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Ausgabe:

Dezember/2007

Spalte:

1277–1292

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Jürgen van Oorschot

Titel/Untertitel:

Grenzen der Erkenntnis als Quellen der Erkenntnis
Ein alttestamentlicher Beitrag zu Weisheit und Wissenschaft*

I
Wissenschaftliche Verstehensbemühung schließt das Bedenken der Grenzen von Erkenntnis mit ein. Sowohl als erkenntnistheoretische Frage als auch mit Blick auf die angemessene Methode gehört sie zu den notwendigen Voraussetzungen von Wissenschaft, wie sie sich seit der Neuzeit bei uns etabliert hat.1 Welche Möglichkeiten der Erkenntnis habe ich? Und welche Grenzen sind meinem Erkennen gesteckt? In dieser doppelten Weise lassen sich das nach Wissen und Einsicht fragende Subjekt und sein Forschungsinteresse, der Erkenntnisgegenstand sowie die Methode des Erkenntnisgewinnes befragen. Erkenntnistheoretisch grundlegend haben im 18. Jh. der Königsberger Immanuel Kant und der Neapolitaner Giambattista Vico die Leistungsfähigkeit und die Grenzen menschlicher Einsicht ausgeleuchtet. Kant unternimmt in seinen drei großen Kritiken zur theoretischen und zur praktischen Vernunft sowie zur Urteilskraft den Versuch, den Geltungsanspruch von Erkenntnis neu zu sichern.2 Auf der Basis der cartesianischen Unterscheidung von Subjekt und Objekt analysiert er die vor aller Erfahrung im erkennenden Subjekt liegenden allgemeinen und notwendigen Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung. Raum und Zeit als reine Formen der Sinnlichkeit3 sowie Qualität, Quantität, Modalität und Relation als reine Formen des Verstandes – sie gelten seitdem als die a priori im Subjekt liegenden Möglichkeiten und Grenzen jeder Erkenntnis, was nach Kant unterschiedslos sowohl für den Bereich der Natur als auch für den der Geschichte gilt.
An dieser Stelle beschreitet der ältere Vico, der zwischen 1668 und 1744 im Wesentlichen in seiner Heimatstadt Neapel lebte und wirkte, einen anderen Weg. In kritischer Absetzung vom Cartesianismus seiner Zeit etabliert er eine neue Wissenschaft vom Menschen, die sich von der einseitig mathematisch-naturwissenschaftlich ausgerichteten absetzt. Für unsere Frage nach der Erkenntnis und ihren Grenzen ist bei Vico die Unterscheidung vom Wahren und Faktischen, von verum und factum, sowie deren Überführbarkeit, ihre Konvertibilität entscheidend. Der Mensch erkennt das Wahre nur in dem Maße, indem er es in seiner Welt erschafft, es überführt in die Welt des menschlichen Geistes. Die Begrenztheit des menschlichen Erkennens wird damit zum Ausgangspunkt der verstehenden (percipiendi), verbindenden und unterscheidenden (componendi secernendique) sowie argumentierenden (ratiocinandi) Wissenschaft.4 Die Welt dieses produktiven Erkennens ist so die Welt der Wahrscheinlichkeit. Dabei plädiert Vico anders als Descartes für ein integratives Vorgehen, das Vernunft und Phantasie, Logik und Handeln miteinander verbindet.5 Die in dieser Weise vom Menschen konstruierte, historische Welt bleibt für Vico zugleich einem »überlegenen Geist«, dem durch die Vorsehung wirksamen Gott unterworfen.6
Es wäre nun ausgesprochen spannend,die Grundfrage nach Quelle und Grenze von Erkennen in Auseinandersetzung etwa mit konstruktivistischen oder positivistischen Gegenwartspositionen zu stellen. Der Raum einer universitas litterarum, so wie er sich in der abendländischen Tradition gebildet hat, ermöglicht und nötigt in der Unterschiedenheit und im Zusammenspiel der Fachkulturen dazu. Die gegenwärtigen Wandlungsprozesse an und mit den Universitäten befördern diese Debatten nicht unbedingt, da sie anderen Logiken folgen.7 Nun kann eine Antrittsvorlesung, schon auf Grund ihrer monologischen Anlage, an dieser Stelle nicht mehr tun, als die Notwendigkeit und Bereitschaft zu einer gegenseitigen erkenntnistheoretischen Befragung markieren. Der Alttestamentler muss sich zu dieser Gelegenheit darauf beschränken, die Leitfrage an einen Bereich seiner eigenen Wissenschaft zu stellen, an Texte, die aus altorientalischer und frühjüdischer Suche nach Wissen und Erkenntnis hervorgingen, an die alttestamentliche Weisheitsliteratur. Erfolgt innerhalb der alttestamentlichen Weisheit eine derartige Reflexion über Möglichkeiten und Grenzen von Erkenntnis?

II
Diese Frage hat sich zuletzt Anette Schellenberg in einer 2002 in Zürich verfertigten Dissertation gestellt, wobei sie insbesondere das Buch Kohelet, den Prediger Salomo, unter die Lupe nimmt. Eine Umschau zeigt dabei zunächst, dass in weiten Bereichen der Weisheitsliteratur, vor allem in den älteren Bestandteilen des Sprüchebuchs, die Befähigung des Menschen zur Erkenntnis selbstverständlich vorausgesetzt wird. Sie ist die unreflektierte Grundlage jener Erfahrungsweisheit, die wir in den Spruchsammlungen verdichtet vor uns haben.8 Dann tauchen in nachexilischer Zeit, also in der Phase der Entstehung des frühen Judentums im 4. und 3. Jh. v. Chr., plötzlich Texte auf, denen Erkenntnis zum Problem wird. Wir finden sie prima vista im besagten Prediger Salomo und im Hiobbuch. Für ersteren arbeitet Schellenberg treffend heraus, dass menschliches Erkennen sich im Bereich »unter der Sonne«9 vollzieht, erfahrungsbasiert würden wir sagen. Dort bewegt sich das erkennende »Ich«, forschend und prüfend als Einzelner.10 Damit sind auch seine Begrenzungen gegeben. Die Zukunft, der Tod und Gottes Handeln – diese drei Bereiche bleiben seinem Nachforschen verschlossen. Sie bilden die Grenzen seines Erkennens.
Besieht man sich von diesen Ergebnissen der Schellenbergschen Studie her erneut das Buch Kohelet, so fällt auf, dass dort die Grenze menschlicher Erkenntnis zugleich zum Ort von Erkenntnis wird. In allen drei Fällen erschließt der Blick auf die Grenze neue Quellen menschlicher Einsicht. Damit findet eine theoretische Überlegung ihre Bestätigung, die man in unterschiedlichen Spielarten gelegentlich in der Philosophie findet.11 Wer eine Grenze als Grenze wahrnimmt, muss immer schon einen Standort jenseits dieser Grenze eingenommen haben. Nur dann erschließt sie sich seinem Blick.
Bevor ich darauf noch einmal zurückkomme, soll zunächst meine These zu den Grenzen der Erkenntnis, an denen neue Erkenntnisorte, neue Erkenntnisse zum Erkennen, aufscheinen, am Buch Kohelet kurz entfaltet und begründet werden. Mehrfach hält der Prediger fest, dass kein Mensch die Zukunft erhellen kann – so etwa in Form der rhetorischen Frage aus Kapitel 6,12b:
»(Denn) wer könnte dem Menschen mitteilen, was nach ihm sein wird unter der Sonne?«
Niemand!
Oder an anderer Stelle:
»Ich wandte mich um und sah unter der Sonne,
dass nicht immer die Schnellen den Lauf gewinnen
und nicht immer die Helden den Kampf,
und auch nicht immer die Weisen Brot
und auch nicht immer die Verständigen Reichtum
und auch nicht immer die Wissenden Gunst.
Wahrhaftig: Zeit und Zufall trifft sie alle.
Denn der Mensch kennt nicht einmal seine Zeit«.
(Koh 9,11–12a)
Die Zukunft – und an anderer Stelle auch die Vergangenheit (Koh 1,11) – als verborgene Zeit führt bei Kohelet nun zur Betonung der Gegenwart, als der dem Menschen einzig zugänglichen Zeit.
»Wer weiß denn, ob der Atem der Menschen nach oben steigt,
der Atem der Tiere aber zur Erde hinab fährt?
Und ich sah, dass es nichts Besseres gibt,
als dass der Mensch sich freut bei seinem Tun, denn das ist sein Anteil.
Denn wer könnte ihn dazu bringen, das zu sehen, was nach ihm sein wird?«
(Koh 3,12 f.)
Die Gegenwart und das carpe diem – das ist des Menschen Teil. Dieser cantus firmus zieht sich auch durch die Aussagen zur begrenzten Lebenszeit. An der Todesgrenze endet das Erkenntnisvermögen des Menschen, zugleich weist ihn seine Endlichkeit in die ihm zuhandenen Möglichkeiten:
»Wahrhaftig – ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe.
Denn die Lebenden wissen, dass sie sterben werden,
die Toten aber wissen gar nichts«. (Koh 9,4b.5ab*)
»Alles, was deine Hand zu tun findet, tue mit deiner ganzen Kraft.
Denn es gibt kein Tun und kein Planen, keine Erkenntnis und keine Weisheit
im Totenreich, wohin du gehst.« (Koh 9,10)
Der Mensch soll die ihm zufallenden Möglichkeiten, die ihm zufallenden Zeiten ergreifen. Es sind, wie man in der langen Meditation über die Zeiten in Kapitel 3 des Buches lernen kann, die Zuwürfe Gottes. Und auch hier, angesichts des Handelns Gottes, findet sich die gleiche Grundstruktur erneut.
»Alles macht er (Gott – J. v. Oo.) trefflich zu seiner Zeit.
Auch die Mühe hat er ihnen (den Menschen – J. v. Oo.) ins Herz gegeben.
Nur dass der Mensch das Werk, das Gott tut,
von Anfang bis Ende nicht herausfinden kann.
Ich habe erkannt: Es gibt kein anderes Glück bei ihnen,
außer das man sich freut und es sich gut gehen lässt in seinem Leben.« (Koh 3,11–12)
Alle Bemühung um Erkenntnis scheitert angesichts des Handelns Gottes. Es bleibt dem Menschen unverständlich. Und zugleich ist ebendieses Handeln Gottes Ursprung jenes Lebens, das er dem Menschen in Gestalt der unterschiedlich gefüllten Zeiten zukommen lässt. In dem als Schöpfer geglaubten Gott hat der Mensch mithin beides vor sich: Grenze menschlicher Einsicht und Sinnerfahrung sowie Ausgangspunkt der Wirklichkeit, die dem Menschen »unter der Sonne« widerfährt. Rational durchsichtig wird ihm dieses Widerfahrnis letztlich nicht. Weisheit, Erkenntnis und Sinn sind verborgen – oder anders ausgedrückt: werden zu Implikaten des Schöpferglaubens.12

