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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

1002–1005

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Kreß, Hartmut

Titel/Untertitel:

Ethik der Rechtsordnung. Staat, Grundrechte und Religionen im Licht der Rechtsethik.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2012. 335 S. 23,2 x 15,5 cm = Ethik – Grundlagen und Handlungsfelder, 4. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-17-018670-5.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Angesichts der gegenwärtigen »Steuerungs- und Organisationskrise« in »Staat und Gesellschaft« (11) will Hartmut Kreß mit dem hier vorzustellenden Buch die Einsicht des Staatsrechtlers Hugo Preuß von der Unerlässlichkeit einer Konflikte regulierenden, integrativ wirkenden und unparteilichen Rechtsordnung für das Zusam­menleben im Staat neu mit Leben füllen. Dazu gliedert K. seine Arbeit so, dass er das Recht nicht abstrakt deduziert, sondern es als historisch gewachsene Kulturform bestimmt (Teil A). Die moderne säkulare Rechtsordnung steht in bestimmten Zusammenhängen und Spannungen zur Religion (Teil B) und erhält durch die Grund rechte der Menschenwürde und der Freiheit ihr ethisches Fun­-dament (Teil C). Als Funktion einer Rechtsordnung für unsere pluralistische Gesellschaft verweist K. besonders auf die Partizipationsgerechtigkeit, die Ermöglichung tragfähiger Kompromisse und die Notwendigkeit eines eigenverantwortlichen Lebens in Toleranz, bei gleichzeitigem Schutz vor deren Missbrauch (Teil D). K. hat damit nicht nur als grundlegendes Problem die Erosion der gegenwärtigen Rechtsordnung erfasst, sondern begegnet ihr auf sehr überzeugende Weise.
Der moderne, der Säkularisierung verpflichtete Rechtsstaat be­rücksichtigt »den sozioreligiösen Wandel« (46) und ist folglich weltanschaulich neutral. Damit erweist sich das sog. Böckenförde-Diktum – »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann« (25) – mit seinem einseitigen Rückbezug auf den religiösen – genauer: katholischen – Glauben der Bürger als Fundament des Staates für unsere gegenwärtige Gesellschaft als nicht adäquat. Zweifellos haben die Religionen ethik- und kulturgeschichtlich einen relevanten Beitrag zur Rechtsordnung geleistet, doch ist die Ordnung den Anforderungen des »heutigen kulturellen Pluralismus gemäß fortzuentwickeln« (48). Nur derart kultursensibel kann für die unterschied lichen – sich selbst auch wandelnden – anthropologischen und ethischen Standpunkte ein normativ tragfähiger Rahmen geschaffen werden. Die dazu nötige Voraussetzung hat sich im neuzeitlichen Naturrecht und der Aufklärungsphilosophie – dargelegt an Pufendorf, Kant und Mendelssohn – ausgebildet, indem Recht und Ethik entkoppelt wurden, was zur »konkreten Realisierbarkeit und der rechtsstaatlichen Gewährleistung individueller Freiheitsrechte« führt, ohne die »die moderne westliche Gesellschaft nicht vor-stellbar ist« (67), wobei die Rechtsordnung ihrerseits die äußere Ordnung des Staates und das Zusammenleben reguliert. Hierzu verlangt der Staat die Rechtsgesinnung seiner Bürger. Für das Verhältnis von Ethik und Recht bedeutet die Trennung beider die Möglichkeit einer kritischen Reflexion der Gesetze durch die Ethik. Andererseits ermöglicht die Rechtsordnung den Bürger in eigener Verantwortung sittliche Überzeugungen auszubilden und Handlungsspielräume zu realisieren. Indem der Staat seinerseits »die Grund- und Menschenrechte als Kernbestand staatlich verantworteter Bildung und die Einübung von Toleranz als Erziehungsziel« anerkennt, nimmt er indirekt Einfluss auf das Ethos der Bürger, das jedoch nicht zu einem »staatlichen moralischen Paternalismus« (84) führen darf. Aus dem hier dargelegten Verständnis der Rechtsordnung versteht es sich, dass auch Institutionen aller Art in die einheitliche staatliche Rechtsordnung eingebunden sind und es keine partikularen Rechtsformen geben darf. Wie brisant dieses Zwischenergebnis ist, zeigt sich an K.s Darstellung des religiösen Partikularrechtes (90–116), das er am Beispiel der römisch-katholischen Kirche und des Islam untersucht, da sie beide »rechtsförmig strukturiert« (91) sind.
Die katholische Kirche beansprucht einen Vorrang ihres naturrechtlich begründeten Sittengesetzes gegenüber dem staatlichen Recht und die Weisungsbefugnis zu Fragen des Glaubens und der Lebensführung. An den Beispielen des sexuellen Missbrauchs, der Folgen der Verrechtlichung der Moral im katholischen Arbeitsrecht und des Gesundheitswesens zeigt K. auf, dass die katholische Kirche aufgrund ihrer »Binnenstruktur einer Rechtskirche […] be­stimmte moralische Anschauungen […] zu Rechtsnormen« erhebt und damit »eigenständige rechtliche Befugnisse« (107) beansprucht, die elementaren Persönlichkeits- und Grundrechten von Mitarbeitern zuwiderlaufen. – Für den Islam benennt K. die Selbstreferenz des islamischen Rechtes, das Verständnis der Religion in der Logik von Rechtssätzen und die Interpretation von Staat und Recht im alleinigen Horizont des Islam als Hindernisse für dessen Anerkennung der Priorität staatlicher Gesetze und der Grundrechte vor binnenreligiösen Auffassungen. Rechtsethisch hebt K. zu­sam­menfassend die individuellen Freiheitsrechte gegenüber den binnenreligiösen Rechten hervor, denn das religiöse Partikularrecht darf die staatliche Rechtsordnung nicht überlagern.
