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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

968–970

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Turner, John D., and Kevin Corrigan [Eds.]

Titel/Untertitel:

Plato’sParmenides and Its Heritage. Vol. 1: History and Interpretation from the Old Academy to Later Platonism and Gnosticism.

Verlag:

Atlanta: Soci­ety of Biblical Literature 2010. XVI, 333 S. 22,8 x 15,0 cm = Society of Biblical Literature Writings from the Greco-Roman World Supplement Series, 2. Kart. US$ 42,95. ISBN 978-1-58983-449-1. Vol. 2: Reception in Patristic, Gnostic, and Christian Neoplatonic Texts. Atlanta: Society of Biblical Literature 2010. XIV, 310 S. 22,8 x 15,0 cm = Society of Biblical Literature Writings from the Greco-Roman World Supplement Series, 3. Kart. US$ 39,95. ISBN 978-1-58983-450-7.

Rezensent:

Jens Halfwassen

Der Parmenides ist notorisch der umstrittenste unter allen Dialogen Platons. Die Spannbreite seiner Interpretationen reicht von antieleatischer Polemik und logischer Propädeutik bis zur Deutung als Metaphysik des Absoluten und negativer Theologie. Zugleich gehört er zu den historisch einflussreichsten Werken der europäischen Philosophie überhaupt. Seit Plotin fanden die Neuplatoniker in ihm die Grundlagen der Metaphysik Platons enthüllt. Durch den umfangreichen Kommentar des Proklos entfaltete die neuplatonische Deutung größte Wirkung auf die gesamte nachfolgende Tradition metaphysischen und theologischen Denkens, angefangen von den Schriften des rätselhaften Pseudo-Dionysius Areopagita über Nikolaus von Kues bis hin zu Hegel. Der Parmenides galt als das Grundbuch der negativen Theologie und als »das größte Kunstwerk der alten Dialektik« (so Hegel).
Die beiden hier zu besprechenden Sammelbände beleuchten die antike Deutungsgeschichte dieses Dialogs. Sie vermitteln neue und teilweise grundstürzende Erkenntnisse, die geeignet sind, das bisher angenommene Bild der antiken Auslegungsgeschichte des Parmenides grundlegend zu verändern. Das betrifft sowohl den Ur­sprung der metaphysischen Deutung als auch die Breite ihrer Wirkung innerhalb der Antike. Üblicherweise verbindet man die me­taphysische Auslegung der acht oder neun Hypothesen über das Eine, aus denen der Hauptteil des Dialogs besteht, primär oder gar ausschließlich mit den Neuplatonikern. Zugleich steht diese Ausdeutung bei den meisten heutigen Interpreten unter dem Verdacht, vielmehr eine Umdeutung zu sein, die das von Platon Ge­meinte verfälscht – wobei allerdings keinerlei Konsens darüber besteht, was Platon mit den Hypothesen über das Eine nun tatsächlich gemeint haben könnte. Proklos lässt in seinem Überblick über die antike Interpretationsgeschichte die henologische Ausle gung mit Plotin beginnen und erwähnt vorher nur logische und antieleatische Deutungen. Seit E. R. Dodds wissen wir aber, dass Plotins Deutung eine mittelplatonische Vorgeschichte hat und in den Grundlinien schon von Moderatos von Gades (1. Jh. n. Chr.) vertreten wurde. Die beiden vorliegenden Bände zeigen nun ein-drucks­voll, 1. dass die metaphysische Auslegung des Parmenides bis auf die Alte Akademie zurückgeht, 2. dass sie schon vor Plotin offenbar viel breiter vertreten wurde als bisher bekannt, 3. dass dabei Texte der platonisierenden Gnosis eine besondere Rolle spielen und 4. dass in diesen Texten Theorie-Konstellationen bereits detailliert ausgearbeitet sind, die man bisher exklusiv mit dem Neuplatonismus assoziierte, speziell die Trias Sein-Leben-Geist. Da es hier nicht möglich ist, auf alle Beiträge einzeln einzugehen, seien diese vier äußerst wichtigen Ergebnisse etwas genauer betrachtet.
Dass der Ursprung der metaphysischen Auslegung auf die Alte Akademie zurückgeht, und zwar auf Platons Neffen Speusipp, ergibt sich aus einer Reihe von Indizien, die in der Zusammenschau eine Evidenz besitzen, der man kaum noch widersprechen kann. Der wichtigste Beleg ist ein von Proklos im Originalwortlaut überlieferter Bericht Speusipps über Platons Prinzipien des Einen und der unbestimmten Zweiheit (Test. Plat. 50 Gaiser). Dieser Bericht weist konkrete inhaltliche und sprachliche Übereinstimmungen mit den ersten beiden Hypothesen des Parmenides auf, die es annähernd sicher erscheinen lassen, dass sich Speusipp (zumindest auch) auf diese beiden Hypothesen bezieht. Speusipp deutet die Bestimmungslosigkeit des Einen selbst, das er »über das Sein erhaben« (melius ente, griech. kreitton tou ontos) nennt (vgl. Platon, Politeia 509 B), explizit als Ausdruck seiner absoluten