III
Eine vergleichbar skeptische Stimme13 der alttestamentlichen Weisheit hören wir mit dem Hiobbuch. Die Auskünfte, die wir zu unserer Frage nach Erkenntnismöglichkeiten und -grenzen erhalten, variieren das Schema Kohelets. Wissen und Einsicht, die auf Erfahrung beruhen, werden im Hiobbuch in einer Aporie vorgeführt. Sie lässt sich auf die schlichte Formel bringen: Der Gerechte leidet. Das Buch führt sie in unterschiedlichen Varianten vor, angefangen vom Dulder der Rahmenerzählung über den anklagenden und sich den Tod wünschenden Hiob zu Beginn der Dichtung bis hin zu den ermüdend fruchtlosen Disputen mit den räsonierenden Freunden. Am Ende tritt Gott auf, präziser: Er tritt dem um Einsicht und Sinn ringenden Hiob entgegen. Selbst ein ganzes Buch lang angefragt, poltert dieser Gott mit Fragen auf den fragenden Menschen ein. In ihnen präsentiert er sich als Schöpfer, dessen Einsicht und Vermögen gerade auch in den Bereichen, die dem Menschen chaotisch und lebensfeindlich erscheinen, sinnvoll wirksam ist. Dies bleibt allerdings eine Grenzaussage, da der Mensch als Hiob wiederum nur Gott als Schöpfer vor sich hat, ohne die durch und in ihm behauptete Erkenntnis und Sinnhaftigkeit selbst nachvollziehen zu können. So das Bild in der ursprünglichen Hiobdichtung.
Mit dieser Vorstellung einer verborgenen, mit dem Schöpfergott zu glaubenden Weisheit stehen eben diese weisheitlichen Verfasserkreise vor einem massiven Problem. Zu ihrer grundlegenden Aufgabe gehört Erziehung und Ausbildung. Wenn als Inhalt von Wissen und Erkenntnis nun einzig der Hinweis auf Gott verbleibt und Gott selbst dabei aber nur in einer Grenzbestimmung als weise und gerecht postuliert werden kann, inhaltlich jedoch die damit behauptete Einsicht und Sinnhaftigkeit nicht mitteilbar ist, bedeutet dies das Ende von Ethik und Erziehung. Hat man sich dies einmal klar gemacht, so verwundert es nicht, dass in der weiteren Arbeit am Hiobstoff so etwas wie eine pragmatische Kehre zu finden ist. Sie tritt uns in der Rekonstruktion der Redaktionsgeschichte des Buches in den Fortschreibungen vor Augen, die auf die älteste Fassung der Hiobdichtung reagieren.14 Am prägnantesten formuliert es das so genannte Lied auf die Weisheit in Hi 28. Zunächst wird eindrücklich in einer für das Alte Testament singulären Schilderung des Bergbaus der Mensch als homo faber herausgestellt. Sein technischer Sachverstand erlaubt es ihm, tief ins Innere der Erde vorzudringen und von dort das Verborgene ans Licht zu holen (Hi 28,11b). Im Kontrast zu diesen mit Staunen vorgetragenen Fertigkeiten konstatiert der Text, dass trotz alledem dieser Mensch die Welt in ihrer Gesamtheit nicht zu erfassen vermag.
»Aber die Weisheit, wo kommt sie her und wo ist der Ort der Einsicht?
Sie ist vor den Augen aller Lebendigen verborgen ....
Gott kennt ihren Weg, er weiß ihren Ort. ...
Als er das Gewicht des Windes bestimmte und das Wasser mit einem Hohlmaß festsetzte,
als er dem Regen ein Ziel setzte und der Gewitterwolke einen Weg,
damals ersah und zählte er sie, erschuf und erforschte er sie.« (Hi 28,20.21a.23.25–27)
Gott und seine Weisheit entziehen sich der Einsicht des Menschen. Ihm verbleibt nur partielles Erkenntnisvermögen.15 In der Sprache des Liedes heißt das:
»und er sprach zum Menschen: Siehe, die Furcht Gottes, sie ist Weisheit,
und sich Fernhalten vom Bösen ist Einsicht.« (Hi 28,28)
Verdolmetschen wir dies in unseren Zusammenhang, dann bedeutet das: Der Mensch erweist sich als weise, wenn er mit Gott seine Erkenntnisgrenze anerkennt. Er soll Gott fürchten, d. h. Gott als Gott respektieren und damit seine Grenze als Geschöpf. Dieser Grundhaltung entspricht im Bereich der Ethik das »Meiden des Bösen«. Erkenntnis, Weisheit wird damit an Gott als Grenze suspendiert, religiös mit Gottesfurcht und ethisch mit der Eindämmung des Bösen als pragmatischem Grundsatz einer weltanschaulichen Skepsis verbunden. In Variation findet sich hier also die gleiche Struktur wie bei Kohelet: Existentielle und kognitive Grenzerfahrung wird als Gotteserfahrung verstanden. Und – so die pragmatische Kehre – in der Anerkenntnis Gottes als Grenze des Geschöpfs »Mensch« und einer entsprechenden Ethik besteht nun die Weisheit. Diese skeptische Gottesfurcht versucht damit ein Minimum weisheitlicher Sprachfähigkeit zurück zu gewinnen, nicht zuletzt um ihrer primären Aufgabe in Erziehung und Ausbildung nachkommen zu können. In Szene gesetzt wird dies in der heute vorliegenden Rahmenerzählung des Hiobbuches, die mit dem sich im Leid bewährenden Gerechten ein Exempel von Gottesfurcht und Verantwortungsbereitschaft entwirft.16

