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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

989–991

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hoyer, Birgit

Titel/Untertitel:

Seelsorge auf dem Land. Räume verletzbarer Theo­logie.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2011. 400 S. m. Abb. 23,2 x 15,5 cm = Praktische Theologie heute, 119. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-17-022070-6.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Die Autorin Birgit Hoyer ist Privatdozentin der Katholisch-Theologischen Fakultät Graz und Geschäftsführerin des Zentrums für Lehrerbildung und Bildungsforschung der Universität Würzburg. Ihre Beziehung zum Thema dieses Buches ergab sich aus einer siebenjährigen Tätigkeit als Bundesseelsorgerin der Katholischen Landjugendbewegung (KLJB). Kontakte und Erfahrungen aus dieser Zeit fließen in der Form leitfadengestützter offener Interviews in die Publikation ein und helfen zur anschaulichen Darstellung. Dem Einstieg dienen »Land-Spots«, die mit zwölf Beispielen die Vielfalt der Lebenssituationen im ländlichen Raum beleuchten, wobei bayrisches Lokalkolorit überwiegt. Die in der katholischen Kirche aktiven interviewten Frauen und Männer im Alter von 19 bis 59 Jahren vermitteln überwiegend ein positives Bild, das im Folgenden stark relativiert wird.
Im 2. Kapitel erläutert H. entsprechend dem Untertitel Verletzbarkeit als wissenschaftstheoretisches und methodisches Prinzip der Arbeit. Verletzbarkeit heißt, »sich dem Risiko aussetzen, in den eigenen Grundfesten erschüttert zu werden« (54). Inwiefern damit ein Spezifikum der Seelsorge auf dem Land bezeichnet wird, bleibt offen. Verletzbar sind Menschen, die Theologie treiben, und sie können mit ihrer Theologie andere verletzen, aber die Begrenztheit theologischen Wissens macht aus ihr kein verletzbares Wesen. Mit Peirce will H. jenseits der Alternative von Deduktion und Induktion durch Abduktion die Nicht-Methode zur Methode erheben und so »die absolute Offenheit des Forschungsprozesses« gewinnen (73). Wieder ist zu fragen, ob und wie sich diese Intention mit dem Thema der Arbeit verbindet, aber auch, wie das Postulat absoluter Offenheit zu dem »sicheren Wissen um die Methoden der qualitativen empirischen Sozialforschung« (75) passt. Eine Stärke des Buches liegt darin, dass der empirische Bezug nicht nur durch die Auswertung einer Fülle sozialwissenschaftlicher Literatur hergestellt wird, sondern auch 27 interviewte Frauen und Männer als Experten (diese Form inklusiver Sprache wird durchgehend ge­braucht) gleichrangig neben den Autoren der Fachliteratur zu Wort kommen.
Das 3. und umfangreichste Kapitel (90–219) enthält eine soziologische Beschreibung des Transformationsraums Land. Das Verhältnis Stadt/Land wird komplementär statt dichotom bestimmt. Die Definition des Landes ist von konstanter Unschärfe gekennzeichnet, doch es gibt Kriterien für ländliche Räume wie geringe Siedlungsdichte, naturnahe Landschaften, Entfernung zu den Ballungsräumen, schwache Infrastruktur. Die gravierenden regionalen Unterschiede hinsichtlich der wirtschaftlichen und sozialen Strukturen werden dargelegt und die Bedingungen der Lebens­-qualität reflektiert, die Auswirkungen von Individualisierung, Glo­balisierung und Kommunalisierung auf die Landbevölkerung erörtert und die Probleme der demographischen Entwicklung dargelegt. Nachhaltigkeit und qualitatives Wachstum sind als Ziel­vorstellungen anzustreben, die das ganze Leben über rein ökologische Aspekte hinaus bestimmen. Die Gründe für Landflucht werden erläutert, aber auch Beispiele prosperierender Regionen geschildert. Ihren Berufserfahrungen entsprechend hat H. vorrangig die Situation junger Menschen im Blick. Dabei fällt auf, wie stark traditionelle Werte bei diesen zur Geltung kommen, sowohl in Bezug auf Familie und Beruf als auch auf die Frömmigkeit. Für die meis­ten ist der Sonntagsgottesdienst selbstverständlich, was wohl durch ihre Beheimatung in der KLJB zu erklären ist.