Transzendenz – und er erwähnt die auch von Aristoteles für Platon bezeugte »unbestimmte Zweiheit«, mit deren Hilfe erst eine Vielheit von Seienden abgeleitet werden kann. Die These, dass Speusipp der Ursprung der metaphysischen Deutung des Parmenides sei, habe ich erstmals 1993 publiziert. John Dillon hat sie übernommen und mit weiteren Indizien untermauert (Bd. 1, 67–78, sowie in mehreren früheren Publikationen). Vor allem macht er plausibel, dass Speusipp in der zweiten Hypothese eine metaphysische Theorie der Zahlerzeugung finden konnte, wie sie ganz ähnlich Plotin in Enneade VI 6 vertritt; für Speusipp ist die Zahl – und nicht die Ideen – die höchste und ursprünglichste Form des Seins.
Dieses Ergebnis ist von erheblicher Brisanz. Es bedeutet nicht weniger, als dass die Theorie des überseienden und bestimmungslosen Einen genuine Lehre Platons war, so dass die henologische Deutung der ersten beiden Hypothesen die einzige historisch haltbare Deutung des Platonischen Textes ist.
Spuren einer henologischen Deutung des Parmenides finden sich vor Plotin nicht nur bei Speusipp und Moderatos, sondern auch bei Plutarch (De E apud Delphos) und Numenios, bei Eudoros und Philon von Alexandria sowie bei Clemens. Vor allem aber finden sie sich in gnostischen Texten, in überraschender Dichte in einer Gruppe eng zusammengehöriger Texte aus Nag Hammadi, den »Sethianischen Traktaten« (Zostrianos, Allogenes, Die drei Stelen des Seth, Marsanes). Diese Texte stehen in enger Beziehung zu Numenios und den Chaldäischen Orakeln. Sie leiten einen hierarchisch gestuften Seinskosmos aus einem überseienden und unbestimmbaren Urgrund ab, dessen negative Prädikate unverkennbar auf die erste Hypothese des Parmenides verweisen. Aber damit nicht genug: wie John Turner und Volker Hennig Drecoll in mehreren Beiträgen detailliert zeigen (Bd. 1, 131–172.195–232; Bd. 2, 65–80), stimmen die negative Theologie und die triadischen Spekulationen dieser Traktate in einem erstaunlichen Ausmaß mit dem anonymen Turiner Parmenideskommentar überein, den Pierre Hadot dem Porphyrios zuweisen wollte (während andere ihn für einen mittelplatonischen Text halten), ebenso mit den trinitästheologischen Traktaten des Marius Victorinus. Der Turiner Kommentar und Victorinus vermitteln das Übersein des Einen mit der Vielheit des Seienden durch die Trias Sein-Leben-Denken, die einerseits eine stufenweise Selbstentfaltung des Einen in die Vielheit beschreibt, deren Glieder sich dabei aber andererseits wechselseitig so durchdringen, dass jedes die beiden anderen in sich selbst enthält, so dass das Eine durch seine Entfaltung zu sich zurückkehrt und so Geist wird. Genau diese Konstellation findet sich auch in den »Sethia­nischen Traktaten«. Die Übereinstimmungen gehen so weit, dass man eine gemeinsame mittelplatonische Quelle postulieren muss, die eine henologische Auslegung der ersten beiden Hypothesen des Parmenides enthalten und den Übergang vom absoluten zum seienden Einen mit Hilfe der Trias Sein-Leben-Geist expliziert haben muss. Da diese Trias durch eine bestimmte Auslegung einiger Schlüsselstellen im Sophistes (248 E) und Timaios (30 C ff.) gewonnen wird, die sich unschwer mit der zweiten Hypothese des Parmenides verbinden lassen, könnte auch die Trias und ihre Rolle bei der Ableitung des Geistes aus dem Einen durchaus schon altakademischer Platondeutung entstammen. Es erscheint kaum wahrscheinlich, dass sie erst in der Sethianischen Gnosis entwickelt und dann von allen Neuplatonikern von Plotin bis Damaskios übernommen wurde – ihrer bekannten Gnosis-kritischen Einstellung zum Trotz. Dazu passt, dass Gerald Bechtle eine im Neuplatonismus weiterwirkende mittelplatonische Tradition aufdeckt, die eine henologische Deutung des Parmenides mit Schlüsselkonzepten aus den Kategorien des Aristoteles verbindet, deren altakade­mischer Kontext seit Langem bekannt ist (Bd. 1, 243–256; Bd. 2, 157–172).
Die beiden Bände enthalten noch zahlreiche weitere interessante Ergebnisse und anregende Thesen (z. B. den Vorschlag, den Turiner Kommentar einem gnostischen oder christlichen Autor zuzuschreiben). Sie belegen eindrucksvoll die Kontinuität der platonischen Tradition von der Alten Akademie bis zum Neuplatonismus sowie die enge Verflochtenheit platonischen, gnostischen und christlichen Denkens in der Kaiserzeit. Sie bestätigen damit unter Auswertung neuer Quellen wie der Nag Hammadi-Texte in weitem Umfang jenes Gesamtbild des antiken Platonismus, wie es Hans Krämer 1963 in seinem grandiosen Ursprung der Geistmetaphysik gezeichnet hat.