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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

995–997

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Barnes, L. Philip [Ed.]

Titel/Untertitel:

Debates in Religious Education.

Verlag:

London/New York: Routledge 2012. XIII, 312 S. m. Abb. 23,2 x 15,5 cm = Debates in Subject Teaching Series. Kart. £ 22,99. ISBN 978-0-415-58391-6.

Rezensent:

Günter R. Schmidt

Jeder Band in dieser Reihe bietet fachdidaktische »Schlüsseldebatten«. Wie im deutschen Sprachraum wird u.a. gefragt, ob Religious Education überhaupt Teil des schulischen Lehrangebots sein sollte, ob, wenn ja, verpflichtend, und ob er nur informieren oder zu einer wertenden Stellungnahme befähigen solle. Die 21 Beiträge zu diesem Band spiegeln die ganze Meinungsvielfalt.
Im ersten, mit »History, policy and purpose« überschriebenen Teil fragt Brenda Watson, warum Religious Education überhaupt von Belang sei. »Glaubensauffassungen (beliefs) und Werte leiten jedermanns Verhalten, Reaktionen und Absichten« (15). Deshalb müssen Schüler lernen, mit Wahrheitsansprüchen religiöser und weltanschaulicher Art »intelligent und sensibel« umzugehen. Die folgenden beiden Beiträge informieren über die Entwicklung der gesetzlichen Bestimmungen im Vereinigten Königreich und in Irland. Sie spiegeln den Versuch, die Leitvorstellungen »learning about religion(s)«, »learning from religion« und »learning religion« in ein verantwortbares Verhältnis zu bringen, dem Christentum sein kulturell angemessenes Gewicht zu geben, jedoch auch der multireligiösen Situation, besonders in Großstädten, gerecht zu werden.
Unter »Educational issues and religious education« sind zehn Beiträge eingeordnet. Der Herausgeber L. Philip Barnes gibt unter »Diversity« statistische Befunde aus dem Jahre 2001 wider. Danach sind 71,6 % der britischen Bevölkerung mindestens nominell Christen und weniger als 6% Anhänger einer nicht-christlichen Religion. Die Unterschiedlichkeit betrifft die Teilnahme am Kult, die Bewertung von Religionen und Religion als solcher, Religiosität mit oder ohne Zugehörigkeit zu einer konkreten Gruppe, nicht zuletzt auch die Art, wie verschiedene Religionspädagogen damit umgehen. Trevor Cooling wendet sich gegen die unter Lehrern und Schülern verbreitete Meinung, Religion sei »be­langloser Kram« (irrelevant clutter). Die herrschende Ideologie von »objektiver Rationalität« muss durch die Einsicht aufgebrochen werden, dass »Erziehung nicht nur auf die Anhäufung von Fakten, sondern auf Sinndeutung und Beurteilung« zielt. Die Existenzberechtigung von »Faith Schools« als staatlich geförderter Schulen und die Art ihrer Ausrichtung sind Gegenstand heftiger Debatten. J. Mark Halstead bietet je sieben Argumente pro et contra. Mark A. Pike stellt sich die Frage nach der Vereinbarkeit von Religious Education und Erziehung zu Citizenship. »Schulen mit einem umfassenden liberalen Ethos sind keine neutrale Alternative zu solchen mit einem deutlich religiösen.« (114) Denn Citizenship Education ist deutlich »konfessionell«, weil sie darauf aus ist, Kinder zum Glauben »an die Werte einer liberalen Demokratie« (107) zu erziehen. Für den Islam ist jedoch »persönliche und moralische Autonomie […] eine Art Unsinn«. Community cohesion zu fördern, ist eine wichtige Erziehungsaufgabe. Aufwachsende sollen sich einerseits der Besonderheit ihrer kulturellen und religiösen Gruppe bewusst werden, andererseits die Gesamtgesellschaft bejahen. Rosemary Woodward sieht das Problem, dass die Wahrheitsansprüche verschiedener Religionen nicht vereinbar sind, und plädiert dafür, Werte und Begriffe bewusst zu machen, an denen sowohl Religionen als auch säkularer Humanismus teilhaben. Robert Jackson berichtet über »Europäische Entwick­lungen«. Die acht Beiträge im dritten Teil des Buches sind überschrieben mit »Issues in teaching