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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

1007–1008

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Richter, Martin

Titel/Untertitel:

Kirchenrecht im Sozialismus. Die Ordnung der evangelischen Landeskirchen in der DDR.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XIX, 259 S. 23,0 x 15,5 cm = Jus Ecclesiasticum, 95. Lw. EUR 64,00. ISBN 978-3-16-150645-1.

Rezensent:

Wolfgang Ratzmann

Unter den bisherigen monographischen Arbeiten über die evangelischen Landeskirchen und den evangelischen Kirchenbund in der DDR fehlt bisher eine größere Arbeit, die das Kirchenrecht in der DDR in den Blick genommen hätte. Ein solcher Versuch liegt mit der Arbeit von Martin Richter vor, der in seiner Tätigkeit als Dezernent für Kirchen- und Staatskirchenrecht im Konsistorium der EKBO in Berlin immer wieder alten ost- und westdeutschen Kirchenrechtsbeständen begegnet ist und daraus die Frage abgeleitet hat, »welche Rolle das Kirchenrecht bei der Wahrung der Eigenständigkeit der Kirche in der DDR gespielt hat« (V). Es ist so freilich fast unvermeidlich, dass der leitende Blick R.s relativ stark auf die Verhältnisse in Berlin-Brandenburg und auf die EKU gerichtet ist und die lutherischen Landeskirchen in der DDR etwas weniger in den Blick kommen.
R. untersucht in Teil I wesentliche Rahmenbedingungen des kirchenjuristischen Arbeitens in der DDR (die staatskirchenrechtlichen Gegebenheiten, die kirchlichen Organisationsstrukturen, die Kirchenjuristen und deren Ausbildung und das Kirchenrecht der DDR im Schrifttum). Das Recht des Verhältnisses von Staat und Kirche sei »von einer eigenartigen Ambivalenz« gekennzeichnet, weil die Kirchen für den sozialistischen Staat »inkommensurabel« gewesen seien. Repressalien gegen Christen stünden einer »letztlich privilegierte[n] Stellung der Kirche« entgegen, die sie als ein­-zige nicht von der SED gesteuerte und von ihr als Körperschaft respektierte Institution innegehabt hätte (15).
Teil II (33–115), das Herzstück des Buches, gibt einen Überblick über das in der DDR erschienene kirchenrechtliche Schrifttum, und zwar über die Rechtstheologie, das kirchliche Verfassungsrecht, die Lebensordnungen, das Dienst- und Arbeitsrecht und über Finanzen und Verwaltung. Dabei wird deutlich, wie das kirchliche Bestreben, die Eigenständigkeit der Kirchen vor staatlicher Einmischung zu bewahren, einerseits dazu führte, verschiedene Bestimmungen aus den Zeiten vor 1933 festzuhalten, wie aber andererseits der massive Druck auf die Kirchen, bedingt durch ihre starke Minorisierung und die dringliche missionarische Perspek­tive, Veränderungen unabwendbar machte. Bei diesen Veränderungen spielten rechtstheologische Gedanken vom »Ende des Konstantinischen Zeitalters« ebenso eine Rolle wie Überlegungen, in­wieweit man sich im Sinne eines Dritten Weges vom Westen auch kirchenrechtlich abgrenzen und von den Gegebenheiten des sozialistischen Staates ausgehen solle, ohne dieses System bedingungslos zu begrüßen. Einen großen Einfluss für missionarische Veränderungstendenzen schreibt R. neben der Theologie von Barmen und D. Bonhoeffer zu Recht der »Strukturstudie« des ÖRK zu, in der seit 1961 eine Arbeitsgruppe aus den Kirchen in der DDR engagiert mitarbeitete. Dabei bezieht er auch wichtige theologische Literatur (wenn auch nur ausschnitthaft) mit ein. Von seiner kirchenrechtlichen Perspektive her konstatiert R. durch diese Im­pulse vor allem eine »Renaissance anstaltlicher Elemente« (82), verbunden mit der Aufwertung der mittleren Ebene und dem Dienstleistungscharakter der Kirche. Die unterhalb der Gemeindeebene wichtige Kleingruppenstruktur, die in vielen Hauskreisen und Ge­sprächsgruppen Gestalt angenommen hatte, übersieht R. allerdings da-bei, vielleicht weil diese Gestalt weniger kirchenrechtlich relevant sein mag. Überzeugend wird dargestellt, wie auf dem Hintergrund einer geringer werdenden konfessionellen Prägekraft und der ra­santen Minorisierung der Kirche sowohl ein gemeinsames Pfarrerdienstrecht aller evangelischen Landeskirchen in der DDR entwickelt werden konnte wie auch wesentliche gemeinsame Schritte zu einer als »Öffnungsordnung« verstandenen Lebensordnung gegangen werden konnten.
Teil III (118–211) vereint in sich drei Detailstudien zum Mitgliedschaftsrecht des Kirchenbundes (u. a. mit Überlegungen zur Frage nach einem »Gaststatus« in der Kirche), zur kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit in der EKU und in ihren Gliedkirchen (diese Detailstudie fällt mit ca. 50 Seiten quantitativ etwas aus dem Rahmen) und zum politisch besonders spannenden Mitarbeitervertretungsrecht.
In einem knappen Schlusskapitel zieht R. ein Fazit und stellt fest, dass der gesellschaftliche Kontext der DDR und ihrer Gesetzlichkeit keine für die Kirche normative Qualität erhalten und das Kirchenrecht vielmehr im Dienst des kirchlichen Auftrags gestanden habe. Dieser habe aber die Kirchen dazu genötigt, ihre Ordnungen unter den veränderten Bedingungen des SED-Staates wei­terzuentwickeln. R. spricht hier sogar vom »Innovationspotential« des DDR-Kirchenrechts, das er angesichts zu vermutender gravierender Änderungen des landeskirchlichen Protestantismus in der Zukunft den Kirchenreformern ausdrücklich zur Prüfung empfiehlt. Für eine solche Prüfung stellt diese Studie selbst das nötigste Material bereit, verbunden mit einer dem Rezensenten sehr sympathischen Sicht von Kirchenrecht, das eher Spielräume eröffnen als nötige Veränderungen verhindern will. Sie sei allen denen empfohlen, Theologen ebenso wie Kirchenjuristen, die aus historischen oder aus kirchenreformerischen Gründen nach dem Kirchenrecht jener Jahre fragen, in denen schon einmal in Deutschland die evangelischen Landeskirchen unter einem massiven Veränderungsdruck gestanden haben.