IV
Im pragmatischen Anliegen übereinstimmend, in der Konzeption jedoch eine deutliche Alternative zu Kohelet und Hiobbuch – so lässt sich der dritte zu besehende Bereich alttestamentlicher Weisheit kennzeichnen: Proverbien 1–9. Und es gibt eine Reihe von Hinweisen, dass die jetzt vorliegende Fassung der Einführung ins Sprüchebuch als dezidierte Reaktion auf die Skepsis des Hiobbuches geschrieben wurde. In Prv 1–9 haben wir es ursprünglich mit einem Prolog und zehn Lehrreden zu tun, die als Einleitung zu den älteren Bestandteilen des Sprüchebuches in den Kapiteln 10–29 gedacht waren. Sie werden dann später um Zwischenstücke ergänzt,17 zu denen auch Prv 8 mit seinen Texten zur personifizierten Weisheit gehört. Diese Abschnitte entwerfen nun ein alternatives Konzept.
Dass damit auf die skeptische Gottesfurcht aus Hi 28 reagiert wird, lässt sich etwa aus der Anspielung an Hi 28,25 f. in Prv 8,27–29a ablesen.
»Als er den Himmel errichtete, da war ich anwesend;
als er absteckte den Kreis über der Urflut;
als er die Wolken oben befestigte,
als stark wurden die Quellen der Urflut.
als er festsetzte dem Meer seine Grenze,
damit die Wasser seinen Befehl nicht übertreten.«
So stellt sich die Frau Weisheit vor. Dabei wird in gleicher Sprachform wie in Hi 28 Gott beschrieben, als er die Welt erschafft. Umso auffälliger ist es, dass der Zielpunkt differiert. Geht es in Hi 28 darum, dass Gott die Weisheit maßgebend mit der Schöpfung verbindet, sie als Zahl und Bestimmung mit ihr verwebt, so hebt Prv 8 die Anwesenheit der Weisheit während des schöpferischen Tuns Gottes heraus. Die Rede von JHWH wird in Prv 8 durch eine Rede durch und von der Weisheit ausgetauscht. Dass damit keine unbedeutende Banalität formuliert werden soll, wird spätestens deutlich, wenn man eine weitere Anspielung wahrnimmt. Unsere Stelle ahmt nicht nur die Selbstvorstellungen JHWHs aus anderen alttestamentlichen Texten nach. Sie spielt auch auf Ex 3,1418, der Kundgabe und Deutung des JHWH-Namens Mose gegenüber, an: h¡RyVh`Ra r∞RvSa h™RyVh`Ra – »Ich werde sein, der ich sein werde.« So fasst Gott sein Da- und Wirksam-Sein für Israel zusammen und deutet zugleich den Gottesnamen. Das sich wiederholende Verb h™RyVh`Ra wird an unserer Stelle nun aufgegriffen und so, auf Ex 3 anspielend, präsentiert sich die Weisheit als Schoßkind19 und Vergnügen vor Gott und Menschen. Wie haben wir diese Positionierung an der Seite Gottes zu verstehen? Soll damit signalisiert werden, dass die Bedeutung, die JHWH in Israel und in der Geschichte hat, der Bedeutung der Weisheit für das Wissen und für die Erkenntnis der Menschen bzw. der Menschheit insgesamt entspricht?
Bevor wir diesen Fragen nachgehen, gilt es noch eine zweite Veränderung gegenüber der skeptischen Gottesfurcht aus Hi 28 festzuhalten. Auch sie markiert eine Alternative. Im Hiobbuch besteht, wie wir eben gesehen haben, die Weisheit am Ende in der Gottesfurcht. In Prv 1–9 wird die Gottesfurcht gleich an zwei Stellen als Ausgangspunkt der Weisheit vorgestellt.
»Anfang/Ausgangspunkt der Weisheit ist die Gottesfurcht
und Erkenntnis des Heiligen ist Einsicht.« (Prv 9,10)20
Das Anerkennen Gottes wird damit zum Fundament von Lebensklugheit und Erkenntnisgewinn. Das Gottesverhältnis ist in dieser Konzeption Ausgangssetzung, Apriori von Wissen und Wissenschaft. Nun behauptet Anette Schellenberg unter Verweis auf Prv 2,5 f., dass es zugleich wiederum Ergebnis aller Erkenntnisbemühung ist. »JHWH ist es, der Weisheit und Erkenntnis gibt. Damit ist klar, warum alle Weisheits- und Erkenntnissuche letztlich zu Gott führen muss (V. 5), die ›JHWH-Furcht‹ in 1,7 und 9,10 aber gleichzeitig auch als ›Anfang der Weisheit‹ bezeichnet werden kann.«21
Wozu führt Erkenntnis? Exakt auf diese Frage will Kapitel 2 des Sprüchebuches Auskunft geben, wenn es fünf Auswirkungen der Weisheitsbemühung anspricht. Eine davon hält V. 5 fest: »dann verstehst du die Furcht JHWHs und findest Erkenntnis Gottes.«
Die Formulierung legt nun jedoch die Frage nahe, ob der Akzent nicht doch ein anderer ist, als Schellenberg annimmt. Soll Erkenntnis wieder zu Gott führen, also Frömmigkeit und Gottesbeziehung stärken oder geht es in dieser Aussage nicht eher um ein Verstehen und Einsehen? Gedanklich klar wird das Apriori, die Ausgangssetzung, in ihrer Bedeutung vor dem Wissenden liegen. Die vorliegende Sentenz ist für eine Deutung in dieser Weise offen, ohne dass man allein aus dieser Stelle heraus entscheiden könnte, ob NyIb und tAoäåd hier eher als gedankliches Erfassen oder in einem umfänglicheren Sinn als Beziehung zu Gott verstanden werden sollen. Die damit zur Entscheidung stehende Frage ist nicht unwichtig für das Verständnis der Konzeption. Worauf zielt Erkenntnissuche im Sinn der Ergänzer von Prv 1–9? Ist sie ausschließlich eine Funktion des Gottesverhältnisses oder kommt ihr auf der Basis einer Anerkenntnis Gottes eine eigene Bedeutung zu? Vor wem oder was steht der Wissensdurstige am Ende – vor Gott oder vor der Weisheit?
Wenden wir uns mit dieser Frage einer inhaltlichen Skizze des Weisheitsmodells zu, dass die Ergänzer der Zwischenstücke in Prv 1–9, also u. a. die Verfasser des 8. Kapitels mit ihrer Darstellung der personifizierten Weisheit einer skeptischen Gottesfurcht entgegenhalten. Sie fügen ihre markanten Texte in Lehrreden ein, die eine klare textpragmatische Ausrichtung haben: die Erziehung und Bildung junger Männer. Die weisheitlich meist vorausgesetzte Erziehungssituation wird in Prv 1–9 auch ausdrücklich angesprochen, was diese Reden vom älteren Gut des Sprüchebuches unterscheidet. Sie transportieren dabei eine doppelte Botschaft für ihre Leser: Gott gibt Weisheit. Der Mensch muss nach ihr streben. Diese »Doppelstruktur«22 wird in den Abschnitten zur personifizierten Weisheit nun weitergehend interpretiert. Besehen wir uns die Art dieser Fortentwicklung anhand des prominenten Abschnitts in Prv 8, 22–31.
In ihm tritt die als Frau gezeichnete Weisheit auf und führt sich als erstes Geschöpf Gottes ein. Vor allem anderen entstand sie und war so anwesend als Gott die Welt schuf, wie wir es schön gehört hatten. Diese Präsenz wird nun noch weitergehend bestimmt:
»Als er die Fundamente der Erde feststeckte,
da war ich neben ihm als Schoßkind23
und ich war Vergnügen Tag für Tag,
spielend vor ihm die ganze Zeit,
spielend auf seinem Erdkreis
und mein Vergnügen (war/ist es) bei den Menschen (zu sein).« (Prv 8,29b–31)
Zweierlei möchte ich mit Blick auf das Verhältnis der Weisheit zu Gott und zu den Menschen in dieser Konzeption hervorheben. Der Abschnitt stellt zum einen explizit eine Parallelität zwischen Gott und Menschen her. So wie die Weisheit während der urzeitlichen Erschaffung der Welt Tag für Tag Vergnügen war und vor Gott spielte, so war und ist sie es bei den Menschen. Letztere Formulierung ist auf Grund der nominalen Konstruktion zeitlich unbestimmt, woraus sich die temporale Offenheit von der Urzeit hin zur Jetzt-Zeit ergibt. Zum anderen – und dies ist aus der Textpragmatik zu schließen – impliziert der Abschnitt eine weitere Parallelität: So wie die Weisheit vor Gott anwesend war, als er schöpferisch handelte, so soll sie auch beim Menschen anwesend sein, wenn er handelt. Denn damit wäre der pragmatische Sinn all der Einleitungssentenzen erreicht: der belehrte junge Mann, der weise agiert und redet.
Genau diesen Zielpunkt benennt nun auch der Abschluss des 8. Kapitels, also die Verse, die im direkten Anschluss auf das gerade Gehörte folgen.
»Glücklich ist der Mensch, der auf mich hört,
und glücklich, die meine Wege beachten,
indem sie Acht geben auf meine Türen Tag für Tag,
indem sie die Pfosten meiner Türöffnungen bewachen.
Er erhält Wohlgefallen von JHWH her.
Aber wer mich verfehlt, der tut sich selbst Gewalt an.« (Prv 8,34.32b.35 f.)24
Schon der Makarismus macht auf die Nähe dieser Aussage zu Ps 1 und deren Toratheologie aufmerksam. Auch die Wegmetaphorik verbindet diese Stelle mit der entsprechenden Schicht des Psalters.25 Solche Parallelität bereitet die spätere Identifizierung von Weisheit und Tora vor, wie wir sie dann im Sirachbuch finden. Schon hier ist nun Weisheit eine ethische und religiöse Größe. Sie dient der angemessenen und richtigen Lebensführung und steuert das Gottesverhältnis. An der Stellung zur Weisheit nämlich – und diese Zuspitzung überrascht dann doch – entscheidet sich die Stellung JHWHs zum Menschen. Sein »Wohlgefallen«26 erhält derjenige, der die Weisheit achtet. Gerlinde Baumann schreibt zu dieser Stelle: »In Prov 8,32–36 spricht die Weisheit mit einer Vollmacht, die sonst nur JHWH für sich in Anspruch nimmt.«27 Weisheit wird damit zum Dreh- und Angelpunkt von Ethos und Gottesverhältnis, indem sie sowohl den Zugang zu als auch den Inhalt von beidem steuert.
Lassen sie mich daraus vier Schlussfolgerungen ziehen.
1. In dieser weisheitlichen Replik auf die skeptische Gottesfurcht gibt es kein direktes Gegenüber von Gott und Mensch, sondern nur dasjenige von Mensch und Weisheit.28
2. Die mit der metaphorischen Einkleidung dieser personifizierten Weisheit gemeinte Sache erschließt sich beim Blick auf den Kontext, auf die Funktion von Prv 1–9 als Einleitung der vorliegenden Erfahrungsweisheit sowie aus der Textpragmatik: Der Mensch soll analog zu Gott inspiriert durch die Weisheit handeln.
3. Die Weisheit ist als Dreh- und Angelpunkt Zugang zu Ethos und Gottesverhältnis sowie Inhalt des Ethos. In dieser Weise ist die Weisheit nun Gegenüber und Grenze des Menschen.
4. In der Konsequenz bedeutet dies, dass der Mensch als derjenige, der sich um Wissen und Erkenntnis mühen soll, selbst Grenze dieser Konzeption ist. Auf der Ebene der Bildsprache ist es die Gestalt der Weisheit, die dem Menschen erschließend oder verweigernd entgegentritt. War bei Kohelet oder Hiob Gott die Grenze, ist es nun die Weisheit selbst, mit der es der Mensch zu tun bekommt. Ohne Bild gesprochen, ist der nach Erkenntnis suchende Mensch auf sich selbst geworfen. Er hört, sieht und nimmt anderweitig wahr – oder eben nicht. Er deutet, versteht und erschließt sich Wirklichkeit – oder eben nicht. Wenn es ihm gelingt, dann ist auch Gott mit seinem Wohlwollen an seiner Seite – und wenn nicht? Der Erkenntnisoptimismus dieser Konzeption erfordert zugleich einen anthropologischen Optimismus. Fehlt einer von beiden, dann verliert die ins Zentrum gerückte Weisheitsgestalt ihren Glanz und ihr Rufen und Agieren seine Überzeugungskraft.

