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Ausgabe:

März/1996

Spalte:

247–250

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Bastiaens, Jean Charles

Titel/Untertitel:

Interpretaties van Jesaja 53. Een intertextueel onderzoek naar de lijdende Knecht in Jes 53 (MT/LXX) een in Lk 22:14–38, Hand 3:12–26, Hand 4:23–31 en Hand 8:6–40.

Verlag:

Tilburg: Tilburg University Press 1993. XIII, 469 S. gr. 8o = TFT-Studies, 22. Kart. hfl. 65,­. ISBN 90-361-9723-6.

Rezensent:

Ed Noort

Ein Blick auf den EdF-Band von H. Haag, Der Gottesknecht bei Deuterojesaja, Darmstadt 1985, reicht, um zu sehen, daß die Gottesknechtslieder zu der am meisten kommentierten Literatur des Alten Testaments gehören. Es braucht dann wohl einen eigenen Zugang, um dem noch immer anschwellenden Literaturstrom noch etwas Sinnvolles hinzuzufügen. Einen solchen eigenen Zugang hat Jean Charles Bastiaens auf der methodischen Ebene gefunden. Die von ihm 1993 der Katholisch-Theologischen Fakultät Tilburg vorgelegte Dissertation ist Teil eines umfassenderen Forschungsprojektes "Intertextuality and Bible". Die Hauptthese des Programms besagt, daß Struktur, Bedeutung und Funktion ntl. Texte in einem neuen Licht erscheinen, wenn sie als Transformationen atl. Texte verstanden werden. Diese These methodisch umzusetzen und sie an einem zentralen alttestamentlichen Text vorzuführen, ist das Anliegen der Dissertation. Das Programm ist inzwischen ersetzt durch ein Projekt "Text-semantic research on the Bible". In einer forschungsgeschichtlichen Einführung beschreibt B. die Rolle der unterschiedlichen Intertextualitätstheorien in Frankreich, Deutschland, England und den Niederlanden, die mögliche Anwendung in der biblischen Exegese und stellt sein eigenes methodisches Vorgehen im Anschluß an Broich/Pfister und Claes vor. Neu ist die entscheidende Rolle des Kontextes bei der Beschreibung der intertextuellen Beziehungen und bei den Transformationsprozessen. Dieser Aspekt fehlt meistens in den literarhistorisch klassischen Fragestellungen wie Traditions- oder Wirkungsgeschichte. Die Geschichtsdimension spielt bei B. durch das Übergewicht der synchronen Fragestellungen eine untergeordnete Rolle. Die Hauptfrage ist, welche neue Bedeutungen dadurch geschaffen werden, daß der eine Text einen anderen transformiert.

Zuerst wird das vierte Knechtslied, Jes 53, nach dem MT analysiert. Nach einer Übersetzung und deren Verantwortung folgt die Besprechung des Aufbaus anhand formeller und inhaltlicher Gesichtspunkte. Danach wird Jes 53 in seinen sieben Teilen: I 52:13-15 (Gottesrede), II 53:1 (Einleitende Frage), III 53:2-3 (Leben des Knechtes, Reaktion der Wir-Gestalt), IV 53:4-6 (Er-wir, Schuldbekenntnis, Handeln JHWHs), V 53:7-10a (Verfolgung, Tod und Grab des Knechtes, Handeln JHWHs), VI 53:10a-11a (Glaubensbekenntnis: der Knecht und der Heilsplan JHWHs als Antwort auf II, VII 53:11a-12 (Gottesrede), im Rahmen des Kontextes von Jes 40-55 exegesiert. Diesem Schritt folgt eine semantische Analyse mit den drei Teilen: kontextuelle Wortsemantik, Kontraste, und textinterne Dynamik. Im ersten Teil werden Lexeme mit einem gemeinsamen semantischen Element untersucht, z.B Wissen oder Kennen. So wird jd’ nach seinem Vorkommen in Dtjes und in Jes 53 besprochen. Im zweiten Teil stellt B. fest, daß Jes 53 durch drei Basiskontraste strukturiert wird: Er-wir/wir-er; alle-einer/viele-einer; Tod-Leben, die alle ihre spezifische Bedeutung in Bezug auf das Handeln JHWHs bekommen. Im dritten Teil wird die Dynamik des Geschehens in Jes 53 beschrieben. Die erste Gottesrede ist Grund für das Bekenntnis von 53:1-11a, welches die zweite Gottesrede auf den Plan ruft. Das vierte Knechtslied in seinem Kontext wird somit als ein von JHWH initierter Rückblick verstanden, der die Frage wie es zu der Rückkehr nach Sion (52:7-10) kommen kann, mit dem Lied über den Knecht beantwortet. Jes 53 ist nicht nur nach vorne in seinem Kontext eingebunden, sondern auch nach hinten. Denn die Rückkehr nach Sion kann nur gelingen, wenn viele durch den Knecht zur Umkehr gelangen und Sion neu bevölkern (Jes 54 f.).

