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Ausgabe:

Januar/1999

Spalte:

17–20

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Lohse, Bernhard

Titel/Untertitel:

Evangelium in der Geschichte. 2: Studien zur Theologie der Kirchenväter und zu ihrer Rezeption in der Reformation. Aus Anlaß des 70. Geburtstages des Autors hrsg. von G. Borger, C. Dahlgrün, O. H. Pesch u. M. Wriedt.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 315 S., 1 Porträt gr.8. Kart. DM 68,-. ISBN 3-525-58166-1.

Rezensent:

Joachim Rogge

Vor einem liegt nicht einfach ein Buch. Es ist ein Vermächtnis. Kurz vor Vollendung seines 69. Lebensjahres ist Bernhard Lohse am 29. März 1997 gestorben. Das war für die Reformationsgeschichtsforschung ein herber Verlust, gewiß auch literarisch, obwohl es Lohse vergönnt war, die weitverzweigte Summe seiner Arbeiten zur Theologie der Kirchenväter, des Mittelalters und vor allem der Reformation des 16. Jh.s der Nachwelt zugänglich zu machen. Sein opus magnum, "Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung in ihrem systematischen Zusammenhang", war 1995 erschienen, 1980 bereits in erster Auflage "Martin Luther. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk". Das war ein Buch, das "eine gewisse Übersicht über wichtige Probleme und Aspekte der Lutherforschung" geben, "zum anderen zur eigenen Beschäftigung mit Luther" hinführen "und für die Weiterarbeit Anregungen ... vermitteln" wollte (a. a. O., Vorwort).

Nun haben Freunde, Kollegen, Schüler zum zweiten Mal, gewissermaßen zur Ergänzung und Vertiefung der größeren Werke, Aufsätze und Vorträge Bernhard Lohses, die schon an anderer Stelle erschienen - aber eher ’versteckt’ publiziert (9) - waren, zusammengetragen, exakt 10 Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes mit dem Titel "Evangelium in der Geschichte". (Rez. in: ThLZ 114, 1989, 503-505) Damals war der Band mit "Studien zu Luther und der Reformation" zum 60. Geburtstag des Autors gefüllt.

Die jetzt anzuzeigende Veröffentlichung trägt den weiteren Forschungsgebieten Lohses Rechnung. Wenn er ein ertragreiches Leben lang nach Luthers Lebenswerk fragte, war für ihn damit immer - wie für den Reformator selbst - das weite Feld der "Theologie der Kirchenväter" verbunden, deren Kenntnis und Verständnis zur sachgemäßen Aufnahme und Kritik in der Reformationsforschung unerläßlich ist. Lohse, in der internationalen Arbeit an Luther genauso zu Hause wie in seiner jahrzehntelangen Wirkungsstätte Hamburg, geht für seine Analysen weit zurück und untersucht die Tradition von Meliton von Sardes (53-62) über Athanasius (191-212) bis zu Bernhard von Clairvaux (255-284). "Wer ihn näher kennt, wußte, daß er sich vor allem beim Studium Augustins geradezu von Luther erholte" (9). Die jetzt leicht zugänglichen 15 Aufsätze zeugen davon.

Die Hrsg. haben die erneut abgedruckten Studien, deren Ersterscheinungsort - wie schon im ersten Band - übersichtlich kenntlich gemacht wird (295 f.), sachlich und chronologisch untergliedert. Die Vortrags- bzw. Ersterscheinungsdaten liegen zwischen 1958 und 1998. "In memoriam Bernhard Lohse(s)" (285-293) zeichnet Markus Wriedt ebenso sachlich wie liebevoll ein Bild des kirchengeschichtlichen Meisters, das Themen und Wirkungsorte ebenso bekannt gibt wie die Spannweite der literarisch und mündlich geführten Gespräche in Ost wie West, nicht zuletzt auch in Übersee, und zwar mit katholischen Fachkollegen wie mit marxistischen Reformationshistorikern. Obwohl in einer Besprechung im allgemeinen unangebracht, kann der Rez. in diesem Falle nicht umhin, über das Grab hinaus dem Verewigten zu danken für jahrzehntelang gewährte Gesprächsbereitschaft im "Theologischen Arbeitskreis für Reformationsgeschichtliche Forschung", der jährlich in einer der Lutherstädte der DDR stattfand. M. Wriedt hat unter diesem Stichwort (293) nur den kleineren Teil der Wirkung und Einwirkung von Lohse berichtet.

