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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

985–987

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Eckstein, Hans-Joachim, Heckel, Ulrich, u. Birgit Weyel[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kompendium Gottesdienst. Der evangelische Gottesdienst in Geschichte und Gegenwart.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XIV, 320 S. 18,5 x 12,0 cm = UTB 3630. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-8252-3630-4.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Die württembergische Landeskirche hat 2012 als das »Jahr des Gottesdienstes« ausgerufen, und zu diesem Anlass haben Birgit Weyel als Praktische Theologin sowie Hans-Joachim Eckstein und Ulrich Heckel als Neutestamentler 15 konzentrierte Abhandlungen zum Gottesdienst aus den verschiedenen theologischen Disziplinen zu­sammengestellt. Zehn der jeweils genau 20 Seiten umfassenden Texte sind von Tübinger Autoren verfasst worden, und Landesbischof Otfried July hat dem Band ein Geleitwort vorangestellt.
Am Anfang steht ein historischer Teil zum Gottesdienst in der Bibel (Bernd Janowski und Hans-Joachim Eckstein) sowie in der Geschichte der Kirche. H.-J. Eckstein stellt heraus, wie eindeutig und kühn die neutestamentliche Gemeinde das biblische Bekenntnis zur Einzigkeit Gottes »mit der analogielosen Christuserkenntnis zu verbinden vermochte« (29). In der Tat ist dies das Aufregendste (und Anstößige!) des christlichen Gottesdienstes, das nicht unter formelhaften Gewohnheiten und theologischen Routinen verschwinden darf.
Historisch wurden für dieses Kompendium die Stationen Alte Kirche (Volker Drecoll), Mittelalter (Adolf Angenendt) und Martin Luther (Christopher Spehr) ausgewählt. Dabei ergeben sich auch aktuelle Akzente, wenn etwa V. Drecoll nach einem Überblick zur Alten Kirche mit Recht festhält, dass sich die lutherischen Kirchen »als kontinuierliche Fortsetzung und Ausformung der einen christlichen Kirche in der lateinischen Tradition verstehen« (61), und wenn A. Angenendt auf die sich immer mehr durchsetzende Konzeption kultischer »Reinheit« hinweist, die zur Verachtung des Sexuellen und zum Ausschluss von Frauen vom Priesteramt führte (68 ff.). Überraschenderweise fehlen dann Beiträge zum 19. und zum 20. Jh., in denen wichtige Weichen für unseren heutigen Gottesdienst ge­stellt wurden (Schleiermacher, liturgische Bewegungen, Agendenentwicklung; zu Schleiermacher vgl. aber B. Weyel, 173–177).
In seinem Überblick zur Liturgiereform des II. Vatikanum legt Andreas Odenthal Wert auf das Opferverständnis in der gegenwärtigen katholischen Liturgiewissenschaft: »Nicht mehr der Mensch opfert Gott etwas, sondern Gott selbst wird im Kreuzesgeschehen und seiner kultischen Wieder-Holung [sic] zum Handelnden.« (120) Hier lohnt es sich, die alttestamentlichen Bemerkungen von B. Janowski über eine allzu einfache Opferkritik (20) nachzulesen und Odenthals Darstellung des II. Römischen Hochgebetes (118 ff.) mit Drecolls Hinweisen zur Traditio Apostolica (48 ff.) zu vergleichen, damit die Querverbindungen zwischen den einzelnen Beiträgen hervortreten.
Jürgen Kampmann behandelt speziell die »Zukunft des württembergischen Predigtgottesdienstes«. Die lutherische württembergische Landeskirche folgt liturgisch dem Muster des oberdeutschen Predigtgottesdienstes und ist zudem eine der Kirchen in der EKD, die sich nicht am »Evangelischen Gottesdienstbuch« von 1999 orientieren, sondern an einer eigenen Agende festhalten. Christoph Schwöbel erläutert den Ablauf des Gottesdienstes einschließlich des Abendmahls von CA VII und Luthers »Torgauer Formel« her systematisch-theologisch als »Kommunikationsgeschehen«. Vergleicht man das Sachregister, dann wird deutlich, dass die »Torgauer Formel« so etwas wie die Mitte des Gottesdienstverständnisses vom Geleitwort bis hin zu den kybernetischen und empirischen Überlegungen darstellt.
