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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

1011–1013

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Felmy, Karl Christian

Titel/Untertitel:

Einführung in die orthodoxe Theologie der Gegenwart.

Verlag:

Berlin/Münster: LIT 2011. XX, 310 S. m. 8. Abb. 23,5 x 16,2 cm = Lehr- und Studienbücher zur Theologie, 5. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-643-11199-9.

Rezensent:

Jennifer Wasmuth

Bei diesem Buch handelt es sich um eine Neubearbeitung des 1990 unter dem fast gleichnamigen Titel erschienenen Werkes »Die orthodoxe Theologie der Gegenwart. Eine Einführung« von Karl Christian Felmy. Die grundlegende Struktur und Ausrichtung sind in der Neubearbeitung erhalten geblieben – und damit auch die Vorzüge eines Werkes, das bereits ins Russische, Italienische, Ru­mänische, Spanische, Polnische und Bulgarische übersetzt worden ist.
Der Vf., der sich jahrzehntelang mit der Geschichte und Theologie des christlichen Ostens intensiv beschäftigt und an zahlreichen ökumenischen Begegnungen teilgenommen hat, legt in seiner »Einführung« neuere Konzeptionen orthodoxer Theologie kenntnisreich dar. Wenn dabei immer wieder auch auf das patristische Erbe sowie die liturgische, hymnische und ikonographische Tradition Bezug genommen wird, so erweist sich das nicht nur als sinnvoll, weil ein starker Traditionsbezug zum konfessionsspezifischen Merkmal der Orthodoxen Kirche gehört, sondern auch, weil die neuere orthodoxe Theologie sich die Aneignung namentlich dieser Traditionen zur Aufgabe gemacht hat.
Ins Zentrum rückt der Vf. den Begriff der »Erfahrung«, der im Unterschied zu einem pietistischen, individualistisch geprägten Verständnis »Erfahrung« als »die gottesdienstliche und in der Kirche rezipierte asketische Erfahrung« (22) meint und der deshalb auch mit »Kirchlichkeit« (3) gleichgesetzt werden kann. Dieser Be­griff von Erfahrung erweist sich im Zuge der Darstellung als überaus hilfreicher Schlüssel zum Verständnis orthodoxer Theologie der Gegenwart, denn darin findet sich ein gemeinsamer Grund der vielfältigen, im Einzelnen stark voneinander abweichenden Konzeptionen – nicht nur in Abgrenzung zu Konzeptionen anderer Konfessionen, sondern auch der im 17., 18., frühen 19. Jh. vorherrschenden orthodoxen, durch begriffliche Distinktionen gekennzeichneten »scholastischen« Theologie.
Die Entfaltung des Erfahrungsbegriffes erfolgt in Kapitel 1. Dem schließt sich in der ersten Hälfte des Buches die Behandlung der Gotteslehre (Kapitel 2: »Apophatische Theologie«, Kapitel 3: »Die Erfahrbarkeit Gottes als Vater, Sohn und Heiliger Geist«), der Chris­tologie und der Pneumatologie (Kapitel 4 und 5) an, sodann in der zweiten Hälfte der Soteriologie (Kapitel 6 »Erlösung und Vergöttlichung«), der Ekklesiologie und der Sakramentstheologie (Ka­pitel 7 »Die Kirche – Ort der orthodoxen Glaubenserfahrung«, Kapitel 8 »Die Mysterien in der Erfahrung der Kirche«). Abschließend wird, dem Aufbau orthodoxer Dogmatiken folgend, der »eschatologische Grundzug der orthodoxen Theologie« (Kapitel 9) deutlich gemacht.
Die Neubearbeitung zeichnet sich zunächst durch aktualisierte und ergänzte Literaturhinweise aus: am Anfang des Buches, wo einführende Titel genannt werden, am Ende eines jeden Kapitels, wo sich spezielle Titel finden, wie auch in den Fußnoten. Sodann werden am Ende eines jeden Kapitels thesenhafte Zusammenfassungen geboten, die pointiert die wesentlichen Aussagen festhalten. Schließlich sind die einzelnen Kapitel inhaltlich überarbeitet und dem aktuellen Stand der Diskussion angepasst worden. Insbesondere zwei Kapitel sind dabei stark ergänzt bzw. neu geschrieben worden: zur »Kenosis des Göttlichen Logos« (Kapitel 4.2) sowie zur »Erlösung und Vergöttlichung« (Kapitel 6).
