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Ausgabe:

Oktober/2012

Spalte:

1048–1050

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Barbiero, Gianni

Titel/Untertitel:

Song of Songs. A Close Reading. Transl. by M. Tait.

Verlag:

Leiden/Boston: Brill 2011. XVII, 542 S. 24,0 x 15,6 cm = Supplements to Vetus Testamentum, 144. Geb. EUR 155,00. ISBN 978-90-04-20325-9.

Rezensent:

Rüdiger Bartelmus

Das Buch bietet im Prinzip die Übersetzung eines bereits sieben Jahre früher in der Reihe »I libri Biblici – Primo Testamento« er­schienenen italienischen Hld-Kommentars von Gianni Barbiero ins Englische. Wie der Vf. das Hld deutet, ist somit hinreichend bekannt. (Ursprünglicher Titel: »Cantico dei Cantici, nuova versione, introduzione e commento«, Milano 2004.)
Im Rahmen der Vorbereitung der Übersetzung nahm der Vf. allerdings – bedingt durch die Verlagsrichtlinien für die Reihe VT.S und mit Rücksicht auf die anvisierte, wissenschaftlich orientierte Leserschaft – Korrekturen am Original vor: »The work has now a less confessional character and is more narrowly exegetical« (XI). Konkret seien Einleitung und Schluss des ganzen Buchs sowie die abschließenden Bemerkungen zu den einzelnen Kapiteln neu formuliert worden; demgegenüber seien die exegetischen Passagen im Wesentlichen unverändert geblieben.
Mag der Vf. auf diesem Weg auch den Herausgebern der Reihe bzw. dem Verlag formal entgegengekommen sein, der fromme Charakter des ursprünglichen Werks – in der italienischen Fassung wird das Hld im Werbetext auf dem Schutzumschlag als »libro ispirato« vorgestellt! – musste bei dieser Verfahrensweise zwangsläufig erhalten bleiben. Denn sofern Exegese nicht als art pour l’art be­trieben wird bzw. als bloßes »Feigenblatt« für von systematisch-theologischen Interessen bestimmte Aussagen herhalten soll, dienen exegetische Wahrnehmungen bzw. Entscheidungen nun einmal dazu, die inhaltliche Interpretation argumentativ zu begründen, ja im Idealfall stringent vorzubereiten: Auf der Basis unveränderter Exegesen essentiell neue Schlussfolgerungen anzubieten, wäre von daher einer wissenschaftlichen Bankrotterklärung gleichgekommen, und eine solche lag wohl kaum in der Intention des Vf.s. Das Buch kann somit als eine 2., leicht veränderte und gekürzte Auflage des italienischen Originals eingestuft werden: Weggefallen sind die in der ursprünglichen Version vorfindlichen, aus dem Kommentar von O. Keel übernommenen Illustrationen, weggefallen ist außerdem das für den nunmehr anvisierten Leserkreis entbehrliche »Lessico simbolico e biblio-teologico«. Verändert ist aber auch die Gliederung: War die italienische Fassung einer nachvollziehbaren Logik folgend in zwei große Teile aufgeteilt – Parte prima um­fasste dabei die kurze sezione introduttiva, Parte seconda alle weiteren Teilkapitel, die unter den Generaltitel Traduzione e commento gestellt und ihrerseits wieder untergliedert waren –, sind unter »Contents« nunmehr – neben Preface, List of Abbreviations, Bibliography und Indexes – elf formal gleichwertig wirkende Kapitel ausgewiesen. Gründe für diese wenig glückliche Änderung herauszufinden, war dem Rezensenten nicht gegeben: Aus seiner Sicht steht das nicht einmal zwei Seiten umfassende »Chapter Two Title (Song 1:1)« jetzt freilich wie verloren zwischen dem gewichtigen »Chapter One Introduction« (1–44) und dem »Chapter Three Prologue«, das Hld 1:2–2:7 behandelt (47–95). Mag der Hinweis auf dieses Detail auch als kleinliche Beckmesserei empfunden werden – er steht in Zusammenhang mit einer durch die neue Anordnung geschaffenen echten Verschlimmbesserung: Gliederungen haben die Funktion, dem Leser eine erste Orientierung zu geben. Ausgesprochen ungeschickt wirkt es von daher, dass die im italienischen Original aus der Gliederung ersichtliche Aufteilung des Hld in zwei von einem Prolog und einem Epilog gerahmte Teile – eine zentrale These des Vf.s (vgl. 20) – jetzt weder im Inhaltsverzeichnis noch in den Kapitelüberschriften ausgewiesen ist.
