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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

963–966

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Milbank, John, and Simon Oliver[Eds.]

Titel/Untertitel:

The Radical Ortho­-doxy Reader.

Verlag:

London/New York: Routledge 2009. XI, 417 S. 23,3 x 15,5 cm. Kart. £ 24,99. ISBN 978-0-415-42513-1.

Rezensent:

Sven Grosse

Die in England entstandene theologische Schule – man kann auch sagen, Bewegung, man spricht auch von einer hermeneutischen Dis­position oder Sensibilität – der Radical Orthodoxy ist im deutschsprachigen Raum bislang kaum, wenn überhaupt bekannt. Sie hat es allerdings verdient, beachtet zu werden, ja man kann sagen, dass die Auseinandersetzung mit ihr für die derzeitige deutschsprachige Theologie beider Konfessionen die gebotene Aufgabe ist.
Zur Erläuterung des Namens, der erstmals 1999 in einem Sammelband mit dem Titel Radical Orthodoxy. A new Theology geprägt wurde: »Or­thodox« meint eine Übereinstimmung mit dem Be­kenntnis des Christentums, wie es von den Kirchenvätern formuliert wurde: leibhafte Auferstehung Christi, Trinität, Gottmenschheit Christi. »Radikal« soll heißen: erstens die Rückkehr zu diesen patristischen und mittelalterlichen Wurzeln – der Nährboden der Radical Orthodoxy reicht bis Thomas von Aquin –, zweitens die systematische, an den Wurzeln angreifende Kritik der Moderne: der modernen Gesellschaft, Kultur, Politik, Kunst, Wissenschaft, Phi­losophie und Theologie. Beide Bestimmungen dieser Radikalität ge­hören zu­sammen: Die Radical Orthodoxy attestiert der Moderne ihr Versagen und konfrontiert sie mit Ideen der Kirchenväter (vor allem Augustins) und des Aquinaten, in der Erwartung, dass Probleme des modernen Denkens und Lebens dadurch aufgedeckt, analysiert und überwunden werden können. In dieser direkten Konfrontation denkt sie die Aussagen der alten Theologie aber neu, es findet ein »ressourcement« statt, »namely the renewed reading of the depth of the Christian tradition in order to inform a rigorous, critical and authentical reading of our own times« ( Simon Oliver, XI).
Das leitende Motiv ist die Überzeugung, dass die Säkularisierung der traditionell christlich geprägten Welt keineswegs ein unentrinnbares Schicksal sei. Bezeichnend ist die Aussage »Once there was no secular«, dem ersten Satz in dem Initial-Werk der Radical Orthodoxy, dem 1990 veröffentlichten Buch Theology and Social Theory. Beyond Secular Reason, des damals in Cambridge, jetzt in Nottingham lehrenden John Milbank (Reader, 178). Es ist eine Gesellschaft denkbar, in der es keinen säkularen, d. h. von der Bezugnahme auf Gott und der Bestimmung durch den Glauben an Gott freien Bereich gibt. Es hat eine solche Gesellschaft gegeben und es kann sie wieder geben. Recht betrachtet ist dies auch in einer säkularen Gesellschaft auf verquere Art der Fall. Die Radical Orthodoxy unterzieht deshalb eine solche Weite von Themen ihrem Nachdenken, weil sie davon überzeugt ist, dass der christliche Glaube eine ebenso große Tragweite hat. Sie richtet sich somit ge­gen jegliche theologische und kirchliche Haltung, welche zu einem Rückzug auf ein christliches Ghetto führen würde, genauso wie gegen eine Anpassung des Christentums an den Säkularismus, welche eine Verwässerung und Auflösung des Christentums zur Folge hätte. Im Grunde noch vor der Gesellschaftslehre widmet sich die Radical Orthodoxy der Philosophie. Sie versucht in der Folge der auf Henri de Lubac zurückgehenden nouvelle théologie eine scharfe Trennung einer vom Glauben angeblich unabhängigen Vernunft und eines von der Vernunft angeblich losgelösten Glaubens zu überwinden.
Die Radical Orthodoxy vollzieht eine historische Untersuchung der Ursachen, welche zur Säkularisierung geführt haben. Wenn alles Sein und alles Denken nur dann angemessen aufgefasst werden, wenn sie auf den christlichen Glauben bezogen werden, dann werden auch Irrtümer und Fehlentwicklungen erst dann richtig gedeutet, wenn man sie als theologische Irrtümer und Fehlent­wick­lungen erkennt. Den entscheidenden Knick in der abendlän­dischen Geistesgeschichte macht die Radical Orthodoxy bei Duns Scotus um 1300 aus. Bei Thomas von Aquin ist noch alles geschöpfliche Sein durch Partizipation mit dem göttlichen Sein, demgegenüber es nur in analogem Sinn überhaupt Sein ist, auf engste Weise verbunden. Bei Scotus hingegen ist Sein Gottes und Sein der Welt in univokem Sinne Sein. Gerade dadurch wird aber Gott in unend­-liche Ferne von der Welt gerückt und die Voraussetzung dafür geschaffen, die Welt ohne Gott zu denken.
