem Vorzeichen.
Das entscheidende Argument gegen die Hypothese von Paulus als dem eigentlichen Begründer des Christentums würde ich eher in seiner Treue sehen, mit der er seine ganze Theologie als Deutung des mündlichen Evangeliums über die Auferstehung Jesu konzipiert hat, nicht nur in der Vergabe des Hoheitstitels »Sohn Gottes«.
Nach D. zeichnet Paulus in seiner Rechtfertigungslehre die Person und das Leben Jesu in der Welt nach. In diesem Zusammenhang muss allerdings die seltsame Distanz des Apostels zu den Traditionen Jesu erwähnt und erklärt werden. Die entscheidende Bewegung Jesu ist für Paulus sein Herabkommen vom Himmel in die sündige Welt. Aus dem Leben des irdischen Jesus ist für ihn nur das Kreuz bedeutend. Die Deutung dieses rätselhaften Befundes kann zur besseren Erkenntnis des paulinischen Denkens dienen.
Das alles, ähnlich wie die Nichtbeachtung einiger auf Englisch geschriebener Titel (Beker, Watson, Dunn) und das Fehlen eines Re­gisters, kann die Bedeutung der vorliegenden Monographie nicht mindern.