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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

957–960

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Henrich, Jörn

Titel/Untertitel:

Die Fixierung des modernen Wissenschaftsideals durchLaplace.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2010. 247 S. 24,0 x 15,0 cm. Geb. EUR 59,80. ISBN 978-3-05-004663-1.

Rezensent:

Walter Sparn

Die an der Technischen Universität Berlin (E. Knobloch) und in der Akademie-Arbeitsgruppe »Die Welt als Bild« entstandene Habili­tationsschrift verbindet naturwissenschafts- und philosophiegeschichtliche Forschung im Interesse der Annäherung von Natur- und Geisteswissenschaften und zwecks Überwindung der Feindbilder »Szientismus« und »Metaphysik«. Laplace reduziert sich auch für Theologen oft auf die anekdotische Antwort, mit der dieser die Frage Napoleons beschied, wo in seiner »Exposition du système du monde« (1796, dt. 1797) denn Gott bleibe: »Sire, je n’avais pas besoin de cette hypothèse«. Dagegen kannten Herder, Schleiermacher oder Hegel sie aus eigener Lektüre, von Bewunderern wie A. v. Humboldt zu schweigen.
Allerdings hat Laplace, ungeachtet seines philosophischen An­spruchs, auch im Kanon der Philosophiegeschichte keinen Platz, wie die Einleitung mit Gründen (9–20) ausführt. Der Vf. stellt die Werke vor (»Weltsystem«, »Himmelsmechanik«, 1798, »Theorie der Wahrscheinlichkeit«, 1812) und notiert ihre Kontexte: Galileis Me­chanik, Keplers Gesetze oder Leibniz’ Satz vom Grund waren bereits fraglos. Newton kannte Laplace durch Voltaire oder die »Encyclopédie«, las ihn aber auch selber, in Übersetzung. So sehr Laplaces Naturwissenschaft auf Ganzheit und Geschlossenheit zielte und so die weltanschaulichen Konsequenzen Newtons verschärfte, so wichtig war ihm, Alltagserfahrung und Erfahrung in Gestalt ge­setzmäßiger Mechanik in einem »Weltsystem« zu vereinbaren und auch Nichtfachleuten verständlich zu machen – das bis heute unterschwellig leitende Wissenschaftsideal (12 f.).
Teil I (21–46) stellt die himmelsmechanischen Erkenntnisse dar, die seit Newton und durch Laplace erlangt wurden und seiner Philosophie zugrunde liegen: Erd-, Planeten- und Sternbewegung, der Mond, Jupiter und seine Satelliten, die Jupiter-Saturn-Un­gleichheit, die Entstehung des Sonnensystems und Phänomene der Optik sowie der molekularen Anziehung. Die Lehre von der Entstehung des Sonnensystems beruht nicht auf Berechnungen, sondern ist eine Nebularhypothese, ähnlich der (Laplace unbekannten) Kosmogonie Kants von 1755 (38 ff.). Neuland betritt Teil II (47–109) mit einer Gesamtdarstellung der wissenschaftlichen Methode des »Weltsystems«: Beobachtungen und Beschreibungen, die Koordinatensystem und Metrik zugrunde legen und mit Vergleichen, Analogien, Gedankenexperimenten, Induktion und Deduktion, ge­netischen Erklärungen und Verfahren der Bestätigung bzw. Falsifikation arbeiten. Die Analyse komplexer Sachverhalte (Bewegung, optische Phänomene, Kräfte) in ihre Bestandteile – Hauptmerkmal analytischer Mechanik – zielt auf die voraussagende Be­schreibung der Himmelsmechanik durch Planetentafeln (48 ff.).
Sodann rekonstruiert der Vf. die von Laplace beanspruchte Me­thodologie, die vor allem im Blick auf Induktion und Analogie so­wie Beobachtung und Kalkül, die Kriterien der Einfachheit und der Kohärenz und, mit d’Alembert und Lagrange, die Rolle der Wahrscheinlichkeitsrechnung (79 ff.) herausstellt. Das Ergebnis ist, dass Laplaces Erkenntnisauffassung abhängig war von Intuitionen (z. B. die der Zugänglichkeit) und metaphysischen Überzeugungen (z. B. dass die Natur an sich einfach sei, dass der Satz vom Grund reale Kausalverhältnisse formuliere) – erfolgreich, aber wissenschaftstheoretisch defizitär (92 ff.). »Basisontologie« und »Gesetzesplatonismus« waren praktisch und anthropologisch von Belang: Laplace konnte konzedieren, dass menschliches Wissen nur wahrscheinlich ist, und doch mit Newton sagen: hypotheses non fingo – der ideal intelligente, alle vergangenen und zukünftigen Weltereignisse erkennende »Laplace’sche Dämon« steht für diese inkonsistente Dichotomie ein (107 ff.).
