Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2012

Spalte:

987–989

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Equit, Thomas

Titel/Untertitel:

Seelsorge erneuern durch Vision und Partizipation. Strategieprozesse deutschsprachiger Diözesen.

Verlag:

Würzburg: Echter 2011. 459 S. m. Abb. 23,3 x 15,3 cm = Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge, 85. Kart. EUR 42,00. ISBN 978-3-429-03416-0.

Rezensent:

Jan Hermelink

Seit Ende der 1980er Jahre haben nicht nur die evangelischen Landeskirchen, sondern auch die römisch-katholischen Diözesen im deutschsprachigen Raum umfassende Transformationsprozesse vollzogen. Die vorliegende Dissertation, in der ihr Autor Thomas Equit eigene Expertise aus Organisationsentwicklung und Pfarramt mit einer gründlichen Durchsicht der einschlägigen kirchen- und organisationstheoretischen Literatur verbindet, lässt die Unterschiede, vor allem aber die Gemeinsamkeiten im aktuellen Bemühen der beiden großen Kirchen erkennen, sich nolens volens als ecclesia semper reformanda zu begreifen. – Freilich erschließt sich dieser konfessionelle Vergleich nur von außen: E. selbst hat die Prozesse im evangelischen Raum, u. a. als Gemeindeberater, zwar offenbar zur Kenntnis genommen, rezipiert die einschlägige Literatur aber lediglich punktuell. Diese Blindheit gegenüber der Schwesterkirche gilt freilich ebenso für nahezu die gesamte kybernetische Reflexion im evangelischen Bereich.
Das Buch ist umfänglich, aber klar gegliedert. In der Einleitung akzentuiert E. sein Interesse gegenüber anderen, ähnlichen Studien: Neben den Arbeiten von M. Lörsch (Würzburg 2005), J. Pock (Wien 2006) und B. Spielberg (Würzburg 2008) haben vor allem S. Demel, H. Heinz und Chr. Pöpperl zahlreiche »synodale Beratungsprozesse« in römisch-katholischen, deutschen Diözesen so umfassend wie kritisch analysiert (»Löscht den Geist nicht aus«, Freiburg 2005). Die Studie von E. weitet den Blick auf Österrei-chische und Schweizer Diözesen, vor allem aber konzentriert sie sich recht konsequent auf die Vollzugsgestalt der »Strategieprozesse«: die zeitlichen Abläufe, die Akteure und ihre Partizipations- und Entscheidungsformen – inhaltliche und auch strukturelle Fragen treten dagegen in den Hintergrund.
Ein zweites, umfängliches Kapitel (36–209) entfaltet theologische und organisationstheoretische Kriterien zur Analyse der Beratungs- und Planungsvollzüge. Die ekklesiologischen Konzepte des Zweiten Vatikanischen Konzils werden knapp skizziert und ge­schickt auf die Prozessualität der kirchlichen Selbstgestaltung zu­gespitzt: in der Spannung von hierarchischem und synodalem Prinzip, gemeinsamem und geweihtem Priestertum, Welt- und Christusbezug sowie kirchlicher Gegenwart und dem Reich Gottes (39–90). Ausführlicher, aber ebenfalls konzise werden – u. a. nach H. Willke, R. Nagel/R. Wimmer und H. Mintzberg – Grundeinsichten (vor allem) der systemischen Transformation von Non-Profit-Organisationen skizziert. Hier kann E. auf eine breite Diskussion in der Gemeinde- und Organisationsberatung zurückgreifen (u. a. A. Heller, N. Schuster) und die eigentümliche Rolle der »Professionellen« wie der »neuen Ehrenamtlichen« ebenso herausarbeiten wie die Rekursivität von Gestaltungsprozessen, die zudem unter einem »systemischen Vorbehalt« stehen.
Dass strategische Prozesse von daher nicht mehr sein können als »Organisation von Selbstreflexion« (197) – diese Einsicht wird allerdings ein wenig verdunkelt, wenn die »Konsistenz der Strategie-Kaskade« von der Vision bis zu »operativen Zielen« (174) betont und ein (bei aller Zirkularität) recht einliniger »6-Phasen-Zyklus der Strategieentwicklung« entfaltet wird.
Das dritte Kapitel beschreibt, nach einem Überblick über die Gesamtentwicklung seit 1990, sehr eingehend die »Prozess-Architekturen« (236 u. ö.) von vier nach dem Kriterium maximaler Differenz ausgewählten Selbstverständigungsprozessen in den Diözesen Graz-Seckau, Basel, Magdeburg und Trier (210–354). Die Rekonstruktionen der jeweiligen Ziele, der verschiedenen Phasen mit ihren Akteuren, Arbeits- und Versammlungsformen, der »Prozessgestaltung«, dazu jeweils einer zusammenfassenden Würdigung, die sich an den im zweiten Kapitel eruierten Kriterien orientiert – dies alles ist, obwohl sich E. sehr um Übersichtlichkeit bemüht, recht schwer zu lesen, dürfte aber eben damit die Komplexität und die Mühsal der einzelnen Beratungs- und Entscheidungsvollzüge selbst spiegeln.
