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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

960–961

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hohlenberg, Johannes

Titel/Untertitel:

Søren Kierkegaard. Eine Biographie. Aus d. Dänischen v. M. Bachmann-Isler. Hrsg. v. Th. W. Bätscher. M. e. Nachwort v. A. Pieper.

Verlag:

Basel: Schwabe 2011. 465 S. 19,9 x 12,0 cm = Schwabe reflexe, 13. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-7965-2740-1.

Rezensent:

Christian Danz

Der dänische Maler und Schriftsteller Johannes Hohlenberg (1881–1960), 1920 mit der Anthroposophie bekannt geworden und von 1923 bis 1931 Generalsekretär der anthroposophischen Landesgesellschaft, veröffentlichte 1940 in Kopenhagen eine Biographie von Søren Kierkegaard, die 1949 in Übersetzung von Maria Bachmann-Isler und herausgegeben von Theodor Wilhelm Bätscher im Schwabe Verlag Basel erschien. In Deutschland wurde diese Biographie des Kopenhagener Denkers stark beachtet und sie erlebte eine breite Rezeption. Nach der Darstellung von Georg Brandes, die 1877 auf Dänisch und 1879 auf Deutsch erschien, galt H.s Buch als die erste umfassende Biographie Kierkegaards. Nach über 60 Jahren hat der Verlag nun diese Biographie, um ein Nachwort von Annemarie Pieper erweitert (457–465), neu aufgelegt. Für seine Deutung der Gestalt Kierkegaards hat H. ausführlich dessen Tagebücher herangezogen und ausgewertet. Im Resultat bietet H. ein prägnantes Charakterbild seines eigenwilligen Landsmannes vor dem Hintergrund Kopenhagens in den 1830er und 1840er Jahren.
In den 18 Kapiteln des Buches werden Leben und Werk Kierkegaards beschrieben sowie Grundzüge von dessen Denken zusam­mengefasst. Die inhaltlich umfangreichsten Kapitel der Darstellung sind das über Kindheit und Jugend (25–107) sowie das über Kierkegaards Verlobung mit Regine Olsen (108–172). Sowohl die Erziehung Kierkegaards, insbesondere sein Verhältnis zu seinem Vater, als auch die Beziehung zu Regine Olsen liefern H. den Schlüssel für seine Deutung von Leben und Werk des Kopenhagener Denkers. Schon aus diesem Grund nehmen sie mehr Raum ein als die anderen Kapitel. Die inhaltliche Darstellung H.s setzt ein mit einer Begebenheit aus der Kindheit von Kierkegaards Vater Michael Pedersen Kierkegaard, der ärmlichen Verhältnissen entstammt und im Alter von 12 Jahren zu Verwandten nach Kopenhagen geschickt wurde, die ihm den gesellschaftlichen Aufstieg er­möglichten. »Kurz bevor er zu wissen bekam, was man über ihn beschlossen hatte, war er eines Tages, als er mit den Schafen in die Heide ging und wie ge­wöhnlich nicht nur unter der Einsamkeit, sondern auch unter Hunger und Kälte litt, in der Verzweiflung über sein Schicksal auf einen Stein gestanden und hatte feierlich Gott verflucht, der ein Kind so leiden liess, ohne ihm zu Hilfe zu kommen.« (25 f.)
Die Verfluchung Gottes über sein eigenes Schicksal sowie die schicksalhafte Wendung, welche sein Leben eingenommen hatte, hinterließen im Selbstverständnis von Kierkegaards Vater seine Spuren, die in der Deutung von H. geradezu die Folie und den Rahmen für seine Rekonstruktion der Biographie Kierkegaards bildet. Auch die zweite Heirat von Kierkegaards Vater, der nach dem Tod seiner ersten Frau ein im Haus angestelltes Dienstmädchen heiratet, rückt H. in die Perspektive des prägenden Kindheitserlebnisses. Sie präfiguriert auch gleichsam das Leben Søren Kierkegaards, seine eigene Schwermut, sein Verhältnis zu Regine Olsen sowie seine