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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

961–963

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kodalle, Klaus-Michael, u. Tilman Reitz [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Bruno Bauer (1809–1882). Ein »Partisan des Weltgeistes«?

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2010. 404 S. 23,5 x 15,5 cm. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-8260-4424-3.

Rezensent:

Udo Kern

Das Buch verdankt sich einer Tagung zum 200. Geburtstag von Bruno Bauer (1809–1882) in Jena. »Er war einer der begabtesten Schüler G. W. F. Hegels« (J. Mehlhausen, RGG4, Bd. 1, 1167). Die beiden Herausgeber dieses Bandes betrachten Bruno Bauer als einen der Autoren, bei dem sich »die antithetischen Potentiale der ›dialektischen Bewegung‹ gegen die von Hegel intendierte Synthese­leis­tung« artikulierten. (9). Dadurch würden Politik, Gesellschaft und Religion entscheidend betroffen. Die Jenenser Tagung zu Bruno Bauer will zeigen, »dass die Auseinandersetzung mit Bauers Rolle als politischer Kritiker und Kritiker der Politik noch keineswegs abgeschlossen ist.« (11) Drei Gruppierungen werden die Ausführungen zugeordnet: 1. Evangelium und Religionskritik, 2. Bauer im junghegelianischen Kontext und 3. Der späte Bruno Bauer.
Gerald Hartung (Wuppertal) nennt Bruno Bauer den »Robes­pierre der Theologie«. Ähnlich Feuerbach werde bei Bauer die Theo­logie als Form der Selbstentfremdung durch die Anthropologie des Mit-sich-selbst-Versöhntseins ersetzt. Erstaunlich wirkungslos sei Bauers Hassgeschichte auf Theologie, Religion als Kulturfaktor, einhergehend mit Judenhass (44). Das sehe nach Hermann Detering (Berlin) in Holland anders aus: G. A. van den Bergh van Eysinga (gest. 1957) stehe u. a. in der Bauerischen Linie. Auch der Exeget Walter Schmithals kenne Bauers geniale Einsichten in der Exe-gese. Arnulf von Scheliha (Osnabrück) beschäftigt sich mit den Vorgängen um und dem Entzug von Bauers venia docendi. Mit dem marx­schen Religionsverständnis, das Religion durchaus positiv be­stimme, befasst sich Erwin Bader (Wien). »Selbstbewusstsein und Substantialitätsverhältnis« kennzeichnen für Giacomo Rinaldi (Ur­bino) Bauers (in dessen eigener Sicht: die vollendete) Re­ligionsphilosophie. Der Kern der Hegelschen Philosophie involviere nach Bauer, dass Gott tot sei (108). Die Religionskritik Bauers befände sich nach Wolfgang Eßbach (Freiburg) in Auseinandersetzung mit der Ludwig Feuerbachs. Die Hegelsche Substanz besiege bei Feuerbach das Selbstbewusstsein.
Die Selbstbewusstseinstheorie Bauers – so Christine Weckwerth (Berlin) – befähigte Marx zur Abrechnung mit der junghegelschen Philosophie. Aufschlussreich ist der Beitrag Junji Kandas (Tokyo), der sich mit Bauers Einfluss auf Marxens in Jena eingereichte (jedoch nicht zu akademischer Karriere geeignete) Dissertation be­fasst. Bauers Philosophie des Selbstbewusstseins mit ihrer atheis­tischen und radikalen Kritik bestimme diese entscheidend. Ernst Müller (Berlin) interpretiert Bauers implizite Ästhetik. Produktionsästhetisch sei sie der Maßstab seiner Evangelienkritik. Bauer gelinge es nicht, sich in seiner Selbstbewusstseinstheorie von derjenigen Schleiermachers (durch Hegels interpretiert) abzugrenzen. Martin Hundt (Potsdam) will Bauer nicht als Junghegelianer verstehen. Vielmehr schade er diesen. Tilmann Reitz (Jena) thematisiert »Idealistische und junghegelianische Kulturpolitik«. Ulrich Pagel (Halle) betrachtet Max Stirners Einzigen als Überwindungsversuch von Bauers Reiner Kritik. Auch Jean-Claude Wolf (Freiburg/ Schweiz) und Lawrence S. Stepelevich (Pennsylvania) befassen sich mit dem Verhältnis zwischen Stirner und Bauer. Für Douglas Moggach (Ot­-tawa) kritisiert der vormärzliche Bauer politische und soziale Verhältnisse grundlegend. Er verurteile das ancien régime mit seinen Restaurationsmitteln als Bevormundung durch einen autoritären Staat.