V
Wie steht es um die Plausibilität und Wirkkraft dieser Konzeption in der Folgezeit? Lassen sie uns dazu einen kurzen Blick auf zwei frühjüdische Literaturwerke weisheitlicher Provenienz werfen, auf das Buch Jesus Sirach und auf die Sapientia Salomonis.
Das Sirachbuch, abgefasst im ersten Drittel des 2. Jh.s v. Chr. und zweifelsfrei vor dem Jahr 175 v. Chr. mit seinen dramatischen Ereignissen um die Hellenisierungsversuche durch Antiochus IV. Epiphanes, kann man als eine erneute Reaktion auf die skeptischen Einsprüche früherer Zeiten lesen. Der Optimismus von Prv 8 ist Sirach abhanden gekommen. Auch er fordert selbstverständlich in guter weisheitlicher Tradition die menschliche Bemühung ein. Und doch soll Erkenntnis nicht mehr allein aus der Erfahrung gewonnen werden. Als weitere Quellen der Einsicht kommen die Tora und die Prophetie hinzu. Präziser gesagt: Der nach Weisheit Strebende soll neben der Erfahrung der Alten die Prophetenbücher und die Tora studieren. Die qua Offenbarung an Mose zugängliche Tora und in Konsequenz auch die sie erhellenden Nebiim werden in Kapitel 24 ausdrücklich mit der Weisheit identifiziert. Und fragt man, wo diese Weisheit zu finden ist, so antwortet Sirach darauf mit einem Fingerzeig gen Jerusalem. Dort hat sie sich niedergelassen.
Noch deutlicher wird in der im letzten Drittel des 1. Jh.s v. Chr. verfassten Sapientia Salomonis die Weisheit an das erwählte Israel gebunden. Bei ihm ist Erkenntnisfähigkeit und Frömmigkeit untrennbar miteinander verbunden. Das Streben nach Einsicht findet in der Sapientia Salomonis seinen wichtigsten Ausdruck im Gebet.29 Der Gedanke des göttlichen Ursprungs der Weisheit, im Proverbienbuch als Geschöpflichkeit der Weisheit gefasst, wird nun auf den individuellen Erkenntnisgewinn qua Bitte um Weisheit überführt (SapSal 7,7). Nur auf solches Bitten hin beschenkt Gott (SapSal 8,21). Aber – und damit kommt ein weiteres Spezifikum und eine gravierende Veränderung gegenüber dem universalen Charakter alter Weisheitskonzeptionen in den Blick – diese Art Zugang zur Erkenntnis ist ausschließlich dem Gerechten möglich. Der Gottlose ist per se zur richtigen Einsicht unfähig, da er sich ausschließlich im Bereich menschlicher Erfahrung, im Bereich der Empirie bewegt. Dadurch bleibt ihm nicht nur jede Gotteserkenntnis verschlossen, sondern auch verborgen, was nach der Sapienta Salomonis mit zum Erkenntnishorizont gehört: der Bereich jenseits des Todes. Wer darin Einblick hat, dem ist verständlich, dass sich das Geschick des Weisen und das des Gottlosen grundlegend unterscheiden. Der Weise wird in alle Ewigkeit leben (SapSal 5,15), während die Gottlosen »zum verachteten Leichnam werden, zum Gespött unter den Toten in Ewigkeit.« (SapSal 4,19). Auf diese Weise soll die Gültigkeit des Tun-Ergehens-Zusammenhanges neu plausibel werden, trotz gegenteiliger Erfahrungen in der Empirie, wie sie etwa Kohelet beredt vorbrachte.
An beiden Schriften zeigt sich, dass auf die Skepsis gegenüber der Erkenntnisfähigkeit des Menschen hier nun deutlich anders reagiert wird als in Prv 1–9. Auch in Sirach und Sapientia soll ein Erkenntnisoptimismus und mit ihm verknüpft das Bild des zu Wissen und Einsicht zu bewegenden Menschen konzeptionell gesichert werden. Anders als den Proverbien gelingt ihnen dies jedoch nur, indem sie ausschließlich den Gerechten des Erkennens von Wirklichkeit und Wahrheit für fähig halten. Wissen und Einsicht kann einzig vermittelt durch Israel in die Völkerwelt ausstahlen (Sirach) bzw. ist an des Menschen Frömmigkeit gebunden (SapSal). Damit wird in diesen Schriften ein Grundsatz der altorientalischen und israelitischen Weisheit und Wissenschaft negiert, der noch im Sprüchebuch galt: die Universalität und Internationalität des Wissens. Kontext dieses Wandels ist die Auseinandersetzung mit Skepsis und Hellenismus.
Man kann sich diesen Zusammenhang auch noch an einem anderen Punkt klar machen. Im Konzept von Prv 8 tritt Gott, wie wir sahen, ganz hinter die Weisheit zurück. Zugleich bleibt dieser Schöpfergott selbst inhaltlich unbestimmt. Alles, was es von ihm zu wissen gibt, ist Bestandteil der Weisheit. Sirach und die Sapientia Salomonis gleichen diese theologischen Defizite durch die Bindung der Weisheit an die Tora aus. Inhaltlich ist Weisheit damit durch den geoffenbarten Gotteswillen bestimmt. Damit wird zugleich die Gefahr beseitigt, dass die Weisheit sich verselbstständigt – und in ihrem Gefolge auch die menschliche Weisheit. Der Preis dafür ist, dass Weisheit somit zum Medium der Gebotsvermittlung wird. Sie exemplifiziert die Tora im Raum der Erfahrung.