Im zweiten Teil des Bandes finden sich praktisch-theologische Beiträge zu den liturgiewissenschaftlichen Perspektiven von Ritual (Birgit Weyel), Öffentlichkeit (Peter Cornehl), Predigt (Manuel Stetter), Musik (Jochen Arnold), Segen (Ulrich Heckel), Gemeindeentwicklung (Christian Grethlein) und Empirie (Friedrich Schwei­tzer).
Überschaut man die vielfältigen Aspekte dieses Kompendiums, dann lässt sich eine dreifache Gemeinsamkeit feststellen. Neben (1.) der genannten liturgietheologischen Mitte durch die »Torgauer Formel« ist das (2.) die Frage nach dem Verhältnis von Predigt und Gottesdienst. Der Beitrag von M. Stetter zur »Kontextanalyse« (Reden im Kontext. Zur Predigt als Element des Gottesdienstes, 204–223) ist darum besonders lesenswert, weil er mit dem »Trend zu einer engeren homiletisch-liturgischen Kooperation« (204) ernst macht. Dabei tritt zu Recht die »Rhetorizität« der Predigt – im Ge­genüber zur Ritualität des Gottesdienstes – deutlich hervor: »Predigt ist damit mehr als ein Verständigungsprozess. Sie besitzt per­suasiven Charakter.« (215, hier sind die Spuren der Tübinger Rhe­torik von Joachim Knape deutlich zu erkennen.) Weiterhin verbin­det (3.) die theatrale Wende in der Liturgik die Beiträge im zweiten Teil des Kompendiums. Inszenierung, Zeichen und Performativität (vgl. besonders B. Weyel) stehen für ein ästhetisches Gottesdienstverständnis, das unter diesen Kategorien nicht reformistisch (»ganzheitlich«) kurzgeschlossen werden muss, sondern vielmehr notwendige Reflexionskategorien gerade auch für das Normale bereitstellt. Jede Predigt wie jedes Gebet ist ein performatives und zeichenhaftes Geschehen (wobei eine differenzierte theoretische Zuordnung von Semiotizität und Performativität weiterhin der Be­arbeitung harrt).
Viel Stoff zum Nachdenken für Forscher und kirchenleitende Gremien bieten schließlich die Hinweise von C. Grethlein zur Gemeindeentwicklung und von F. Schweitzer zu offenen empirischen Fragestellungen. So gibt es bisher nur Studien zur Gottesdienstpartizipation, aber keine zur Gottesdienstsozialisation (288). C. Grethlein vertritt die These, dass sich »Gottesdienst und Ge­meinde in tiefgreifenden Transformationsprozessen befinden, aber keineswegs in einer Abwärtsbewegung.« (266, dort kursiv) Dabei optiert Grethlein für eine stärkere liturgische Orientierung an den Familien und Kasualien und kritisiert den vereinskirchlich eingeschränkten Blickwinkel von Kirchenleitungen und Parochien (268.279–283). An dieser Stelle warne ich jedoch vor einer falschen Alternative. Gut vorbereitete Kasualien und gut vorbereitete Sonntagsgottesdienste müssen sich gegenseitig stärken. Allein bildungstheoretisch macht es eben einen gravierenden Unterschied aus, ob jemand in fünf Jahren zehn familiär-kasuelle Gottesdienste besucht, oder ob es sich um zehn Kasualien und weitere 30 Gottesdienste handelt (bei einem etwa zweimonatlichen Rhythmus; vgl. dazu auch C. Schwöbels treffende Bemerkung zum Gottesdienst als »Bildungsinsti­tution«, 164). Nicht übersehen werden darf in diesem Zusam-menhang der von F. Schweitzer benannte Befund, dass häufigere Gottesdienstbesucher eine stärkere Verbindung zu Kirche und Glauben haben als seltenere Kirchgänger (292).
Der württembergischen Landeskirche kann man viel Erfolg wünschen bei ihrem Vorhaben, den Gottesdienst ein Jahr lang nicht nur in den Mittelpunkt ihres Lebens zu stellen, sondern ihm zugleich historisch, systematisch und empirisch informierte – und notwendigerweise auch kontroverse – Debatten zu widmen. Da-bei und darüber hinaus wird das vorliegende Kompendium gute Dienste leisten.