Was der Vf. dem Leser bietet, ist ein holistischer, konservativer – von festen Überzeugungen in Bezug auf die Bibel als Heilige Schrift geprägter – Blick auf das Hohelied, als dessen geistigen Hintergrund man so etwas wie eine neuere exegetische Erkenntnisse einbeziehende, aktualisierte Version der Lehre vom vierfachen Schriftsinn vermuten möchte: Eine strikt allegorische Lesung des Buchs wird abgelehnt und in Kontrast dazu dafür plädiert, den Literalsinn ernst zu nehmen. Unbeschadet dessen entdeckt der Vf. dann aber doch eine geistliche bzw. »metaphorical« Dimension neben oder über dem Wortlaut – als Katholik kann oder will er sich nicht außerhalb der Tradition der geistlichen Schriftlesung begeben: »I believe that love, as it is presented in the song, is open to a dimension that is super­-nat­ural, even theological. However, this dimension is not something external to love, as is the case in the allegorical interpretation, but of its very essence« (XI bzw. 507). Dieses Textverständnis ergibt sich s. E. geradezu zwingend, wenn man das Hld als in sich geschlossenes lyrisches Werk mit einer klaren Struktur und einem ebensolchen »ideological programme« versteht (ebd.; wiederholt in Kapitel 11) und zudem berücksichtigt, dass »both the Hebrew and the Christian tradition place the Song among the sapiential books« (4).
Mag man auch bereit sein, sich einmal mehr mit den ewig gleichen, aber wenig überzeugenden Argumenten für eine ganzheitliche Lesung des Hld auseinanderzusetzen (vgl. die Ausführungen des Rezensenten zum Hld-Kommentar von Cheryl Exum in ThLZ 131 [2006], 1271–1272) – bei dem Stichwort »ideological programme« reibt man sich verwundert die Augen (wo verbirgt sich ein ideo­logisches Programm, wenn die Zuneigung zu Personen des anderen Ge­schlechts bzw. Freude am Sex in lyrischer Form artikuliert wird?), und spätestens angesichts des oben zitierten letzten Satzes ist der Leser nachhaltig irritiert: In seiner Pauschalität ist er nämlich schlicht falsch! Die Positionierung des Hld innerhalb der Ketubim bzw. der Megillot ist ja (wie der Vf. kurz vorher selbst beschrieben hat) in keiner Weise eindeutig festgelegt (vgl. nur BHS mit LXX!). Überdies ist die in einigen Bibelausgaben im Anschluss an die LXX vorgenommene Anordnung Sprüche-Prediger-Hld sicher nicht durch eine inhaltliche Verwandtschaft dieser Bücher be­dingt; sie ist vielmehr der sekundären Zuweisung dieser Bücher an Salomo zu verdanken. Der soll zwar viele Weisheitssprüche verfasst und viele Frauen geliebt haben, wie u. a. in 2Kön berichtet wird. Aber weder hat das eine etwas mit dem anderen zu tun (bezeichnenderweise enthält das Spruchbuch viele Warnungen vor extensiven Sexualkontakten), noch kann die Argumentation auf der Schiene der Intertextualität überzeugen: Wer die sexuellen Reize seiner Geliebten beschreibt, reflektiert nicht parallel dazu über Salomo bzw. dessen Weisheit. Assoziationen dieser Art haben ihren Ort in der Rezeptions- bzw. Kirchengeschichte, als Basis exegetischer Ar­gumentation sind sie fehl am Platz. Insofern ist es mehr als problematisch, wenn der Vf. im Zusammenhang mit dem oben zitierten falschen Statement hervorhebt, dass der (angebliche) weisheitliche Hintergrund im Rahmen der Interpretation des Hld zu beachten sei.
Dass derzeit die holistische Lektüre biblischer Bücher von einer Mehrheit der Autoren favorisiert wird, ja dass vielerorts nicht einmal mehr die Buchgrenzen ernst genommen werden und Einträge aus einem (pseudo-)canonical approach – verbrämt als Intertextualität – ernsthafte Arbeit an den Texten ersetzen (belastbare inhaltliche Indizien für den behaupteten weisheitlichen Hintergrund des Hld weiß auch der Vf. nicht zu benennen!), ist nicht zu übersehen. Indes: Eine Meinung wird dadurch nicht richtiger, dass sie ständig bzw. von vielen wiederholt wird.