Mit den gleichen methodischen Schritten wird dann die Rolle des Knechtes in Dan 11 f., Weisheit 1-6 und in Jes 53 LXX untersucht. Jes 53 LXX wird dabei als eigener Text verstanden und interpretiert. Für Jes 53 LXX fungiert nicht nur DtJes, sondern auch TritJes als Kontext. Bei der kontextuellen wortsemantischen Analyse kommen andere Lexemgruppen zustande als beim MT, weil sich durch Bedeutungsverschiebungen auch das Verhältnis zwischen den Lexemen ändert. Dadurch verschieben sich auch die Kontraste: 1) Viele-einer 2) Alle-einer 2) Er-wir 3) Erhöhung-Erniedrigung 4) Gesetzlosigkeit-keine Gesetzlosigkeit 5) Leben-Tod und die Gestalt des Knechtes werden transformiert: "In der LXX ist er das Abbild des leidenden Gerechten, der Gerechte par excellence, der von JHWH auserwählt wurde, um seine Gunst zu erwerben, um ein Zeichen der Hoffnung zu sein für alle, die durch ihn Frieden finden und wie er den Dienst an JHWH ernst nehmen auch in Zeiten von Verfolgung und Widerstand." (194)

Nachdem so die wichtigen Prae-Texte analysiert wurden, wird der Schritt ins Neue Testament mit einer Analyse zweier Folge-Texte getan, die sich explizit auf Jes 53 beziehen: Lk 22:14-38 und Apg 8:26-40. Auch hier folgen die gleichen Schritte wie bei den alttestamentlichen Texten. Die Hauptfrage ist, ob und wie über die direkte Beziehung durch das Zitat von Jes 53:12 in Lk 22:37 hinaus kontextuelle Bezüge zwischen Jes 53 MT-LXX und Lk 22:14-28 festgestellt werden können. B. findet solche intertextuelle Beziehungen auf der semantischen Ebene bei der Vorbildfunktion des Todes eines Märtyrers (Jes 53:8d.9b.12c//Lk 22:33), bei der Opferterminologie in der Beschreibung des Leidens für andere (Jes 53: 5.12//Lk 22:19d. 20c), bei dem Leiden als Teil eines göttlichen Plans (Jes 53: 10//Lk 22:22a.37), und beim Dienst des Knechtes/Jesus (Jes 53:11c//Lk 22:27c). Auf der Ebene der Kontraste sind solche Verbindungen bei der Entwicklung von Einsamkeit nach Gemeinsamkeit (Jes 53) und umgekehrt (Luk 22) sichtbar, bei der Sündhaftigkeit und Gesetzlosigkeit der Wir-Gestalt in Jes 53 und dem angekündigten Verrat eines der Apostel Jesu in Lk 22. Auf der Ebene der Textstrukturierung spielen das Wortpaar Erniedrigung/Erhöhung, der Topos "Einsicht", und der Zusammenhang zwischen "Abirren" und "Zurückkehren", zwischen "Erinnern" und "Nachkommen", "Gewalt" und "Gewaltlosigkeit" eine große Rolle.

Der zweite Text mit einem expliziten Zitat aus Jes 53 ist Apg 8: 26-40. Intertextuelle Beziehungen auf der semantischen Ebene über das Zitat hinaus sind das Erlangen von Einsicht (Jes 52, 13/Apg 8,30f.), das sichtbar werdende Heil (Jes 52,13//Apg 8: 35c), der Frieden und die Freude (Jes 53, 5c//Apg 8: 39c) und auf der Ebene der textinternen Dynamik das Wortpaar Erniedrigung und Erhöhung. Intertextuelle Beziehungen bestehen nicht nur mit Jes 53 sondern auch mit 2Kön 5, Lk 24:13-35 und Apg 10:34-48.