Existenz als Schriftsteller. H. weiß viel über Kierkegaards Selbstdeutungen und sein Selbstverständnis zu berichten. Eingehend wird dessen Überzeugung geschildert, den Fluch, der über dem Vater lag, in seinem eigenen Leben zu sühnen. Sie schlägt sich in seiner Vorstellung nieder, nicht älter als 33 Jahre zu werden. Seine Verlobung mit Regine Olsen, die schon zwei Tage später einsetzenden Zweifel an diesem Entschluss sowie die von ihm unternommenen Anstrengungen, die Verlobung so aufzulösen, dass sie sich selbst diesem Schritt nicht mehr entziehen kann, bilden in der Deutung von H. den Ausgangspunkt von Kierkegaards unglaublicher schriftstellerischer Produktivität, die zu nichts anderem dient, als Regine Olsen sich verständlich zu machen. »Kierkegaard hat es sein ganzes Leben lang immer wieder und in allen möglichen Formen ausgesprochen, dass seine ganze Verfasserschaft auf die Erlebnisse mit Regine zurückgeführt werden kann.« (148)
Am 25. Oktober 1841, kurze Zeit nach der Auflösung der Verlobung mit Regine, reist Kierkegaard mit einem Dampfschiff nach Stettin und von dort weiter nach Berlin. In den weiteren Kapiteln des Bandes werden Kierkegaards Auseinandersetzung mit der Philosophie Hegels (173–191) sowie die sich seit der Auseinandersetzung mit dem Satireblatt Korsar (202–237) anbahnende Kirchenkritik minutiös dargestellt. Der Band endet mit Ausführungen zu Kierkegaards Anschauungen (352–390), Kierkegaards musikalischer Stil (391–393), »Jener Einzelne« (394–400), Sören Kierkegaard und un­sere Zeit (401–417) und Grundsätzliches (418–425).
Die Darstellung von H. ist glänzend geschrieben und vermag es, das Kopenhagen Kierkegaards, seine Gassen und Plätze vor dem inneren Auge des Lesers zum Leben zu erwecken. Was diese Milieustudie und das ausgebreitete Lokalkolorit freilich nicht zu bieten haben, ist eine genaue Rekonstruktion des geistigen und debattengeschichtlichen Kontextes, in dem sich Kierkegaards eigenes Denken herausbildet. Die Auseinandersetzung mit der Philosophie Hegels sowie der spekulativen Theologie der Hegelschule, welche zweifelsohne für das Werk Kierkegaards eine entscheidende Bedeutung innehat, wird nicht nur inhaltlich auf sehr engem Raum abgehandelt, sondern sie bleibt auch auf der Ebene von Stereotypen der Philosophie des Berliner Meisterdenkers. Auch die Auseinan­dersetzung mit der Philosophie Schellings, dessen Berliner Vorlesungen über Philosophie der Offenbarung er nach der Auflösung seiner Verlobung mit Regine Olsen hörte, ist insgesamt nicht nur knapp, sondern auch nur wenig aussagekräftig. Was hier für die Erforschung und Erschließung von Kierkegaards denkerischer Entwicklung und den Quellen, aus denen sich seine Kenntnis der philosophischen und theologischen Debattenlagen seiner Zeit speist, noch zu leisten ist, hat vor einigen Jahren Tonny Aagaard Olesen in seinem Beitrag Kierkegaards Schelling. Eine historische Einführung (in: Kierkegaard und Schelling. Freiheit, Angst und Wirklichkeit, hrsg. v. J. Henningfeld/J. Stewart, Berlin/New York 2003, 1–102) mustergültig vorgeführt.
H. möchte freilich nicht den denkerischen Gehalt und die problemgeschichtlichen Hintergründe vorführen, vor denen sich das Werk Søren Kierkegaards herausbildet. Ihm geht es um die Persönlichkeit Kierkegaards, die sich in seinem Leben (vgl. 425) und in seinem Schicksal offenbart. So bietet das Buch eine anregende Lektüre, welche einen mitunter stark psychologisierenden Blick auf das Leben und Werk des Kopenhagener Denkers wirft.