Bauer entwickle eine nachkantianische Vollkommenheitsethik mit Befestigung allgemeiner Freiheitskonditionen. Mit Bauers kritischer Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution be­fasst sich Massimiliano Tomba (Padua). Bauer versuche, »das Verhältnis zwischen der Entstehung einer Masse selbstsüchtiger Atome und einer neuen Machtkonzentration zu erfassen« (22). Julia Schulze Wessel (Dresden) verfolgt Bauers Gang vom gemäßigten zum radikalen Antisemiten: In seiner Schrift Judentum in der Fremde for­dere Bauer die Christen bzw. Deutschen auf, sich nicht mehr den Juden zu nähern. So lande Bauer bei irreversiblem Antisemitismus. Nach Peter Landau (München) ist Bauer insbesondere in seinen Spätwerken ein idealer Vorkämpfer der Frauenbewegung. Das stütze sich auf das relativ – wie Bauer meinte – frauenfreundliche Mittelalter. Jürgen Gebhardt (Erlangen) ist der Meinung, dass der eschatologisch getriebene Bauer vom modernen Imperialis­mus eine kulturelle Orientierung erwarte, wie es in der Antike das Chris­ten­tum gewesen war. Manfred Lauermann (Hannover) wagt die kühne (aber für den Rezensenten zu wenig belegte) These, dass Bauers Politische Theologie »eine Übergangsform zur Religionssoziologie« sei. (313) Das der Bauerschen Diskursgestalt Angemessene sei je­doch nicht die Soziologie, sondern die Politische Theologie. Theodor Fontane – so Angelika Landau (München) – nehme einmal den einsiedlerischen Bauer als abstoßende Erscheinung wahr. Das hindere ihn anderseits nicht, dennoch Bauer »Bedeutung« zu vindizieren. Reinhard Mehring (Heidelberg) beschäftigt sich mit Carl Schmitts Bruno Bauer als Autor der Judenfrage (1843). Schmitts Tochter Anima Schmitt bezeichne ihren Vater als den, der »Bruno Bauer genialisierte« (335). Rolf Rieß (Pentling/Grafenau) thema­tisiert den Briefwechsel zwischen Carl Schmitt und Hans Körnchen von 1942/43 als Ausdruck einer Freundschaft im Dienste Bruno Bauers.
Ichiro Tamura (Hokkaido) beruft sich auf Bauers Nivellierungs- bzw. Massentheorie, die er als zu beachtendes Orientierungselement der sog. späten Moderne interpretiert. Bauer gebe »in den Jahren 1843/1844 seine Grundsätze zur Philosophie des Selbstbewusstseins auf und entwickelt die Philosophie der reinen Kritik.« (375) Es gelte: »Die reine Kritik und der Massenbegriff Bauers geben schon in der frühen Moderne«, also bei Bruno Bauer selbst, »einen Vorausblick« auf die »typischen, die späte Moderne charakterisierenden Gedanken.« (384) Hans-Martin Sass (Bochum) ist der Auffassung, dass alle prinzipiellen revolutionären Möglichkeiten bis in die Gegenwart hinein bei den Junghegelianern zu finden seien. Bruno Bauer sei ein radikaler konsequenter Aufklärer. Diskussionen zur Revolutionstheorie, zu der auch Bruno Bauer Bedeutendes leistete, seien auch heute noch relevant: 1. Die Rolle der unorganisierten und der organisierten Masse bei Reformen und Revolutionen sei zu bedenken. 2. Sind die Selbstorganisation der Massen oder die Massenbewegungen und Politik ausübenden Eliten treibend? 3. Die Frage nach den ökonomischen und ideelen Kräften von Ge­schichte und Revolutionen stehe an. 4. »Bewegt sich die Ge­schichte als Fortschritt, als Rückschritt oder im Kreis?« (387)
Den beiden Herausgebern des Buches ist dafür zu danken, Bruno Bauer in seiner Radikalität, seinen Visionen nicht zu vergessen. Die Beiträge ihres Buches, die durchaus nicht einheitlich in ihrem Umgang mit Bruno Bauer sind, sogar teilweise kontrovers, tragen dazu bei, der philosophischen Landschaft nach Hegel Raum zu geben.