VI
Zu den Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Erkenntnis haben wir uns mehrere Antwortversuche des frühen Judentums auf diese Grundfrage menschlicher Suche nach Einsicht und Lebenssinn angesehen. Sie waren provoziert durch Plausibilitäts- und Evidenzlücken, wie sie immer wieder im Hintergrund weisheitlicher Schriften des Alten Orients erkennbar sind. Wenn unübersehbar die Ordnung der Welt und damit auch der basale Zusammenhang zwischen Taten und ihren berechtigterweise erwartbaren Folgen gestört ist, wenn Sinnlosigkeit und Unbegreifliches nicht nur Ausnahme sind, stellen sich entsprechende Fragen: Erschließt sich mittels der von uns verwendeten Erklärungsmuster angemessen der Sinn persönlichen und gesellschaftlichen Lebens? Generieren wir ausreichend Wissen bzw. auch das Wissen und die Deutungskompetenz, die wir benötigen? Wo und warum erreichen wir Grenzen im Wahrnehmen und Verstehen? Welche Qualität haben diese Grenzen und wie gehen wir mit solchen Grenzerfahrungen um?
Die frühjüdischen Konzeptionen, die wir uns besehen haben, zeigen implizit oder explizit klar die Erkenntnisbedingungen, die sie voraussetzen. Dies offen zu legen, gehört unter den heutigen Voraussetzungen von Wissenschaft und erst recht im Rahmen jeder Wissenschaft, die sich nicht selbst genügt, sondern sich als Teil eines interdisziplinär zu betreibenden Erkenntnisbemühens versteht, zu den basalen Forderungen. Durchgängig – und dies ist für die Frage von Erkenntnisgewinn und Wissenschaft in religiösem Kontext nicht unbedeutend – begegnet in unserem weisheitlichen Schrifttum Erfahrung als ein Zugang zu Wissen und Einsicht. Wir haben Literaturen, wie etwa das Hiobbuch oder Kohelet, in denen der Mensch ausschließlich auf diesem Weg zu Weisheit findet. Aber selbst wenn andere Erkenntnisquellen hinzukommen, wie bei Sirach oder Sapientia, verbleibt die Erfahrung als zu berücksichtigendes Element. Mit dieser empirischen Rückbindung kommt der Weisheit eine spezifische Rolle innerhalb der theologisch-religiösen Literatur des Alten Testaments zu.30 Sie begleitet die vorgetragene Rede über Gott, Welt und Mensch bestärkend oder in Frage stellend.
Erkennendes Subjekt – und damit kommen wir auf einen zweiten Aspekt der Erkenntnisbedingungen dieser Texte zu sprechen – ist der einzelne Mensch. Auch das ein weisheitliches Spezifikum!31 Der patriarchalen Grundstruktur der damaligen Lebenswelt entsprechend ist es meist der zu erziehende junge Mann. Der Einzelne soll, muss und will erkennen. Am deutlichsten stellt diesen Aspekt das Buch Kohelet vor und setzt ihn literarisch in Kapitel 1 im Auftreten des weisen Salomo in Szene.32
Als dritte, unhintergehbare Erkenntnisbedingung, als apriorische Setzung finden wir in allen untersuchten Schriften die Vorstellung von Gott als dem Schöpfer. Inhaltlich ist sie, wie wir sahen, unterschiedlich gefüllt. Selbst bei Kohelet, der konsequent Weisheit als Erfahrungsweisheit bestimmt, gehört der Glaube an den Schöpfer zu den Voraussetzungen. Erkenntnistheoretisch unterscheidet sich diese Grundstruktur nicht von denjenigen, die bis heute in allen Wissenschaftsbereichen vorzufinden sind, einzig die Inhalte der apriorischen Setzungen wechseln.33