Die drei Aufsatzgruppen des Sammelbandes wirken zeichenhaft für die Schwerpunkte eines relativ ungestörten Gelehrtenlebens: I. Grundlegung; II. Alte Kirche und Kirchenväter; III. Reformatorische Rezeption.

Unter den Begriff der "Grundlegung" subsumieren die Hrsg. zwei Beiträge zur evangelischen Dogmengeschichtsschreibung. Zwischen 1974 und 1988 war auch hierzu in 7 Auflagen und mehreren Sprachen ein vielgelesenes Buch über die "Epochen der Dogmengeschichte" erschienen. Im Vorlauf hatte Lohse bereits 1961 in der Patristischen Arbeitsgemeinschaft über das Thema "Was verstehen wir unter Dogmengeschichte innerhalb der evangelischen Theologie?" (15-35) referiert und dabei "nach der Autorität der Dogmen neu" gefragt (33). In einem Festschriftbeitrag für einen katholischen Kollegen (A. Grillmeier) hat er 1985 Teile der Fragestellung selbst beantwortet und über "Theorien der Dogmengeschichte im evangelischen Raum heute" (36-49), also zwischen A. von Harnack und K. Beyschlag, gehandelt. Der Vf. stellt "in den grundsätzlichen Fragen heute eine weitgehende Übereinstimmung zwischen den grossen Konfessionen" (49) fest und sieht auch insofern eine Veränderung, "als die noch bestehenden Differenzen im ökumenischen Geist erörtert werden". Immerhin: Lohse stellt den Dogmen-Begriff in Frage und möchte eher von Bekenntnissen oder Lehrbekenntnissen sprechen (35).

Die zweite Aufsatzgruppe umfaßt die meisten Beiträge und reicht von der Passa-Homilie des Bischofs Meliton von Sardes (gestorben vor 190) bis "Cur Deus Homo" von Anselm von Canterbury (1033-1109). Alle Studien haben als cantus firmus die Frage nach der Wirkungsgeschichte der behandelten Personen und Gegenstände. Meliton stünde, meint Lohse, zu Unrecht im Hintergrund. Er habe in wesentlichen Punkten einem der großen Theologen der Alten Kirche, Irenäus, "vorgearbeitet" (61).

Der nächste Beitrag nimmt das alte Thema der "Kooperation von Kirche und Staat unter Konstantin" auf. Der Vf. zählt eine beträchtliche Menge von Symptomen auf, die das gesellschaftliche Gefüge unter dem Kaiser verändert haben, indem "die Kirche weiter als tragender Pfeiler in das römische Reich eingebaut wurde" (76). "Arius - Der Gottähnliche" gefährdet dadurch, daß er die Gottheit Christi preisgibt (82), das rechte Verständnis von "Erlösung und Heil" (81), woran seinen Gegnern - vor allem Athanasius - hauptsächlich gelegen war. Lohse erkennt allerdings in dem Arius-Problem eine exemplarische Frage, die in keiner Epoche der Kirchengeschichte "ganz verstummt" ist.

An den Paulus-Exegesen des Marius Victorinus will Lohse zeigen, daß durch die lateinischen Kirchenväter in der 2. Hälfte des 4. Jh.s der Heidenapostel wiederentdeckt wurde (83 f.). A. von Harnack nennt ihn einen "Augustinus ante Augustinum" (87). Die Rollenverteilung zwischen "Kaiser und Papst im Donatistenstreit" deutet für Lohse schon im 4. Jh., also sehr früh, die späteren "Beziehungen zwischen Staat und Kirche", ja auch "der Bischöfe zum Papst" in Zusammenhang damit, an (147). Der römische Primatsanspruch wurde gestärkt, "wie andererseits der verstärkte Primat der katholischen Kirche gegen mögliche Eingriffe des Staates zu schützen schien" (148).

Drei Aufsätze sind dem großen Kirchenvater des Abendlandes Augustin gewidmet, dessen Einfluß auf Luthers Frühtheologie Lohse in allen seinen einschlägigen Arbeiten als am nachhaltigsten innerhalb der theologischen Tradition schildert (dazu im Band 1 von "Evangelium in der Geschichte" die Seiten 11-30). Augustins "Engellehre" ist, so stellt Lohse fest, "von großer Bedeutung für die Lehre von der Erlösung" (116). Prädestinationslehre und Angelologie gehören bei Augustin "auf das engste zusammen" und werden auch mit "der himmlischen civitas" in Verbindung gebracht und gehören somit in das Zentrum der Theologie des Kirchenvaters. - Ein weiterer Augustin gewidmeter Beitrag exegesiert eine seiner wirkungskräftigsten Schriften, nämlich "De civitate Dei". Hier wendet sich Lohse speziell der Eschatologie zu. Die "Bezeichnung der Kirche als regnum Christi" soll nach Lohses Arbeitsergebnis "den Blick für die eschatologische Dimension der Kirche" öffnen (135). Dieser Beitrag zur Ekklesiologie gipfelt in dem Satz: "Ausgangspunkt ist also die ecclesia, Zielpunkt ihre Vollendung in der Ewigkeit." Augustins vielverhandelte civita-Lehre schließt, wie in einem weiteren Aufsatz ersichtlich, die "Beurteilung des Staates" ein (149.174). Lohse untersucht die Abhängigkeit von einigen Vor-Denkern, besonders von Ambrosius, dem Mailänder Lehrer.

