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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

997–998

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Biesinger, Albert, Kießling, Klaus, Jakobi, Josef, u. Joachim Schmidt[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Interreligiöse Kompetenz in der beruflichen Bildung. Pilotstudie zur Unterrichtsforschung.

Verlag:

Berlin/Münster: LIT 2011. 167 S. 21,0 x 14,5 cm = Religion und berufliche Bildung, 6. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-643-10796-1.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

In der Religionspädagogik hat es wie in der gesamten Praktischen Theologie in letzter Zeit eine Wendung zur Empirie gegeben. Doch zumeist werden dabei Unterrichtende oder Unterrichtete über ihre Erwartungen oder Erfahrungen befragt, während die Erforschung realen Unterrichts wegen des damit verbundenen großen Aufwandes immer noch ein Schattendasein führt. Für die vorliegende Studie, die vom »Katholischen Institut für berufsorientierte Religionspädagogik« (KIBOR) an der Universität Tübingen gemeinsam mit dem Seminar für Religionspädagogik an der Hochschule St. Georgen (Frankfurt am Main) durchgeführt wurde, hat man dagegen Unterrichtsstunden im Berufsschul-Religionsunterricht videografiert, transkribiert und ausgewertet. Beteiligt waren eine Berufsschule in Duisburg, eine in Frankfurt am Main und eine in Sindelfingen. Dabei ging es um das interreligiöse Lernen, das sich nach dieser Studie primär als das Miteinander von Muslimen und Nicht-Muslimen darstellt. Das Buch zeigt erneut und auf andere, sehr eindrückliche und detaillierte Weise, was bereits seit der SHELL-Studie 2000 bekannt war: Junge Muslime haben ein selbstverständliches und selbstbewusstes Verhältnis zu ihrer eigenen Religiosität, während das bei Christen kaum der Fall ist. Deutlich wird dabei auch, dass sich dieses Selbstverhältnis vor allem auf den Vollzug von Zeichenhandlungen und die rituelle Praxis stützt (Fasten, Beten, respektvoller Umgang mit dem Koran als Buch) und nicht auf ein hermeneutisch vermitteltes Handlungswissen.
Das wichtigste Ergebnis der Studie dürfte in der Einsicht bestehen, dass Schüler auch in sog. »schwierigen Klassen« einer persönlich vermittelten religiösen Praxis »durchaus mit Respekt begegnen«, so dass Nachfragen provoziert werden (122). Die Muslime werden durch die von ihnen gegebenen Auskünfte zugleich dazu angeregt, ihre eigene Religion zu hinterfragen. Entgegen der Ansicht, die Beschäftigung mit den unterschiedlichen Religionen vertiefe die Gegensätze, zeigen die Unterrichtsmitschnitte die hohe Bereitschaft, die Religion der Mitschülerinnen und Mitschüler wertzuschätzen (161).
Gleichzeitig wird deutlich, dass die christlichen Schülerinnen und Schüler ein deutlich gebrochenes Verhältnis zur rituellen Praxis haben. Kann man hier von einer neuen Gestalt des Bildungsdilemmas sprechen, indem die Einsicht in die historischen Entstehungsbedingungen des Christentums und die kritischen Reflexionen der rituellen Praxis zu weniger Glauben und weniger religiös gestütztem Selbstbewusstsein führen? Der folgende Satz eines jungen Muslims (der in dem Buch mehrfach zitiert und besprochen wird), findet jedenfalls keinerlei Analogie bei christlichen Jugendlichen: »seit ich das mach, seit ich zur Moschee geh, seit ich bete, fühlt man sich eigentlich viel sicherer, man fühlt sich irgendwie, wie ich auch sage, irgendwie freier« (145). Die christliche Präferenz für die Meinung, beim Glauben komme es nur auf die innere Haltung an und nicht auf äußere Vollzüge, führt offensichtlich – mindestens bei Berufsschuljugendlichen – in die bildungspraktische Aporie.
Mit Recht halten die Autoren der Studie fest, dass es sich um vorläufige und punktuelle Ergebnisse handelt, die durch Interventionsstudien vertieft werden müssen. Erst dann kann erkannt werden, welche Einstellungen auf intentionale Bildungsprozesse zu­rückgeführt werden können. Gleichwohl sind die vorliegenden Ergebnisse für die christliche Religionspädagogik wieder einmal alarmierend. Dass christliche Jugendliche kaum eine eigene glaubende Positionalität entwickeln, lässt sich »als Anfrage an den Unterricht, an die Spiritualität der Lehrenden und ihre Ausbildung formulieren«, stellt Klaus Kießling (St. Georgen) mit Recht fest.
Albert Biesinger (Tübingen) fordert beim interreligiösen Lernen eine »Provokationsdidaktik«, die nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner sucht, sondern einfühlsam, aber klar Unterschiede in den Positionen benennt (101). Hinzukommen muss dabei offensichtlich auch eine Didaktik, die die völlig unterschiedlichen Stile des Umgangs mit Religion und Religionskritik, Ritualität und Ritualkritik im Christentum und Islam erkennbar werden lässt. Nur so können die Irrwege einer Ritualität ohne kritisches Wissen einerseits und eines selbstgenügsam ritualkritischen Habitus andererseits als solche erkannt werden.
Besonders hilfreich ist es, dass Joachim Schmidt (bis 2011 am KIBOR) die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit nicht nur akribisch ausgewertet hat (118–159), sondern zusätzlich eine Zusammenfassung bietet, in der sich das Wichtigste in elf knappen und didaktisch folgenreichen Thesen findet (160–166). Auf den Fortgang der Forschungen darf man – nicht nur im Hinblick auf das Arbeitsfeld Berufsschule – gespannt sein.