and learning in religious education«. Sie thematisieren einzelne konzeptionelle, inhaltliche und methodische Fragen. Roger Homan verweist auf die Gefahr der Verzerrung gegenüber dem Selbstverständnis der entsprechenden Religionsgemeinschaft, aber auch der Ausklammerung von Inhalten, welche die Aufgabe der Förderung sozialer Kohäsion erschweren könnten. Vivienne Baumfield fragt, wie sich Religious Education von ihrem Begriff der »Pedagogy« als »Brückenbau zwischen der Welt des Kindes und dem intellektuellen Kulturleben der Gemeinschaft« (206) her darstellt. Das ist keine neutrale, »unschuldige« Tätigkeit! Lehrer sollten sich ihrer unvermeidlichen Vorannahmen bewusst sein. Pedagogy darf nicht auf didactics als Strukturierung fachlicher Inhalte verengt werden. Lernen soll nicht nur auf die Anforderungen des Schulfachs oder der Glaubensgemeinschaften zielen, sondern muss »hier und jetzt für Schüler und Lehrer sinnvoll sein«. Bei der konstruktivis­tischen Betonung von »Denkfähigkeiten« wird nach Elina Wright/Andrew Wright leicht die objektive Seite vernachlässigt. Es kommt nicht nur darauf an, »eigene subjektive Wahrheiten zu konstruieren«, sondern »seinen Ort in der Welt zu verstehen«, und »die ihr innewohnenden sinnvollen Strukturen wahrzunehmen« (228). Die Listen von »Lern- und Denkfähigkeiten«, die auf »persönliche Autonomie« und »vernünftige Selbstbestimmung« abzielen, verengen das Verständnis von Religion. Das Theoretisieren von Denkfähigkeiten her setzt die »Subjektivität des Lernenden« an die erste Stelle und den Lerngegenstand an den Rand. Es zwingt die Wirklichkeit »in das Prokrustes-Bett unserer vorgängigen epistemischen Annahmen, Vorurteile und Ideologien«. »In der Erziehung sollte es nach unserer Ansicht um das Streben nach letztgültiger Wahrheit ( ultimate truth) gehen und die Pflege einer wahrhaftigen Lebensweise im Einklang mit der letztgültigen Seinsordnung (ultimate order of things).« Weitere Themen sind Differenzierung, Lernkontrolle, Informationstechnologien sowie das Verhältnis von Wissenschaft und Religion.
Die Beiträge zeichnen sich durch eine klare Sprache aus und vermitteln dem Leser einprägsame Formeln wie »learning religion«, »learning from religion«, »learning about religion« u. a. Der Herausgeber bemüht sich um positionelle Ausgewogenheit, so dass der Leser der Vielfalt der didaktischen Ansätze in der britischen Religious Education begegnet und gar manche Analogien zur deutschen wahrnimmt. Gleichzeitig wird dem deutschen Leser deutlich, wie sich die britische Theoriebildung vergeblich bemüht, Gegensätzliches zu­sam­menzubringen: Fairness gegenüber allen Religionen und Achtung vor dem Selbstverständnis einer jeden, Betonung ihrer Gemeinsamkeiten, Abmilderung der Gegensätze zwischen ihnen, Suggerierung ihrer Gleichwertigkeit, sozialen Nützlichkeit und Friedlichkeit, distanzierte Betrachtung und Sinn für existenzielle Anrede. Sie werden allesamt unter den in der Tradition der Aufklärung und des liberalen Protestantismus entwi­ckelten humanitären Religionsbegriff gezwungen. Doch ist offensichtlich, dass sich authentisch keine so versteht, dass didaktisch zurechtgeschnippelte Kunstprodukte vermittelt werden und dass nicht jede sozial nützlich und friedlich ist. Gelegentlich hört man, die deutschsprachige Religionspädagogik könne von der britischen lernen. In der Tat kann sie es von deren Mehrheitstendenz, nämlich, wie es nicht geht! Ein Religionsunterricht, der das Christentum in den Mittelpunkt stellt, der das Christentum für den Schüler und den Schüler für das Christentum erschließen will und für den das Christentum auch Bezugsgröße bei der Betrachtung anderer Religionen ist, entspricht den Möglichkeiten europäischer Kinder und Jugendlicher mehr als eine Religious Education, die sie mit einer Fülle von Materialien aus sechs (!) unterschiedlichen Religionen eindeckt!