Die nächste Textinterpretation ist dem mittelalterlichen Klassiker der Satisfaktionstheorie, Anselm von Canterbury, gewidmet, speziell seinem Hauptwerk "Cur Deus Homos" (175). Daran erläutert Lohse Anselms theologische Methode generell. Wie in vielen anderen Fällen auch geht er den vielen unterschiedlichen - teilweise unvereinbaren - Argumenten dazu in der kontemporären Forschungsliteratur nach. Es geht um die Beweisführung für "die Notwendigkeit der Menschwerdung des Gottessohnes allein durch die Vernunft" (sola ratione) (184.188). Die Voraussetzungen dazu entnimmt Anselm "zu einem erheblichen Teil aus der augustinisch-neuplatonischen Tradition". Der "Genuß Gottes", die "Engellehre" und die "civitas-Konzeption" in dem genannten Traditionszusammenhang spielen hier eine ausschlaggebende Rolle.

Die 3. Aufsatzgruppe zur reformatorischen Rezeption hat es wiederum mit der Akzeptanz oder kritischen Aufnahme Augustins und anderer Kirchenväter durch die Reformatoren, speziell durch Luther, zu tun. Augustin war für Luther wichtiger als Athanasius (212). Ein weiteres Resultat des Athanasius gewidmeten Beitrages ist es, daß Lohse die "Theosis"-Vorstellung, die gegenwärtig finnische Theologen bei Luther stark betonen, entschieden relativiert. Augustins Schrift "De Spiritu et Littera" erfährt in der Reformationszeit durch Staupitz, Luther und Karlstadt eine je unterschiedliche Auslegung (230). Gemeinsam war den genannten Interpreten, "daß sie sich je für ihre Theologie auf Augustin beriefen".

Im folgenden Aufsatz wird das traditionelle Begriffspaar "Gesetz und Gnade" als durch die für Luther eindeutigere Formel "Gesetz und Evangelium" abgelöst bzw. ausgelegt gekennzeichnet (231.253). "Der Grund hierfür besteht eindeutig darin, daß diese Formel in den verschiedenen Auseinander setzungen die reformatorische Rechtfertigungslehre scharf zusammenfassen und den Unterschied zur altgläubigen Theologie sowie zu Theologen wie Karlstadt zugespitzt kennzeichnen konnte." [253 f.] - dieser begriffsanalytische Beitrag ist ein Vorabdruck aus einer anderen Veröffentlichung und der vorerst letzte Titel in Lohses Bibliographie.)

Der letzte Aufsatz gilt Bernhard von Clairvaux. Die interessante Einzelargumentation, die hier nicht nachgezeichnet werden kann, stellt die Tendenz in Frage, daß "häufig stärker die Gemeinsamkeit und weniger die Unterschiedlichkeit hervorgehoben" (255) wird, "die zwischen Bernhard und Luther bestanden haben soll". Augustin gebührt nach Luthers Auffassung auch hier die Prärogative (283). Und außerdem: Für beide Väter hat zu gelten, auch wenn der Reformator sie hochgeschätzt hat, daß sie "nur insoweit Gehör verdienen, wie sie auf Christus hinweisen" (283 f.).

Den Dank für das angezeigte Buch, aber weit darüber hinaus für das wissenschaftliche Werk Bernhard Lohses hat M. Wriedt in Worte gekleidet, denen die ökumenische Öffnung abzuspüren ist: "Über die gesamte Zeit seines Forscherlebens lag ihm daran, Luther als Zeugen der evangelischen Wahrheit zu zeichnen, dessen Aussagen auf seine Zeit bezogen zu verstehen sind. Besonderen Wert legte er dabei auf die historisch korrekte Würdigung der von Luther vielfach in polemischer Überzeichnung abgelehnten, freilich auch weiterentwickelten Traditionen der Alten Kirche und des Mittelalters" (285).