VII
Unter diesen Bedingungen vollzieht sich also Erkennen. Und – so lautete meine These – Grenzen menschlicher Erkenntnis werden dabei zugleich zu neuen Orten der Erkenntnis. Erkennen an Grenzen – was heißt dies? Was ereignet sich bei Grenzerfahrungen, beim Grenzübertritt, bei Grenzgängen? Wie fassen wir das Phänomen der Grenzüberschreitung?
Lassen sie mich meine These noch einmal unter Zuhilfenahme einer Vorstellung darlegen, wie sie sich bei Michel Foucault verbunden mit dem Begriff der Heterotopie findet. Heterotopien sind bei Foucault im Unterschied zu Utopien nicht nur wirksame, sondern auch wirkliche Orte, »sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze der Kultur gleichzeitig präsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.«34 Als Bild für die Heterotopie verwendet er an zwei Stellen35 den Spiegel. »Im Spiegel sieht man das genaue Abbild dessen, was man betrachtet, obwohl es an einem Ort erscheint, wo es nicht ist. Die Gleichzeitigkeit von Präsenz – das Bild und der Spiegel sind echt – und Absenz – das Abgebildete befindet sich außerhalb des Spiegels – ist kennzeichnend für die Heterotopie.«36
Heterotopie – das ist der Raum der Möglichkeiten, der sich bei einer Grenzüberschreitung öffnet. Dieser Raum ist kein Raum der Diskurse und der Erkenntnis.37 Die Grenzüberschreitung und der Blick über die Grenze in neue Räume hinein eröffnet jedoch die Möglichkeit zu weiteren Diskursen und damit auch zu neuer Erkenntnis. Auch hier erleichtert noch einmal ein bei Foucault begegnendes Bild das Verständnis. Den Moment der Grenzüberschreitung vergleicht er mit einem »Blitz in der Nacht«.38 Ein solcher Blick erhellt für einen Augenblick erschreckend und zugleich den Blick weitend vorher Verborgenes.
Erkennen an Grenzen – wie stellt sich die Grenzüberschreitung in den untersuchten Schriften dar? Und welchen heuristischen Gewinn haben die darin sichtbaren Diskurse für unseren gegenwärtigen Wissenschaftsbetrieb? Dies soll nun in drei Richtungen, mit Blick auf den Erkenntnisgegenstand, auf das Erkenntnissubjekt und auf die Art und Weise des Erkennens, besehen werden.
Grenzüberschreitung mit Blick auf den Erkenntnisgegenstand – oder: Was ist dem forschenden Menschen zugänglich?
Die deutlichste Auskunft gibt dazu Kohelet, der Prediger Salomo. Die Zukunft, Existenz und Welt jenseits des Todes und Gottes Handeln – das ist dem erfahrungsbasierten Forschen des Menschen unzugänglich. Diese Grenzbestimmung bereitet neue Diskurse vor, die dann, wie anhand von Sirach und Sapientia zu sehen war, tatsächlich innerhalb der frühjüdischen Weisheit geführt werden. Ist Erkenntnis des Menschen unabdingbar an den Bereich der Erfahrung gebunden? Der Mensch, so wie Kohelet es voraussetzt und Kant es für alles nachfolgende neuzeitliche Denken philosophisch entfaltet, kann die Dinge prinzipiell nicht so erkennen, wie sie an sich sind, sondern immer nur so, wie sie für ihn sind. Nur als Gegenstände der eigenen Erfahrung sind sie uns zugänglich.39 Auch wenn – oder besser noch: Gerade wenn man dieses Kriterium akzeptiert, sind Apriori-Setzungen unumgänglich. Kohelet nimmt sie in Gestalt des Schöpfungsglaubens vor. Beziehen wir es auf gegenwärtige Debatten, so sind die apriorischen Setzungen einer positivistisch ausgerichteten Wissenschaft von keiner anderen Qualität als das, was ich Glauben nenne, nämlich ein »unbedingten(s) Vertrauen oder Sich-Verlassen auf etwas oder jemanden, wissenschaftlich relevant meist in Gestalt der selbstverständlichen Voraussetzungen eigenen Denkens, Fühlens und Lebens«.40 Der Theologe würde ergänzend nur fragen, ob diese Bindung an Apriori nicht noch mehr als allein rationale Setzungen sind. Und bezieht man die frühjüdische Debatte mit ein, schließt sich eine weitere Frage an: Gibt es ergänzend zur Erfahrung zusätzliche Erkenntnisquellen, wie sie Sirach und die Sapientia in Gestalt des Rekurses auf Gott und auf eine göttliche Offenbarung mit ins Spiel bringen? Erkennen an Grenzen als Verweis auf neue Diskursräume und auf ergänzende Erkenntnisquellen?41
Grenzüberschreitung mit Blick auf das Erkenntnissubjekt – oder: Wer vermag was zu erkennen?
Ist die Reichweite oder Möglichkeit von Erkenntnis abhängig vom Erkenntnissubjekt? Greifen wir auf den eingangs erwähnten Giambattista Vico zurück, so würde er dies bejahen. Er denkt den Menschen analog zu Gott und abgeleitet von ihm als schöpferisch Tätigen. Im Erschaffen der Dinge sieht Vico die Voraussetzung für eine Überführung von verum und factum, vom Wahren und Faktischen. Realität für den Menschen und so auch Gegenstand seiner Erkenntnis werden die Dinge erst als Teil seiner Welt. Damit erschließt sich dem ethisch verantwortlich handelnden Menschen anderes oder es erschließt sich ihm anders als dem berechnenden Zyniker und Gewaltmenschen. Denkt man auf diesem Hintergrund die Position der Sapientia Salomonis’ und Sirachs, so kommt demnach dem vorhandenen oder nicht vorhandenen Gottesverhältnis Einfluss auf die Erkenntnisfähigkeit des Menschen zu. Nach der Sapientia generiert der Erkenntnishorizont »ewiges Leben« oder »ewiger Gott« zusätzliche Einsicht. Solche Fragen, wie sie eine alttestamentlich-historische Skizze aufwirft, sind nicht nur im Binnenraum der Theologie von Bedeutung. Auch die anhaltenden Debatten in den Sozial- und Kulturwissenschaften zur Subjektivität des Forschers belegen dies.
Zuletzt soll es um Grenzüberschreitung mit Blick auf die Art und Weise des Erkennens gehen. An dieser Stelle ist besonders der Blick auf die Heterotopie, die sich in der Selbstvorstellung der Weisheit in Prv 8,29b–31 zeigt, erhellend. Ein solcher Blick zeigt uns ganz im Sinn der Foucaultschen Heterotopie Wirkliches, uns Bekanntes an einem Ort außerhalb all unserer Wirklichkeit. Wir bekommen die Weisheit, also Wissen, Erkenntnis und Fertigkeit, die wir täglich benötigen und um die wir an einer Universität forschend und lehrend ringen – wir bekommen sie spielend, als Vergnügen und im Gegenüber zu dem kreativ tätigen Gott vorgestellt.
Welche Diskurse vermag ein solcher Blick über die Grenze – vielleicht blitzartig – zu erhellen? Wie steht es um das Spielen in Wissenschaft und Forschung? Gibt es einen Raum zum Spiel mit Denk- und Handlungsmöglichkeiten – einen Raum, um neue hervorzubringen und auszuprobieren? Sicher werden viele sagen, dass exakt darin kreative Forschung – jedenfalls in vielen Bereichen – besteht. Und doch frage ich noch einmal: Sind die Räume unseres Forschens und Lehrens in ausreichendem Maße Spielräume? Zum Spiel, wie es Kinder praktizieren,42 gehört der geschützte Raum, der, durch zu verantwortende Spielregeln bestimmt, Handlungssicherheit, aber eben auch das phantasiereiche und kreative Ausprobieren ermöglicht. In dieser umgrenzten, darin aber freigegebenen Weise ist es ein ernstes Spielen. Ein Scheitern im Spiel bleibt außerhalb der abgesteckten Spielräume ohne Folgen, auch wenn das Spiel selbst nicht folgenlos sein mag. Darüber hinaus ereignet sich im Spiel beides – Steigerung und Reduktion von Komplexität. Die Weisheit spielt. Wie steht es um das Spielen in Wissenschaft und Forschung?
Die Weisheit ist nach Prv 8 Vergnügen – coram Deo und coram hominibus. Wie steht es um das Vergnügen in der Wissenschaft? Darf es Freude oder gar Lust machen? Wer eine solche Frage in Zeiten wie den unserigen stellt, muss befürchten, dass der gesammelte Zorn der gremien-, reform- und evaluationsgequälten Kolleginnen und Kollegen in spöttischem Lächeln oder in Sarkasmus auf ihn hernieder kommt. Und doch finde ich nicht nur in forschungsgeschichtlichen Darstellungen früherer Jahrhunderte, dass wissenschaftliches Forschen und Lehren Vergnügen machte.
Die Weisheit spricht: Es macht mir Freude, Lust, Vergnügen – neugierig zu sein, zu fragen, mir Rat zu holen, den Blick eines anderen einzunehmen, weiter zu fragen und weiter zu forschen. Es macht Freude und Lust etwas herauszufinden, zu widerlegen, sich zitiert und vielleicht sogar bestätigt zu sehen. Und es macht Freude, Lust und Vergnügen, davon lehrend andere anzustecken, ihnen diese Neugier, diese Unzufriedenheit mit den alten, ungenügenden Antworten in den Kopf zu setzen und die Entdeckerfreude eines Wissensdurstigen dazu.
Wie steht es um die Passio, um die Leidenschaft zur Sache, mit der wir umgehen – noch einmal hinschauen, noch einmal besser verstehen wollen? Ganz bei der Sache zu sein und so zugleich ganz bei sich zu sein.
Spielend, vergnüglich ist die Weisheit in Prv 8 ein Gegenüber zu dem kreativ tätigen Gott und ein Gegenüber zu den Menschen. Nicht allein in einer alttestamentlich-biblischen Anthropologie kommt der Mensch als ein zoon politicon, als ein relationales Wesen in den Blick. Was bedeutet diese wesenhafte Bezogenheit auf ein Gegenüber für Wissen und Wissenschaft, für Erkenntnisgewinn, Wandel im Verstehen und die Qualität all dessen?
›Es ist nicht gut – förderlich – schön, dass der Forscher allein ist.‹ – so könnte man in Abwandlung eines bekannten Zitats aus der Genesis43 sagen. Die Weisheit von Gott und Menschen illustriert dies auf ihre Weise. Wissen und Verstehen – so sagt dieses Bild – braucht den Anderen, muss ihn als Korrektiv und Ergänzung wollen. Angelockt und zugleich herausgefordert durch anderes Wissen und abweichende Erkenntnis und dabei Lernender und Mitstreiter, Kommilitone.
Was befördert interdisziplinäres Wissen und Verstehen? Es sind dies Räume des Gesprächs, des Austausches, Räume der Neugier und Anerkennung, des wertschätzenden Umgangs miteinander – eine Heterotopie im Wissenschaftsbetrieb des Jahres 2007?
Grenzüberschreitungen – sie wecken Zweifel, Unbehagen und Ungewissheit. So mag es auch den um den rechten Glauben ringenden Kollegen des Verfassers der grenzgradigen Aussagen zur Weisheit im Proverbien-Buch gegangen sein. Verschwindet, so kann man zu den besehenen Befunden fragen, angesichts solcher Skepsis Gott nicht hinter dem reinen Postulat seiner guten (Kohelet) und gerechten (Hiob) Wirksamkeit? Verbleibt nicht ein willkürlicher und unverstehbarer Gott? Oder – in Richtung der Weisheitsgestalt aus Prv 8 gefragt: Wird hier Gott nicht zur gesichtslosen, apriorischen Setzung, der man allein via Weisheit ansichtig wird? Wird Gott nicht tendenziell entbehrlich, spätestens wenn in einer säkularen Interpretation das Gegenüber einer mehr als menschlichen Weisheit und damit das Spannungsfeld zwischen der mir und uns zugänglichen und einer noch nicht zugänglichen Weisheit verschwindet?
Grenzüberschreitungen – sie geben zugleich den Blick frei auf neue Möglichkeiten. Im Sprachspiel des Proverbienbuches wird eine Verlockung versucht – die Verlockung zum Erkennen und Verstehen. Gelockt in den Spielraum von Wissen und Wissenschaft. Gelockt in die Beziehung zur Sache. Gelockt in den Raum wechselseitiger Inspiration. Dieser Verlockung sollten wir Raum schaffen.