Laplaces Weltsystem, seine historischen Bezüge, besonders zu den drei Axiomen Newtons, und die zugrunde liegende Naturphilosophie rekonstruiert Teil III (109–188). Der Vf. erläutert erstens Laplaces Materievorstellung, seinen Gravitationsbegriff (der Pla­-netenstörungen erklärt) und seine Prinzipien: Satz vom Grund, Er­haltungssätze, Prinzip der kleinsten Wirkung, Theorie des Gleichgewichts u. a. (111 ff.). Die dunkle Vorgeschichte der Bestimmung der Kräfte und des Kraftmaßes (116 ff.), das Aktions-Reaktions-Prinzip (130 ff.) und das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeit (137 ff.) sind auch theologisch interessant: Die analytische Mechanik kann jetzt die Verbindung aller Zustände in Raum und Zeit erklären (ist also vollständig), kommt aber kosmologisch und im Blick auf Phänomene des Lebens an ihre Grenzen (139 ff.) – auch Laplace bedient sich hier teleologischer Argumentationen, ist also intuitiv vertraut mit nicht-mechanistischen Weltanschauungen (143 f.).
Der Voltaireschen »Métaphysique de Neuton« (1740) entsprechend thematisiert der Vf. zweitens »La Métaphysique de Laplace« – trotz dessen Ablehnung jeglicher Metaphysik (144 ff.). In der Tat ist alles Theologische verschwunden; auch die Ontologie von Raum und Zeit fehlt, weil der Begriff des absoluten Raumes nur idealisiert gebraucht wird. Laplaces Gesetzesdeterminismus unterscheidet Ontologie und Epistemologie nicht, seine Kausalitätslehre beruht allein auf der Mechanik. Er unterstellt aber, dass das Universum eine materielle und nomologische Einheit bzw. das Sonnensystem ein stabiler Mechanismus ist (149 ff.). Auch die Mathematik, ob­wohl konstruktivistisch aufgefasst, hat ontologische Bedeutung, denn sie begründet die realistische Interpretation quantitativ de­terminierender Naturgesetze (157 ff.). Metaphysikkritik gilt vor allem der (auf Zweckmäßigkeit verengten) Teleologie, die Newton oder Euler noch vertraten, erst recht jeglicher main de Dieu. Der Vf. nennt die Kritik oberflächlich, weil sie immer nur im Rahmen der himmelsmechanischen Kausalität argumentiert (161 ff.). Wie sich der »Wissenschaftsatheismus« zu Laplaces privater Religiosität verhält, lässt sich nicht klären (168 f.172).
Der Vf. verifiziert schließlich die neuere Auffassung, dass auch Naturwissenschaft ontologische Grundannahmen brauche, an La­places mangelhaften Begründungen für seine »Leitdogmen« wie den Prinzipienmonismus oder die stabile Perfektheit der Weltmechanik, und platziert eine Reihe von Defiziten in die aristotelische und neuzeitliche Wissenschaftsgeschichte (169 ff.) – ein Beispiel für die Fruchtbarkeit des historic turn der Wissenschaftsphilosophie, der sowohl die damals erfolgreiche Wissenschaftspraxis zu würdigen als auch die Reduktionismen zu benennen vermag, die in der Beschränkung auf enge Phänomenbereiche, in der Selektion der Fragestellungen und in der Ablehnung der Metaphysik (und so fast der ganzen Philosophie) liegt: Von Hume und Kant hat Laplace keinerlei Notiz genommen (183 ff.). Zum »Weltsystem« gehört eine Geschichte der Astronomie, in der die Ambivalenz der Wissenschaftsphilosophie des ausgehenden 18. Jh.s ebenso zutage tritt (Teil IV, 189–215). Sie konstruiert die Geschichte der Befreiung von meist religiösen Illusionen, des säkularisierenden Fortschritts schlechthin; sie macht (die von Anschauung unabhängige!) Himmelsmechanik zur Leitwissenschaft und spricht der quantitativen Analyse das methodische Monopol zu. »Humanistische« Zielsetzung wird zwar behauptet, ist in Gestalt der physique sociale aber eher zweifelhaft (208 ff.).
Ein Ausblick auf die zweischneidige Wirkungsgeschichte La-places in der Physik und in der Wissenschaftstheorie bzw. -philosophie (Teil V, 216–233) findet darin vor allem die Beantwortung der Frage, ob Laplaces Reduktionismus ein Humanismus sei. Hegels, Schleiermachers und der Biologen Nein sind ebenso deutlich wie das Nein Büchners oder Comtes zur spekulativen Naturphilosophie (222 ff.). Biologen, aber auch Theologen, deren Studierende oft noch in der Alternative von Gesetzesdeterminismus und Mystik hängen, dürften dem Vf. zustimmen, eine »induktive Wissenschaftshermeneutik« könnte die erkannten Defizite beheben. Eine ausführliche Bibliographie (235–244) und ein Personenregister runden den Band ab. Eine der angelsächsischen Korrelation von science und theo­logy m. E. überlegene Analyse!