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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

991–993

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Jähnichen, Traugott, Henkelmann, Andreas, Kaminsky, Uwe, u. Katharina Kunter[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Caritas und Diakonie im »goldenen Zeitalter« des bundesdeutschen Sozialstaats. Transformationen der konfessionellen Wohlfahrtsverbände in den 1960er Jahren.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2010. 311 S. m. Abb. u. Tab. 23,2 x 15,5 cm = Konfession und Gesellschaft, 43. Kart. EUR 34,80. ISBN 978-3-17-021721-8.

Rezensent:

Johannes Eurich

Wer die Diskussion über die Ausrichtung von Caritas und Diakonie heute verstehen möchte, kommt an der Auseinandersetzung mit der Entwicklung in den sog. »langen 1960er Jahren« (1957/8 bis 1974) nicht vorbei. Die Ausweitung des damaligen westdeutschen So­zialsystems ermöglichte eine Expansion der konfessionellen Wohlfahrtsverbände, die andere Erweiterungsschübe wie z. B. die Entwicklung in den 1990er Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung bei Weitem übertrifft. Der Ausbau des Sozialstaats brachte nicht nur eine Differenzierung der Handlungsfelder und eine quantitative Zunahme der Einrichtungen bzw. des Personals mit sich, sondern auch eine qualitative Verbesserung der Standards sozialer Arbeit infolge der Professionalisierung der Mitarbeitenden und der Verwissenschaftlichung der fachlichen Ansätze. Gleichzeitig waren es Jahre tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche, die ein Nachlassen der Bindekraft konfessioneller Milieus anzeigten und zur Enttraditionalisierung der konfessionellen Einrichtungen beitrugen. Diese spannungsvollen Entwicklungen waren Gegenstand des Teilprojekts zur Diakonie- und Caritasforschung im Rahmen der DFG-Forschergruppe »Transformation der Religion nach 1945« an der Ruhr-Universität Bochum, dessen Ergebnisse im vorliegenden Band präsentiert werden.
Im ersten Teil wird zunächst die Rolle von Caritas und Diakonie im expandierenden Wohlfahrtsstaat dargestellt. Beim Überblick über die Organisation und Finanzierung der konfessionellen Wohlfahrtsverbände (Peter Hammerschmidt) fällt auf, dass bereits in den 1960er Jahren die sozialen Dienste von Caritas und Diakonie – mit Ausnahme der Kindertagesstätten – weitgehend von öffentlichen Kostenträgern finanziert wurden. Die hohe Abhängigkeit von der öffentlichen Hand führte freilich auch zu einer entsprechenden Anpassung an die Handlungslogiken und Organisationsprinzipien der öffentlichen Träger. So erfolgte, wie Ewald Frie für den caritativen Katholizismus aufzeigt, in dieser Zeit der Abschied von der Fürsorgeeinheit der Gemeinde, der eindrucksvoll am Ab­schied von der Gemeindekrankenschwester festgemacht werden kann. Die damit einhergehende Transformation im Selbstverständnis der Caritas wird von Karl Gabriel als Wandel zum sozial-caritativen Handeln der Kirche beschrieben. Vor dem Hintergrund stark zunehmender Kirchenaustrittszahlen weist Gabriel auf das Miteinander von Entkirchlichungsprozessen und neuen religiösen Deutungen wie der Erweiterung kirchlichen Handelns um die soziale bzw. gesellschaftliche Dimension hin, die zu einer Überwindung der traditionellen kirchlichen Armenpflege beigetragen haben. Eine ähnliche Transformation zeichnet Gerhard Schäfer im Selbstverständnis der Diakonie anhand der Gegenüberstellung bzw. Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit nach. Freilich konnte so die gesellschaftliche Verantwortung der Diakonie nicht wirklich fundiert werden. Dies gelang erst mit der Verabschiedung diakonischer Leitlinien, welche die Mehrfunktionalität der Diakonie (neben der karitativen Arbeit auch ihre an­waltschaftliche und sozialintegrative Funktion) betonten.