Hinderlich für die Lektüre ist allerdings auch, dass sowohl die inhaltlichen »Leitlinien« oder Zielvorgaben der einzelnen Prozesse als auch ihre materialen Gegenstände – vor allem handelt es sich um Umstrukturierungen von Pfarreien, Dekanaten etc. sowie eine Neuordnung der zentralen Diözesan-Dienste – nur indirekt deutlich werden, obwohl diese Themen die jeweiligen Beratungsprozesse doch erkennbar geprägt haben.
Den Einzelanalyen vorangestellt (!) ist eine luzide Zusammenfassung (227–234) wesentlicher Tendenzen diözesaner Beratungen: Mehr und mehr seien diese durch strukturelle Fragen und durch die prioritäre Beteiligung von Mitarbeitenden geprägt – die »Konfrontation mit gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen« (231) sei dagegen ebenso an den Rand getreten wie die Befassung mit den bekannten Kontroversthemen der römischen Kir-che, etwa der Priesterweihe von Verheirateten oder dem Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen. Dass in und neben dieser pragmatischen Konzentration in den Beratungen aber stets auch »theologische« Motive wie eine verstärkt missionarische Ausrichtung bedeutsam waren, dies kommt in der Darstellung, eben we­gen ihrer thematischen Abstinenz, leider nur indirekt zum Tragen.
Das vierte Kapitel (355–391) vermittelt theoretische Kriterien und analytische Einsichten mit explizit »praktischem Interesse«, indem es vier Aspekte benennt, die für künftige Beratungen »fruchtbar gemacht werden« könnten (356): Zielführende Prozesse bedürfen demnach einer klaren, rahmenden und orientierenden Führung, einer Übersetzung der »Vision« des Evangeliums in zeitgemäße Leitbilder und Ziele, einer sorgfältig »gesteuerten Partizipation«, die je nach Phasen, Rollen und Themen zu differenzieren sei – hier markiert E. nochmals das Defizit vieler kirchlicher Beratungsprozesse, Außenperspektiven kaum einzubeziehen, und macht dafür praxisnahe Vorschläge; schließlich müssen die Grenzen strategischer Machbarkeit bewusst gehalten werden. Gerade hier, so akzentuiert die Studie am Schluss, zeige sich die »geistliche Dimension« von Strategieprozessen: in der »Bereitschaft, ortskirchliche Gewohnheiten […] zu unterbrechen« und der Freiheit, »auswählend und fragmentarisch vorgehen zu dürfen« (390).
Während die Studie ekklesiologisch im katholischen main-stream der deutschen, reformoffenen Reflexion verbleibt, setzt sie im Bereich der kirchlichen Organisationsentwicklung deutliche Ak­zente, indem sie die Bedeutung einer professionellen Prozesssteuerung hervorhebt, die eine externe Beratung und ein klar verabredetes Leitbild ebenso erfordere wie die straffe Führung durch ein kleines Projektteam und – nicht zuletzt – die dezidierte Verantwortungsübernahme des Ortsbischofs.
Vor allem in dieser Betonung der konstitutiven Rolle des Episkopen zeigt sich die Differenz zu den evangelischen Reformprozessen (dieses Wort wird von E. konsequent gemieden), deren Top-down-Impulse viel mehr umstritten sind. Augenfälliger sind je­doch die Parallelen zwischen den Konfessionen, etwa was die hohe Widerständigkeit der Pfarreien und ihrer Pfarrer, die Komplexität ehrenamtlicher Beteiligungsstrukturen, die Bedeutung der »mittleren Ebene« oder die zunehmende Selbstbeschränkung auf Strukturfragen betrifft. In beiden Kirchen ist zudem das Be­wusstsein für die implizite theologische Qualität der Transformationsprozesse selbst gewachsen, deren »systemische Vorbehalte« durchaus als »es­chatologische Vorbehalte« oder als Ausdruck »einer gelebten Reich-Gottes-Hoffnung« (390) zu begreifen sind.
Auf diesem Hintergrund erscheinen für die Praktische Theologie der evangelischen Kirchenreform zwei weitere, zunächst ungewöhnliche Aspekte bedenkenswert, nämlich der Akzent, den E. auf eine klare, auch personal identifizierbare Führung kirchlicher Transformation legt – faktisch lässt sich eine Orientierung an Einzelpersonen durchaus auch bei den jüngsten evangelischen Reformprozessen be­obachten – sowie die zurückhaltende Bewertung des »synodalen Prinzips«: »Wer sich in einem synodalen Vorgang engagiert […|], will in der Regel nicht zu allem und jedem befragt, sondern mit seiner persönlichen Erfahrung und seiner spezifischen Expertise gehört werden.« (378) Dieses pragmatische Urteil spitzt E. in der (durchaus anstößigen) Formel zu, die Beteiligung von Mitgliedern und Mitarbeitenden solle nicht »so viel wie möglich« erfolgen, sondern so viel »wie (von Christus her) nötig« (375). Die Verantwortung aller Getauften und die hohe Bedeutung personaler Leitung: Beides scheint in den evange­lischen wie den katholischen Großkirchen prinzipiell unstrittig wie im Einzelnen hochproblematisch – die hier vorgelegte Studie sollte darum methodisch, in der Vermittlung von empirischen und theologischen Einsichten, wie inhaltlich zum Vorbild für weitere, auch vergleichende Forschung werden.