Nachdem B. so gezeigt hat, daß nicht nur das explizite Zitat sondern auch der Kontext eine Verbindung zwischen Texten herstellt, kann er sich auf unsichereren Boden begeben und zwei Texte analysieren, die keine explizite Verweisung nach Jes 53 aufzuweisen haben: Apg 3:12-26; 4:23-31. Hier sind es zuerst einige Lexeme mit Signalwirkung, die die Verbindung herstellen: "Knecht", "Sklave", "salben" und "verherrlichen." Auf der semantischen Ebene gibt es zwischen Apg 3:12-26 und Jes 53 u.a. folgende Verbindungen: verherrlichen (Jes 52:13 LXX//Apg 3:13c), den Zugang der Völker zum Heil (Jes 53: 8/Apg 3:23), Ankündigung und Erfüllung (Jes 53 im Kontext von DtJes//Apg 3:18a.21c.24ab), Leiden/Frieden/Heilung (Jes 53:5//Apg 3:26b), die zweifelhafte Gerichtsverhandlung (Jes 53:9//Apg 3:13-15), den exemplarischen Gerechten (Jes 53: 11//Apg 3:14), das Todesschicksal/die Wir-Gestalt/die Angeredeten (Jes 53: 8.12/Apg 3:13-15), weiter die Rolle des Knechtes und die Rolle Jesu, die Beziehung Gottes zu dem Knecht bzw. zu Jesus, das Leiden-Müssen und das Handeln Gottes als Herr der Geschichte an Israel und an den Knecht, bzw. an Jesus. Auf der Ebene der Strukturen im Text: das Verhältnis zwischen Israel und den Völkern, das Wort Gottes vermittelt durch Propheten oder Zeugen, die entscheidende Wahl zur Umkehr, und der Kontrast zwischen Tod und Leben (327).

Die vierte und letzte untersuchte Texteinheit ist Apg 4:23-31. Bedeutung schaffende intertextuelle Beziehungen gibt es auf der semantischen Ebene: die Rolle des Knechtes (Jes 53:7//Apg 4:30), die Beziehung Knecht/Herr (Jes 53:1//Apg 4:29), die Rolle des Planes Gottes (Jes 53:10//Apg 4:28), die Rolle der Knechte in der Nachfolge (Jes 53:10; 54:17//Apg 4:29). So kann gefolgert werden, daß Apg 4:23-31 nicht nur intratextuell mit Lk 3:22; 4:18 in seinem Kontext und Apg 10:38 verbunden ist, sondern auch vor dem Hintergrund der Knechtperikopen, u.a. Jes. 61:1f., speziell aber Jes 53 gelesen werden soll (351).

Zusammenfassend wird dann deutlich, daß Jes 53 in den Texten mit expliziten Zitaten in einer solchen Weise ins Spiel gebracht wird, daß neben dem Zitat auch eine Reihe von Aspekten kontextuell mit aufgerufen werden. Dadurch wird der Praetext besonders intensiv in den Folge-Text integriert. Bei den Texten mit den nicht-expliziten Zitaten gibt es Verbindungen mit Jes 53, die aber in einer Reihe von Beziehungen zu anderen Texten stehen. Das Zitat von Jes 53:12 in Lk 22:14-38 steht in einem Kontext, der das Leiden Jesu als Teil des Plans Gottes und im weiteren Kontext als Hinweis auf die Gewaltlosigkeit Jesu der Gewaltbereitschaft der Jünger gegenüber interpretiert. Das Zitat von Jes 53: 7b-8c in Apg 8:26-40 ermöglicht die Deutung Philippus’ auf die Frage nach dem Leiden und Tod einer Er-Gestalt und auf die Frage nach dessen ’Nachkommen’. Durch den weiteren Kontext kann Jesus, der gelitten hat und auferweckt wurde, jetzt einem "Nicht-Juden" verkündigt werden. Der ausgeschlossene Eunuch kann vollwertiges Mitglied der Glaubensgemeinschaft werden. Apg 3:12-26 kann durch den Bezug auf Jes. 53 das Leiden Jesus und dessen Erhöhung als Teil des Planes Gottes verstehen. Dieses Leiden bewirkt Sündenvergebung, und alle Völker werden dadurch gesegnet werden. Durch diesen Bezug wird Jesus mit dem Knecht aus Jes 53 identifiziert. Apg 4:23-31 fügt noch hinzu, daß das Leiden Jesu Teil seiner Sendung war, und durch den Kontextbezug ergeht der Auftrag an die Jünger, selbst die Knechtschaft anzunehmen (371 f.).

B. arbeitet sorgfältig, seine Argumente werden klar vorgeführt. Gelegentlich sind die gefundenen Textbezüge etwas zu kühn, aber sein konsequentes methodisches Vorgehen legt Beziehungen zwischen Texten frei, die sonst übersehen werden. Damit ist sein Buch ein Gewinn nicht nur für die Exegese und die biblische Theologie, sondern auch für die erneute Suche nach methodisch kontrollierbaren Schritten bei der Exegese biblischer Texte. Bibliographie, Abkürzungen und Terminologie weisen gelegentlich Inkonsequenzen und einige Schönheitsfehler auf.