Transformationen der Kirche, die im ländlichen Raum bereits stattfinden oder notwendig sind, reflektiert das 4. Kapitel ausgehend von einem Votum, in dem die KLJB schon 1981 vor der Ver­-ödung der Dörfer und dem Rückzug der Kirche aus dem ländlichen Raum warnte. Kirche wird in der Person des Pfarrers erlebt und verliert ihre Präsenz, wenn dieser wegzieht. Gegen die Tendenz zur Zentralisierung, die das klerikale System konserviert, wird für jede Gemeinde eine Bezugs- und Vertrauensperson am Ort gefordert und die Kompetenz der Laien zur Geltung gebracht. Manche Inter viewpartner beurteilen allerdings die Zusammenlegung von Ge­meinden positiv, und der Kritik an pastoraler Dominanz steht die Würdigung eines starken ehrenamtlichen Engagements und großer Selbständigkeit der Gemeindeglieder gegenüber. Die besondere Situation in Ostdeutschland findet Beachtung, aber die extreme Diaspora, in der sich die katholische Kirche dort auf dem Land abgesehen vom Eichsfeld und im sorbischen Raum befindet, wird nicht deutlich. Noch mehr fällt auf, dass die Beziehungen zur evangelischen Kirche keine Rolle spielen. Ein Interviewpartner erklärt, für ihn sei »der Protestant total ebenbürtig« (254), und die Diskussion um ein gemeinsames Abendmahl zählt zu den kirchlichen Binnenproblemen, die Jugendliche eher befremden (257). Umso erstaunlicher ist die geringe Relevanz der ökumenischen Beziehungen. Nachdrück­lich wird die Vernetzung aller im ländlichen Raum tätigen Akteure gefordert, aber die evangelische Arbeit findet eher beiläufig Erwähnung. Diesem negativen Befund entspricht, dass in der Fülle verarbeiteter Literatur wichtige Titel von evangelischer Seite fehlen wie K. Hansen, Evangelische Kirchen in ländlichen Räumen, 2005 (vgl. ThLZ 131 [2006], 799–801) oder die im Internet zugänglichen einschlägigen Texte der EKD.
Im Schlusskapitel fordert H. radikale Transformationen der Kirche, die neu erfunden werden müsse, wobei voraussetzungslose Offenheit für die Diversität der postmodernen Welt ein Grundmotiv ist. An den vorliegenden Reformprogrammen wird kritisiert, sie entwickelten eher Abschieds- als Aufbruchsräume. Dass die Kirche in der Welt für sie da sein und den Menschen nahe sein soll, sind freilich keine neuen Forderungen. »Verletzbare Theologie« demonstriert H. an den Beispielen von D. Sölles »Atheistisch an Gott glauben« (1968) und J. Beuys. Wie die Kunst sollen auch Theologie und Kirche feste Ordnungen und Definitionsansprüche aufgeben. Die Radikalität postmoderner Individualität und Pluralität sei als Grundlage jedweden Handelns zu begreifen. »Wie die Kunst ist Pastoral der Raum des Voraussetzungslosen, des Nicht-Begründbaren, des Nicht-Begreifbaren, der sich letztlich gesellschaftlicher Verzweckung entziehen kann« (370).
Da die Theologie sich wie die moderne Kunst der Widersprüchlichkeit, Mehrdeutigkeit und Unsicherheit des Lebens aussetzen soll, tritt die methodische Frage nach praktischen Konsequenzen zurück. Konkrete Themen der speziellen Seelsorge klingen immer wieder an, ohne näher ausgeführt zu werden. So gilt z. B. der Umgang mit den Sterbenden als ein zentrales Kriterium (325), doch es bleibt bei der Andeutung. Viel diskutierte Probleme wie der Pflichtzölibat und die Ordination von Frauen spielen keine Rolle, obwohl H. auf den Genderaspekt Wert legt. Theologisch basiert die Argumentation vor allem auf der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, doch ist der dezidiert individuelle Ansatz damit schwerlich vereinbar. Die große praktische Bedeutung des Priestertums aller Glaubenden zeigt sich durchgehend, und es wäre spannend zu erfahren, wie es zum Beispiel bei der Begleitung Sterbender wirksam werden kann. Der evangelische Leser spürt ständig, wie ähnlich die Chancen, Aufgaben und Schwierigkeiten sich im ökumenischen Raum darstellen.