Summary
Since Immanuel Kant and Giambattista Vico the critic of reason and potential experience and knowledge are essential parts of modern science. In this contribution it is discussed whether there are reflections on potentials and limits of knowledge and cognition in the Old Testament and Early Jewish Wisdom Literature or not. Analysing Kohelet, Job and Proverbs 8:22–31 we find a multiplicity of aspects: God as the limit of human experience and knowledge; an optimism of knowledge combined with the figure of a personified wisdom that mediates between the human and world as well as the human and God. How these aspects of the Old Testament and Early Jewish reflections have been used in the Wirkungsgeschichte and how they may contribute to our current discussions on wisdom and science are the final questions.


Fussnoten:

* Der Aufsatz geht auf die Vorlesung zum Antritt am Lehrstuhl für Altes Testament der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg im Januar 2007 zurück. Der Stil des mündlichen Vortrags wurde weitgehend beibehalten.
1) Einen Überblick zu Geschichte und Problemstellungen geben G. Gabriel, Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Von Descartes bis Wittgenstein, Paderborn, 2. Aufl. 1998, und N. Schneider, Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert. Klassische Positionen, Stuttgart 1998.
Zum Wandel des Verhältnisses von Erkenntnistheorie und Methodik mit Descartes sowie zur nachfolgenden Debatte vgl. H. W. Arndt und F. Kambartel/E. Welter, Art. Methode. V. Neuzeit, Hist. Wb. Philos. 5, Basel-Stuttgart 1980, Sp. 1313–1323 und 1323–1332.
2) Zur neueren Kant-Forschung G. Hindrichs, Warum Kant heute? Zur Kantforschung in Kants zweihunderstem Todesjahr, PhR (51) 2004, 97–121.
3) Der Entwurf zu einem neuen, prozessoralen Verständnis der Raumkategorie findet sich bei M. Löw,
Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001.
4) Vgl. Giovanni Batista Vico, Inauguralrede von 1699, Le orazioni inaugurali, I–VI, Bologna 1982, 83.
5) Orginalton Vico, der sich in »Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung« gegen eine Trennung dieser Bereiche sowie gegen die Unterordnung von Phantasie bzw. Handeln unter Vernunft bzw. Logik wendet: »Damit nun beide Fehler vermieden werden, sollte man, meine ich, die jungen Leute in allen Wissenschaften und Künsten, ohne ihrem Urteil vorzugreifen, unterrichten, so dass sie für die Gemeinplätze der Topik reichen Gehalt gewinnen können, und inzwischen durch den Allgemeinsinn zur Klugheit und zur Redekunst heranwachsen, und in der Phantasie und Gedächtnis sich für die Künste, deren Stärke diese Geisteskräfte sind, befestigen; dann sollten sie das kritische Denken lernen, und nun erst damit anfangen, über das, was man sie gelehrt hat, selbstständig zu urteilen, und sich üben, sowohl dafür wie dagegen zu sprechen« (Giovanni Batista Vico, Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung. Godesberg, 1947, 36 f.).
6) Zur neueren Diskussion um Vico und seiner Bedeutung für die Gegenwart vgl. J. Trabant, Neue Wissenschaft von alten Zeichen: Vicos Sematologie, Frankfurt a. M. 1994; R. W. Schmidt, Die Geschichtsphilosophie G. B. Vicos, Würzburg 1982; S. Otto, Giambattista Vico: Grundzüge seiner Philosophie, Stuttgart 1989, und S. Woidich, Vico und die Hermeneutik: eine rezeptionsgeschichtliche Annäherung, Würzburg 2007.
7) Zur Logik des rasanten Umbaus europäischer Hochschulkultur vgl. J. van Oorschot, L. Allolio-Näcke, Bologna? Oder: Wohin die Reise gehen soll … In: Psychologie & Gesellschaftskritik, 31 (1) 2007, 93–128.
8) Der noch unreflektierte, nicht explizierte Gottesbezug diente W. McKane, Proverbs. A New Approach, OTL 22, London 1970, als ein Kennzeichen der älteren Spruchweisheit. Erst spätere Phasen in der Entwicklung des Spruchguts führten seiner Analyse nach zu einer Theologisierung, sprich: der Explikation des vorher fraglos vorausgesetzten Bezugs auf JHWH.
9) Koh (1,9) 1,14; 3,16; 4,1.3.7.15; 5,12.17; 6,5 und 8,9.
10) A. Schellenberg, Erkenntnis als Problem. Qohelet und die alttestamentliche Diskussion um das menschliche Erkennen, OBO 188, Freiburg und Göttingen 2002, 165–167 und 196. Demnächst dazu J. van Oorschot, König und Mensch – Biografie und Autobiografie bei Kohelet und in der alttestamentlichen Literaturgeschichte, in: A. Berlejung u. a. (Hrsg.), Mensch und König, HBS, Freiburg 2008.
11) Bereits die antike Philosophie eines Platon und Aristoteles kennt das Gegensatzpaar von Grenze (peras) und Unbegrenztem (apeiron) als einer der vier Arten des Seienden bzw. als Grundprinzip der Naturphilosophie. Leibniz führt die deutschen Begriffe »Schranke« und »Grenze« in die Debatte ein, Kant verwendet sie in der Erkenntnistheorie. Fichte nun bestimmt auf diesem Hintergrund die Eigenart des philosophischen Erkennens als Erkennen der Grenzen des reinen Vernunftgebrauchs, »sein vollendetes Sichbegreifen« als »eben das Begreifen dieser Grenze«. (G. Fichte, Werke 4, F. Medicus [Hrsg.], 1962, 4, 230.) Der Grenze wohnt damit ein Verweischarakter inne, durch den die sich selbst begrenzende Vernunft auf das jenseits ihrer liegende deutet. – vgl. F. Fulda, Artikel Grenze, Schranke, in: Hist. Wb. Philos. 3, Basel-Stuttgart 1974, Sp. 875–877.
Karl Jaspers verwendet den Grenzbegriff in seiner »Psychologie der Weltanschauungen« (1919) und in seiner »Philosophie« aus dem Jahr 1932. Letzte Situationen im Sinn von letzten Wirklichkeiten, die mit dem endlichen Dasein des Menschen verbunden sind, bezeichnet er als Grund- oder Grenzsituationen (Geschichtlichkeit, Zufall, Herkunft, Tod, Leiden, Kampf, Schuld). Verschleiert der Mensch sie, verliert er sich selbst. Lässt er solche Grenzerfahrung zu, so bricht er selbst im Scheitern zu seiner Existenz durch. Damit wird an der Grenze Beschränkung und Transzendierung erfahren.
12) A. A. Fischer, formuliert diesen Sachverhalt theologisch dicht im Abschluss seiner Dissertation »Skepsis oder Furcht Gottes? Studien zur Komposition und Theologie des Buches Kohelet«, BZAW 247, Berlin-New York 1997, 248–251.
13) Anhand der Beiträge von K. Dell, The Book of Job as Sceptical Literature, BZAW 197, Berlin-New York 1991, sowie (im Druck) dies., Job. Sceptics, Philosophers and Tragedians, in: T. Krüger, M. Oeming, K. Schmid, Chr. Uehlinger (Hrsg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen (AThANT 88), Zürich 2007, ist immer wieder die Frage nach der Angemessenheit einer Rede von weisheitlicher Skepsis in frühjüdischer Literatur im Vergleich zu jener in griechischer Tradition debattiert worden. Auch wenn die Kontexte deutlich different sind, ist eine Verwendung des Terminus erhellend.
