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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

1000–1002

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Reents, Christine, u. Christoph Melchior

Titel/Untertitel:

Die Geschichte der Kinder- und Schulbibel. Evangelisch – katholisch – jüdisch.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2011. 676 S. m. 408 Abb. u. 1 CD-ROM. 24,0 x 15,5 cm = Arbeiten zur Religionspädagogik, 48. Geb. EUR 141,95. ISBN 978-3-89971-837-9.

Rezensent:

Gerhard Schwinge

Vorzustellen ist ein fein gegliedertes und detailreiches Handbuch (neun Seiten Inhaltsverzeichnis, 17 Seiten Namenregister), das in sieben Kapiteln vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart christliche Kinder- und Schulbibeln sowie in einem gesonderten Kapitel jü­-dische Kinder- und Schulbibeln des 19. und 20. Jh.s beschreibt und analysiert. Vorgeschaltet ist eine Einführung zum Projekt und zum Forschungsstand. In einem kurzen Schlusskapitel wird in Rück-blick und Ausblick das Fazit gezogen für die heutige Erarbeitung und Erprobung zeitgemäßer, didaktisch verantworteter Bibelbearbeitungen für Kinder.
Meist wird ein Kapitel mit der Darstellung des erziehungs- und kirchengeschichtlichen, teilweise sogar des gesellschaftspo­litischen Kontextes eröffnet, um dann die vier Hauptgattungen: biblische Spruchbücher, bibelnahe Paraphrasen, freie Bibelerzählungen und Bilderbibeln zu behandeln, entsprechend dem doppelten Ansatz nach Epochen und nach Erscheinungsformen. Dabei werden nicht nur die »Klassiker« bzw. »Longseller«, sondern auch meist weniger bekannte »Querdenker« berücksichtigt. Oft werden Zitate aus den Originalen eingefügt. Zwischenbilanzen beschließen die historischen Kapitel, zuweilen mit statistischen Zusam­menfassungen. Viele, oft farbige kleine zur Orientierung geeig-nete Abbildungen sorgen für Anschaulichkeit. Das umfangreiche Namenregister ist unentbehrlich, zumal Namen oft an verschiedenen Stellen des Buchs zu finden sind. Aus Platzgründen wird eine über 100 Seiten umfassende Bibliographie der Primär- und der Sekundärliteratur auf einer CD geboten; leider ohne Umfangsangaben bei den Einzeltiteln. (Wenn man sich die Bibliographie nicht ausdruckt, muss beim Arbeiten mit dem Buch daneben ein CD-Laufwerk bereitstehen, allerdings mit dem Vorteil der Suchfunktion.) In der Bibliographie der über 950 Primärquellen, die durch weg aufgrund von Autopsie angegeben seien, sind die Klassiker durch Unterstreichung hervorgehoben. Vielen seltenen, heute schwer zugänglichen Ausgaben wurden Besitznachweise beigegeben. So wird das Buch zu einem ansehnlichen, gut benutzbaren Nachschlagewerk, zumal die Darstellung den heute üblichen Wissenschaftsjargon vermeidet und Satz, Bildwiedergabe und Einbandgestaltung keine Wünsche offen lassen.
Während es schon im Spätmittelalter freie biblische Erzählungen für die Erziehung gab, stellte der Buchdruck in der Reformationszeit neue Möglichkeiten der Publizierung und Lesekultur bereit. Während bereits im Humanismus, vor allem aber in der Aufklärung das Kind als eigenständige Person in den Blick kam, wurde im 19. Jh., nachdem Schulpflicht und Religionsunterricht obligatorisch geworden waren, Wert auf literarische Formen gelegt und die Illustration breiter einbezogen. Im 20. Jh. schließlich sorgten neue Methoden medialer Gestaltung für einen vorher nicht gekannten Pluralismus; längst sind Kinder- und Schulbibeln ohne Bebilderung und ohne bewusst kindgerechtes Layout nicht mehr denkbar. Obwohl ein Engagement der Bibelgesellschaften und Bi­belwerke für Kinderbibeln bis in die Mitte des 20.Jh.s die Ausnahme blieb, so ist ein solches doch heute immer wieder zu beobachten. – Das 20. Jh. und die Gegenwart machen fast 40% des Gesamtumfangs des Buchs aus.