Der Reader versucht, das Denken der Radical Orthodoxy repräsentativ wiederzugeben durch eine Auswahl von Texten einiger ihrer wichtigsten Vertreter – Kapiteln aus Monographien, Aufsätzen – aus der Zeit zwischen 1990 und 2009. Bei der Weite, Komplexität ihrer Untersuchungen und dem Bedarf an historischen Belegen ist dies ein schwieriges Unterfangen. Alternativ wäre eine monographische Darstellung der Radical Orthodoxy, wie sie aus der Feder von James K. A. Smith (Introducing Radical Orthodoxy. Mapping a Post-secular Theology, Grand Rapids 2004) und Steven Shakespeare (Radical Orthodoxy. A Critical Introduction, London 2007) erfolgt ist. In dem Reader sind am aufschlussreichsten die luzide Einführung von Simon Oliver zu dem Gesamtband (3–27) und zu den folgenden Teilen des Bandes, das der Einführung folgende Gespräch von Rupert Shortt, Simon Oliver und John Milbank (28–48) und das Nachwort von John Milbank, The grandeur of reason and the perversity of rationalism: Radical Orthodoxy’s first decade (367–404), in dem eine Fülle – man muss allerdings schon sagen Überfülle – von Gedanken, Bezugnahmen und Urteilen ge­bracht wird, deren Nachweis an den Quellen nicht leicht zu erbringen sein dürfte.
Dem jeweiligen Teil des Readers folgen Literaturverzeichnisse zum Text, Empfehlungen weiterer Lektüre und Fragen zu den Texten, die für die studentische Nacharbeit bestimmt sind. Der dem einführenden Teil folgende Teil II widmet sich dem Thema Theologie und Philosophie, Glaube und Vernunft und bringt ein Kapitel aus dem von John Milbank und Catherine Pickstock verfassten Buch Truth in Aquinas (2001), das die Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft so vollzieht, dass beide nur stufenweise unterschiedene Partizipationen des menschlichen Erkennens am Erkennen Gottes sind (John Milbank, Truth and Vision, 69–115). Der nachfolgende Aufsatz von Catherine Pickstock, Duns Scotus: his historical and contemporary significance (116–146), ist eine Stellungnahme in der Diskussion, welche die Radical Orthodoxy durch ihre Beurteilung dieses Scholastikers entfacht hat. Teil III befasst sich mit dem Verhältnis der Theologie zur Säkularität und bringt u. a. das erste Kapitel aus Milbanks Theology and Social Theory (Political theology and the new science of politics, 178–194). Der andere Text, Spatialization: the middle of modernity (154–177), ist ein Kapitel aus Catherine Pickstocks Buch After Writing. On the Liturgical Consummation of Philosophy (1998). Teil IV bringt Beiträge zur Christologie, darunter ein Kapitel aus Milbanks Versöhnungslehre Being reconciled. Ontology and Pardon (2003), die er unter dem Gesichtspunkt der Partizipation betrachtet. Weitere Teile betreffen die Auffassungen von der Eucharistie (Teil V) und das Verhältnis von Theologie und Staatslehre (Teil VI).
Die Radical Orthodoxy bietet eine enorm vitale, originelle, anspruchsvolle, allerdings auch in ihrem historischen Quellenbezug zu befragende Lektüre. Ihr Bemühen, die Moderne zu überwinden, bringt sie gelegentlich in eine unglückliche Nähe zur Postmoderne, so in Milbanks Postmodern critical Augustinianism. A short summa in forty-two responses to unasked questions (49–61) und vor allem in den Beiträgen von Graham Ward, Transcorporeality: the ontological scandal (287–304) sowie The Schizoid Christ (228–256). Überzeugend gelöst ist die Verhältnisbestimmung zur Postmoderne hingegen in Catherine Pickstocks Aufsatz Thomas Aquinas and the quest for the Eucharist (265–286).
Verwunderlich ist allerdings die Position der Radical Ortho­-doxy-Theologen (zumeist hochkirchlicher Anglikaner) gegenüber der Reformation: Bei aller Fülle geistesgeschichtlicher Bezüge werden die Theologen der Reformation kaum genannt, und wenn, dann kritisch. Damit hängt zusammen ein Fehlen der Bibel in einem Großteil ihrer Ausführungen. Grund dieses blinden Flecks ist eine entgegengesetzte Stoßrichtung der Reformation. Sie macht darauf aufmerksam, dass es noch andere Gefährdungen des Christentums geben kann als die Säkularisation als einer offenkundigen Verdünnung und Entleerung christlicher Gehalte: nämlich eine Übersättigung der Gesellschaft durch christliche Formen, unter welcher die Essentials des Christentums zu verschwinden drohen. Demgegenüber hat sie formal durch die Argumentation mit der Schrift und inhaltlich durch die Konzentration auf die Rechtfertigung des Sünders diesen Kern des christlichen Glaubens wieder herausgearbeitet. Von hier aus ist eine Kritik der Radical Orthodoxy zu führen, die aber eine konstruktive Kritik sein kann und muss. Eine Erneuerung der christlichen Theologie muss ausgehen von einer Orientierung durch biblische Argumentation und Ausrichtung auf die christlichen Kernthemen, sie hat aber dann, wie es die Radical Orthodoxy beispielhaft zeigt, die Tragweite des Christentums aufzuweisen, das alle Bereiche des Denkens, der Wissenschaft und der Gesellschaft zu umfassen vermag.