14) Von dieser Überlegung ausgehend erschließt sich etwa auch die Zuordnung von Rahmenerzählung und Dichtung – vgl. meine redaktionsgeschichtliche These zu einer Gottesfurcht-Redaktion (im Druck) J. van Oorschot, Die Entstehung des Hiobbuches, in: T. Krüger, M. Oeming, K. Schmid, Chr. Uehlinger (Hrsg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen (AThANT 88), Zürich 2007.
15) Mit Schellenberg, Erkenntnis (Anm. 10), 210, und gegen J. van Oorschot, Hiob 28: Die verborgene Weisheit und die Furcht Gottes als Überwindung einer generalisierten håkmâ, in: The Book of Job, ed. W. A. M. Beuken, Bibliotheca Ephemeridum Theologicorum Lovaniensium CXIV, Leuven 1994, 183–201, ist hier nicht von zwei Begriffen von Weisheit zu sprechen.
16) Zum Verständnis der Rahmenerzählung als Teil einer Gottesfurchtredaktion vgl. (im Druck) J. van Oorschot, Entstehung (Anm. 14).
17) Prv 1,20–33; 3,13–20; 6,1–19; 8,1–36; 9,1–6.111.13–18 – vgl. M. V. Fox, Proverbs 1–9, AncB 18A, New York 2000, 322–330.
18) Darauf wies schon A. Meinhold, Die Sprüche. ZBK.AT 16 1/2, Zürich 1991, 146 f., hin, zieht daraus jedoch andere Konsequenzen, wenn er die »Gottunmittelbarkeit ... nicht für alle Zeiten, sondern nur für die Schöpfung ausgesagt« sieht.
19) Zur textkritischen Debatte des schwer deutbaren amon vgl. ausführlich G. Baumann, Die Weisheitsgestalt in Proverbien 1–9, FAT 16, Tübingen 1996, 131–138, und M. Neher, Wesen und Wirken der Weisheit in der Sapientia Salomonis, BZAW 333, Berlin-New York 2004, 47–48, die zu deutlich differenten Entscheidungen als »Schoßkind« und »Werkmeister« (bei ihm bezogen auf JHWH!) kommen. Philologisch möglich sind beide Varianten und so kann gefragt werden, ob die Verfasser nicht von vorneherein beide Vokalisations- und Bedeutungsvarianten bewusst im Blick hatten und so einmal mehr in diesem Text die Zuordnung von JHWH und Weisheit zwischen einer Inspirations- und Mittlergestalt und einer stärker eigenständigen Rolle changieren ließen.
20) Vgl. Prv 1,7.
21) Schellenberg, Erkenntnis (Anm. 10), 220.
22) Schellenberg, Erkenntnis (Anm. 10), 223, spricht an dieser Stelle von einer »Doppelstruktur«.
23) Vgl. Anm. 18.
24) Zur Versumstellung vgl. ausführlich R. Schäfer, Die Poesie der Weisen. Dichotomie als Grundstruktur der Lehr- und Weisheitsgedichte in Proverbien 1–9, WMANT 77, Neukirchen-Vluyn 1999, 224–227.
25) Vgl. etwa Ps 1,1 f. und 119,1 f. – dazu G. Baumann, Weisheitsgestalt (Anm. 19), 156 f.
26) Neben einer kultischen Verwendung dient der Begriff vor allem zur Kennzeichnung zwischenmenschlicher Verhältnisse oder – anlog – des Verhältnisses zwischen Gott und Israel bzw. einzelnen Frommen.
27) G. Baumann, Weisheitsgestalt (Anm. 19), 171.
28) Von der Weisheit als einer Eigenschaft Gottes kann man in dieser Konzeption nur sprechen (M. Neher, Wesen und Wirken der Weisheit [Anm. 19], 49), wenn man das spezifische Aussageprofil von Prv 8 durch den älteren, umgebenden Kontext nivelliert.
29) Schon im Sirachbuch steht das Lehren und Lernen nicht allein in der Verfügung des Menschen selbst. Es wird vielmehr durch den Gedanken der Inspiration an Gott zurückgebunden. Weisheit des Menschen kommt nur durch die entsprechende göttliche Eingebung zu Stande – Sir 39,5–11. Einsicht ergibt sich als Folge von Gebet und des Erfüllt-Werdens mit dem Geist Gottes. Nach Sir 24,33 gießt Gott Lehre wie Prophezeiung aus.
30) Analog wäre für andere Literaturbereiche des Alten Testaments die Funktion des Moments »Geschichte« und einer entsprechenden Rückfrage nach »den Geschichten« und »der Geschichte« herauszustellen.
31) Diese Besonderheit hebt sich aus dem ansonsten kollektiv bestimmten Denken des Alten Orients und des Alten Testaments heraus. Das dabei in den Blick kommende »Ich« darf jedoch nicht im Sinn des neuzeitlichen Subjektes als aus sich heraus Erkenntnis schaffendes Individuum verstanden werden.
32) S. o. Anm. 10.
33) Vgl. die wissenschaftstheoretische Fassung des »Glaubensbegriffs« in J. van Oorschot, L. Allolio-Näcke, Plädoyer gegen den Luxus des Missverstehens. Zur Debatte zwischen Carl Ratner und Barbara Zielke um den Sozialen Konstruktionismus Kenneth J. Gergens [46 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research [On-line Journal], 7 (2), Art. 17, 2006. Verfügbar über: http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/2-06/06-2-17-d.htm [Zugriff: 23, 07, 2007]. Online-Publikation.der Debatte um den Sozialen Konstruktivismus – Absatz 38–46.
34) M. Foucault, Andere Räume, in: K. Barck u. a. (Hrsg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, (34–46) 39.
35) M. Foucault, Andere Räume, 39, und ders., Vorrede zur Überschreitung, in: Ders., Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Band 1, Frankfurt a. M. 2001, 326.
36) C. Keitel, L. Allolio-Näcke, Erfahrungen der Transdifferenz, in: L. Allolio, B. Kalscheuer, Arne Manzeschke (Hrsg.), Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz, Frankfurt a. M., (104–117) 111.
37) So mit Keitel, Allolio-Näcke (Anm. 36).
38) M. Foucault, Vorrede (Anm. 35), 2001, 326.
39) Strukturanalog begegnet diese unaufhebbare Rückbindung von Erkenntnis an Erfahrung bereits in Teilen der oben dargestellten Weisheitsliteratur.
40) J. van Oorschot, L. Allolio-Näcke, Plädoyer (Anm. 33) – Absatz 46.
41) Die philosophische Ästhetik müht sich bis in religiöse Begrifflichkeiten und Vorstellungen hinein, um eine Erschließung von Zugängen zur Wirklichkeit, die in neuer Weise das Programm der »sinnlichen Erkenntnis« Alexander Baumgartens belebt – vgl. etwa M. Seel, Ästhetik des Erscheinens, stw 1641, Frankfurt a. M. 2003.
42) Eine gerade im Erscheinen begriffene Zusammenfassung der psychisch relevanten Aspekte des kindlichen Spiels liefert R. Oerter, Zur Psychologie des Spiels, Psychologie & Gesellschaftskritik 31 (4), 2007. Danach gibt es in diesem Zusammenhang vier relevante Aspekte: die Handlung um der Handlung willen, der Wechsel des Realitätsbezugs, die Wiederholung und das Ritual sowie der Gegenstandsbezug. Spielen ist immer Realitätsbezogen (Freud: Wunscherfüllung und Katharsis; Wygotski: Realisation unrealisierbarer Wünsche; Piaget: Assimilation als Gegenwehr). Anders als in den exegetischen Darstellungen von Baumann und Schellenberg gibt es demnach kein zweckfreies Spielen. Der romantisierende Traum einer spielenden Rückkehr des Erwachsenen zum Kind-sein ist somit weder psychologisch noch theologisch zu begründen.
43) In Gen 2,18 ff. geht es ursprünglich um die Sozialität des Menschen, dargestellt an der Geschlechterbeziehung. Erst die sekundäre Ergänzung von Gen 2,24 macht daraus eine Eheätiologie.