Eine Besonderheit des Werks ist die überkonfessionelle Gesamtschau. (Die Bearbeitung der katholischen und jüdischen Publikationen stammt im Wesentlichen von Melchior.) Beginnt die Ge­schichte der Kinder- und Schulbibel schon vor der Reformation, so gab es in der Folgezeit zunehmend wechselseitige Beeinflussungen zwischen evangelischen und katholischen Autoren und so gibt es heute viele ökumenische Kooperationen. Insgesamt erscheint als Ziel dieser »Geschichte«, die Vielfalt des Bibelgebrauchs in der Er­ziehung durch die Jahrhunderte hindurch aufzuzeigen, zumal dieser Gebrauch zu einem eigenständigen Bibelerbe geführt hat, dessen Vorgeschichte wenig bekannt ist.
Dieses Handbuch wissenschaftlich-historischer Religionspädagogik ist das Ergebnis jahrelanger Kinderbibelforschung, für die Hauptautorin ein Resümee ihrer eigenen jahrzehntelangen Arbeit. Es fasst viele Einzelforschungen zusammen und macht Kinder- und Schulbibeln aus fünf Jahrhunderten vergleichbar. Dabei werden nur gelegentlich und zurückhaltend Be­wertungen vorgenommen, welche indes bisweilen diskussionswürdig sind (zum Beispiel bei der Elementarbibel von Pokrandt/Herrmann).
Die Veröffentlichung von Reents (em. Professorin für Praktische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal) und Melchior (promovierter Kirchenhistoriker und Geschäftsführer beim Evangelischen Bibelwerk im Rheinland in Wuppertal) ist sicherlich für die speziellen Interessen einer historischen Religionspädagogik ein willkommenes, ja künftig unverzichtbares Kompendium. Hätten sich die Verfasser auf die Klassiker der »Biblischen Geschichte« für Kinder und Jugendliche konzentriert (etwa auf Luther und Merian, Spener, Hübner und Hebel, Erb/Jordan und de Kort, Pokrandt/Herrmann und de Vries, um nur die bekanntesten evange­lischen zu nennen; auf katholischer Seite vor allen anderen von Schmid, außerdem etwa Felbiger und Ecker) und diese breiter dargestellt, wäre wohl ein größerer Leserkreis ansprechbar geworden .
Die Kategorisierung mit den vier Hauptgattungen lässt, wie zugestanden wird, die Vielfalt der Erscheinungsformen nicht so­gleich erkennen; doch schon die Einleitung spricht von »vielen Mischformen«.
Die Frage der Zielgruppen der einzelnen Veröffentlichungen wird m. E. zu wenig beachtet; desgleichen die Frage, ob es sich um ein Buch zum Selberlesen oder zum Vorlesen oder zum freien Nacherzählen handelt. Im Fließtext durchgängig be­nutzte Abkürzungen (wie Jh. oder ev. und kath.) sind zumindest ungewöhnlich; ein Abkürzungsverzeichnis wird vermisst, auch deshalb, weil die Nachweise in den Fußnoten oft abgekürzt wie­dergegeben werden. Häufigere Jahresangaben, besonders in den Abbildungslegenden, hätten einer besseren Orientierung gedient.
Doch in unserer Zeit des Pluralismus, nach dem Ende des alten Bibelunterrichts, sind die vor allem am Schluss genannten fundierten Kriterien für künftige Kinder- und Schulbibeln wegweisend, zumal heute der boomende Markt hierfür kaum noch zu überblicken ist.
Grundsatzfragen, etwa des Verhältnisses zwischen biblischer Originalsprache einerseits, und das heißt für das auf deutschsprachige Veröffentlichungen ausgerichtete Handbuch: dem Luthertext, und einer sprachlichen Bearbeitung andererseits, oder die wohl zu bedenkende Notwendigkeit einer auf Erzähltexte konzentrierten oder gar beschränkten Auswahl gegenüber einer Vollbibel, wobei theologische Positionen bedeutsam werden, wurden kaum thematisiert und problematisiert. (Im Geleitwort zu Martina Steinkühlers Buch »Die Bibel spricht« schreibt Fulbert Steffensky von dem »großen, fremden Text der Bibel«, der eigentlich nicht zu ersetzen sei und dessen Fremdheit auch seine unentbehrliche Größe habe.)
Am Anfang des Bands stehen die Vorworte zweier jüngerer fachkundiger Religionspädagogen, des evangelischen Thomas Schlag in Zürich und des katholischen Werner Simon in Mainz, die im Grunde Geleitworte sind und das Werk nachdrücklich empfehlen.