Teil 2 des Bandes greift den Traditionsabbruch im Blick auf die Mitarbeitendenstrukturen in Diakonie und Caritas auf. Joachim Schmiedl und Norbert Friedrich zeigen, wie sich der Rückgang so­-zial-caritativer Gemeinschaften (katholische Orden bzw. evange­lische Diakonissengemeinschaften), die den konfessionellen Charakter der Verbände repräsentierten, auswirkte. Nicht zuletzt der Wandel gesellschaftlicher Kulturmuster (Verständnis von Ehe, Rolle der Frau) führte zu einer »erzwungenen Modernisierung«, bei der Professionalisierung und Technisierung parallel zum Rückgang der Schwestern und gleichzeitigem rapiden Anstieg freier Mitarbeitender verliefen. Markus Lehner sieht darin einen Wandel im Selbstverständnis des Caritasverbandes begründet, der zu einer Auseinanderentwicklung von Caritas und Kirche beigetragen hat. Anhand autobiographischer Materialien untersucht Ute Gause Mentalitätsveränderungen bei den Mitarbeitenden aus Genderperspektive. Dabei wird deutlich, dass die gesellschaftlichen Um­brüche, die auch in den Auseinandersetzungen innerhalb der Schwesternschaften ihren Niederschlag gefunden haben, zwar in Form von Neuerungen bearbeitet wurden (Eintritt verheirateter Frauen, Amt der Diakonin), letztlich aber nur sehr langsam im Sinne der Emanzipation der Frau rezipiert wurden.
Der dritte Teil nimmt die Bedeutung der Verwissenschaftlichung sozialer Arbeit für diakonisch-caritatives Handeln auf und untersucht entsprechende Professionalisierungsschübe anhand unterschiedlicher Fallstudien. Diese zeigen die Spannungen zu dem traditionell theologisch geprägten Verständnis sozialen Hilfehandelns auf, aber auch die notwendig gewordene Neuorientierung. Dietmar Kehlbreier macht am Beispiel der 1971 gegründeten Evangelischen Fachhochschule in Bochum die mit der Professionalisierung einhergehenden Auswirkungen auf die Legitimation diakonischen Handelns deutlich. Dies spiegelt sich in der theologisch kontrovers ge­führten Debatte um die Funktion der Humanwissenschaften wider. Dabei haben sich die Humanwissenschaften bereits in den Ausbildungsgängen der höheren Fachschulen durchgesetzt, was von der Leitung diakonischer Einrichtungen durchaus kritisch gesehen wurde, wie Thomas Zippert am Beispiel Hephatas in Treysa berichtet. Ebenso macht Matthias Benad darauf aufmerksam, dass eine große Ausbildungsoffensive infolge der zurückgehenden Brüder- und Schwesternschaften bereits Ende der 1960er Jahre in den von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel stattgefunden hat. Die Neuausrichtung der Personalpolitik ging einher mit der Erhöhung der Pflegeentgelte, so dass qualifizierte Mitarbeitende in großer Zahl eingestellt werden konnten. Dass solche Neuausrichtungen auch verschleppt werden konnten, zeigt Bernhard Frings anhand der widerständigen Reaktion des Stifts Tilbeck, dessen Leitung eine Professionalisierung über längere Zeit nicht zuließ.
Abgerundet wird der Band im vierten Teil mit Seitenblicken auf die Situation von Diakonie und Caritas in drei konfessionell und wohlfahrtsstaatlich unterschiedlichen Nachbarländern, nämlich in Dänemark (Liselotte Malmgart), Belgien (Jan De Maeyer/Jo Deferme) und den Niederlanden (George Harinck). Deutlich wird dabei einerseits, dass trotz unterschiedlicher wohlfahrtsstaatlicher Arrangements die 1960er Jahre jeweils zum Ausbau der sozialen Sicherungssysteme geführt haben, und andererseits, dass die Kirchen eine Profilierung der eigenen sozialen Arbeit anstrebten, die zum Teil deutliche Parallelen zu den Herausforderungen in Deutschland aufwiesen.
Der Band stellt eine gelungene Untersuchung der »goldenen Jahre« der Caritas und Diakonie dar, der die Enttraditionalisierung und Modernisierung der konfessionellen Wohlfahrtsverbände in ihren Grundzügen treffend analysiert und durch kurze Einleitungen bzw. Resümees nochmals bündelt. Dabei wird deutlich, wie sehr Caritas und Diakonie in ihrem Selbstverständnis von dem gesellschaftlichen und sozialstaatlichen Wandel erfasst wurden, so dass sie sich seitdem mit der Frage nach der Wahrung der eigenen konfessionellen Identität vertieft auseinandersetzen müssen. Im Ergebnis steht ein ambivalentes Bild: Die äußere Stabilisierung und Ausweitung der Verbände geht einher mit der inneren Suche nach dem angemessenen Selbstverständnis, das nicht zuletzt an der Frage nach der Rolle der Theologie angesichts neuer Organisations- und Mitarbeitendenstrukturen festgemacht werden kann. Der Band füllt hier eine wichtige Forschungslücke und gibt zu­gleich Anstöße für weitergehende Studien.