Das Kapitel zur Kenosislehre, das auf den ersten Blick einem über eine Einführung hinausweisenden Spezialthema gewidmet zu sein scheint, ist insofern von besonderer Bedeutung, als es deutlich macht, dass es trotz der für den orthodoxen Glauben insgesamt kennzeichnenden »asymmetrischen Christologie« mit einer deutlichen Akzentuierung der Gottheit Christi (vgl. dazu Kapitel 4.1) bemerkenswerte Ansätze innerhalb der neueren orthodoxen Theologie gibt, die menschliche Existenz Jesu Christi theologisch zu reflektieren. Wenn sich, wie der Vf. aufzeigt, zwar auch Hinweise auf die Kenosis Christi in der liturgischen Tradition (Feste der Gottesmutter, Anaphora des hl. Basilius, Karwoche) finden, so wurden die neueren orthodoxen Ansätze vor allem durch lutherische Kenotiker beeinflusst, insbesondere von Gottfried Thomasius (1802–1875) und Christoph Ernst Luthardt (1823–1902), dessen Werke teilweise in russischer Übersetzung erschienen sind. Dies zeigt sich namentlich bei dem an der Geistlichen Akademie von Moskau tätigen Michail Tareev (1866–1934), bei dem die Versuchung Jesu durch den Satan (Mk 1,12–13 par) sowie im Garten Gethsemane (Mk 14,32–42) als Heilsereignis ins Zentrum rückt, sowie bei dem Exiltheologen Erzpriester Sergij Bulgakov (1871–1944), der die Kenosislehre nicht nur – in gewiss anfechtbarer, zugleich aber zum Nachdenken anregender Weise – auf die innertrinitarischen Beziehungen bezogen hat, sondern der auch wie kein anderer orthodoxer Theologe deutlich gemacht hat, dass »der Gottessohn wirklich Angst hat, dass er als Mensch zu Gott betet und das Bewusstsein der Gottesverlassenheit kennt«, bei dem, mit einem Wort, das »Bewusstsein, Gottes Sohn zu sein, die Leiden Christi nicht gemindert hat« (84 f.).
Der sich bei den Ansätzen orthodoxer Kenosislehre zeigende Einfluss westlicher Theologie wird insbesondere auch in jenem dogmatischen Lehrstück greifbar, bei dem die neuere orthodoxe Theologie am wenigsten auf klare Vorgaben aus der eigenen Tradition zurückgreifen kann: der Soteriologie. Inwiefern dieser Einfluss zu theologisch fragwürdigen Ergebnissen geführt hat, zeigt der Vf. an widersprüchlichen Aussagen des als »protestantisierend« geltenden Erzbischofs Feofan (Prokopovi č; 1681–1736) zur Lehre vom Schatz überschüssiger Werke auf (vgl. 162). Die Problematik einer weitgehend unreflektierten Übernahme juridischer Vorstellungen namentlich bei dem Metropoliten Makarij (Bulgakov; 1816–1882) wird ebenso deutlich wie die ihrerseits unter dem Einfluss des Göttinger Systematikers Albrecht Ritschl (1822–1889) erfolgende Kritik dieser Vorstellungen in einer Reihe von Arbeiten, die am Ende des 19., Beginn des 20. Jh.s in Russland entstanden sind. Wegweisend scheinen dabei einmal mehr jene Ansätze zu sein, die im Rückgriff auf das patristische Erbe die Soteriologie unter den Leitbegriffen der »Synergeia« und »Theosis« konzipieren, wie es bei Vladimir Lossky, Georgij Florovskij, Dumitru St ăniloae, Christos Yannaras und Ioannis Zizioulas geschieht. Der Vf. selbst zeigt zudem, wie sich aus den liturgischen Texten Kriterien für eine authentische orthodoxe Soteriologie gewinnen und Engführungen der Vergangenheit vermeiden lassen, was das Soteriologie-Kapitel zu einem der wichtigs­ten Kapitel des Buches macht.
Kritisches bleibt wenig anzumerken – an einigen Stellen wäre (selbst im Rahmen einer Einführung) eine historisch präzisere Formulierung wünschenswert gewesen (so ist beispielsweise zwar, wie es auf S. 53 heißt, von einer Annahme des Nicaeno-Constantinopolitanums von 381 auf dem Zweiten Ökumenischen Konzil auszugehen, überliefert ist der Text jedoch erst mit den Konzilsakten des Konzils von Chalcedon 451, weshalb der Ursprung des Textes in der Forschung höchst umstritten ist), zumal in Kapitel 3.2 über den »Streit um das Filioque« zudem auch eine stärkere Bezugnahme auf positive Ansätze ökumenischer Verständigung, die es inzwischen in dieser Frage gibt. Vor allem aber wäre bei der für »westliche« Leser nicht geläufigen Terminologie ein Glossar wie auch die Transkription der Titel in kyrillischer Schrift nützlich gewesen. Um das Nachschlagen einzelner Theologen wie auch zentraler Be­griffe zu ermöglichen, hätte es zudem eines Registers bedurft – gerade weil das Buch so viele nützliche Informationen enthält und die orthodoxe Theologie der Gegenwart in ihren wichtigsten Vertretern so vorzüglich erschließt.