Nunmehr kann K. die bereits angesprochenen Grundrechte als den normativen Kern der Rechtsethik ausführen (117–209), indem er die Menschenwürde als normativen Leitbegriff der Rechtskultur einführt. Hier ist nicht nur ein »eigenständiges Grundrecht« zum Schutz des Individuums formuliert, sondern auch ein »Basisbegriff der Verfassung, der seinerseits im Licht der […] Grundrechte auszulegen ist« (118). Aus K.s Ansatz beim Pluralismus folgt, dass sich der Begriff der Menschenwürde nicht mehr verbindlich in einer Religion oder Metaphysik begründen lässt, zumal er geistesgeschichtlich auf unterschiedlichen Denkwegen erschlossen werden kann. Deshalb plausibilisiert K. den Begriff der Menschenwürde für die heutige Rechtsordnung funktional: Die Menschenwürde repräsentiert »einen Wertekonsens der heutigen Gesellschaft« (150). Sie ermöglicht den »Aufweis von Unrecht« (150), das Individuen konkret zugefügt wurde und hebt »die elementare Bedeutung der Selbstachtung« (153) sowohl für die persönliche Lebensführung als auch für den sozialen Zusammenhang hervor. Dem Menschenwürdebegriff kommt so eine bedeutende sensibilisierende Funktion zu, die K. etwa an medizinethisch relevanten Sachverhalten oder auch am Problemzusammenhang des Vollschleiers erläutert. Damit erweist sich der hohe Rang der Menschenwürde »für die ge­sellschaftlich-kulturelle Bewußtseinsbildung und für den Rechts­staat« (158) und muss in ihrem Verständnis, bedingt durch aktuelle Einsichten, jeweils erneut vertieft werden.
Die aus der Menschenwürde folgenden Grundrechte auf Freiheit und Selbstbestimmung entfaltet K., indem er zunächst das umfassende Grundrecht der Freiheit darlegt und auf die Religionsfreiheit, das Recht auf Eigentum und die Wissenschaftsfreiheit bezieht: Gewissens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit gelten als Individualgrundrecht aller Bürger, wie andererseits das »Eigentum … zum Inbegriff menschlicher Freiheit« (184) wurde. Jedoch: »Der Umgang mit der Wissenschaftsfreiheit bildet … eine Bewährungsprobe dafür, ob und wie die Prävalenz der Freiheit … unter den Bedingungen der Gegenwart gesellschaftlich fortgilt« (209) – gerade wegen der Einflussnahme von Sponsoren oder angesichts der Finanzknappheit.
Im letzten Teil der Untersuchung lenkt K. den Blick auf die »Funktionen der Rechtsordnung« (210), durch die der moderne säkularisierte Staat den weltanschaulichen, moralischen und so­ziokulturellen Pluralismus seiner Bürger integrieren kann, indem er für Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und gesellschaftliche Kompromisse sorgt, sowie die kulturelle Toleranz fördert. Den vom Juristen Helmut Coing entwickelten Gedanken von der »Schutzfunktion der Ge­rechtigkeit für Grundrechte« (216) aufnehmend, gelangt K. zu der von Amartya Sen und Martha Nussbaum entwickelten Konzeption der Befähigungsgerechtigkeit, die aufgrund ihrer Orientierung an der persönlichen Freiheit und Selbstbestimmung darauf abzielt, »die Ermöglichungsbedingungen für ein gelingendes Leben der Menschen fortlaufend zu verbessern« (226).
Die Funktion der Rechtsordnung, Gerechtigkeit zu stabilisieren, führt K., angesichts der vielfältigen Phänomene der Rechtsunsicherheit, zur Ausbildung von Kriterien für die Wahrung von Rechtssicherheit und zum Gedanken der Zweckmäßigkeit der Rechtsordnung (232–238). Er beendet seine Untersuchung der Funktionen der Rechtsordnung mit dem Hinweis auf die Bedeutung von Kompromissen und der Toleranz: Kompromisse ermöglichen es, »antagonistische Standpunkte, Partialinteressen und das Gemeinwohl« (241) im Rahmen der Rechtsordnung auszubalancieren. Mit Spinoza hält K. die Toleranz für die Stabilität eines Gemeinwesens für unabdingbar: Die »Legitimation, Akzeptabilität und Stabilität« des säkularen Staates »werden gestärkt, wenn er sich mit seiner Rechts-, Struktur- und Bildungspolitik den Erfordernissen der Toleranzvorsorge in höherem Maß stellt, als es zurzeit schon geschieht« (272), denn ohne Toleranz ist eine pluralistische Gesellschaft nicht vorstellbar.
Mit dieser sehr ausgewogenen Untersuchung hat K. das Recht als »hochrangiges Kulturgut« (273) herausgestellt und der kulturpessimistischen Rede vom Werteverfall im Pluralismus eindrucksvoll »die vom Verfassungsstaat verbürgte, auf die Menschenwürde gestützte Rechtsordnung« entgegengesetzt, die zudem »einem wohlbegründeten, reflektierten Relativismus Ausdruck verleiht« (275). Theologisch ließe sich dieser Ansatz von Luthers Zwei-Regimenter-Lehre rezipieren, da sie den Staat bereits als Ort des Zu­sammenlebens aller Menschen begriffen hat und damit Anschlussmöglichkeiten für spätere Einsichten der Aufklärung bereithält. Auf diesem Weg weitergehend – und das zeigt K. eindrucksvoll – lassen sich Recht und Lebensordnungen zeitgemäß erfassen. Damit ist auch das Fundament für eine der Neuzeit gerecht werdende theologische Sozialethik gelegt, die die Realität der Lebenswirklichkeit erreicht.