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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

950–952

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Peiter, Hermann

Titel/Untertitel:

Christliche Ethik bei Schleiermacher. Ge­sammelte Aufsätze und Besprechungen. Christian Ethics Ac­-cording to Schleiermacher. Collected Essays and Reviews. A Bilingual Edition ed. by T. N. Tice.

Verlag:

Eugene: Pickwick 2010. XXVII, 772 S. 25,0 x 18,0 cm = Princeton Theological Monograph Series, 134. Kart. US$ 80,00. ISBN 978-1-55635-440-3.

Rezensent:

Walter Dietz

Der in Amerika erschienene, aber zweisprachig (deutsch-englisch) konzipierte Sammelband enthält 17 Aufsätze und 30 Rezensionen von Hermann Peiter (geb. 1935), dem bekannten Schleiermacher-Forscher und Mitherausgeber der KGA, der seit 1973 in Westdeutschland lebt. Die Beiträge sind zum Teil durchaus älteren Datums (Zeitrahmen: 1964–2006) und repräsentieren nicht alle den gegenwärtigen Forschungsstand. Für die internationale Schleiermacher-Forschung ist es allerdings ein großer Vorzug, dass die Artikel hier nun zweisprachig ediert wurden.
Als Kenner der Werke Schleiermachers sowie der Hörernachschriften zu dessen Vorlesungen über christliche Ethik, kommt P. der Rang eines hervorragenden Experten zu. Zudem hat P. an der großen kritischen Gesamtausgabe (KGA, de Gruyter) mitgewirkt, insbesondere als Herausgeber der Glaubenslehre (1821/22, in 2 Bänden KGA 7/I + II, 1980; separat als Studienausgabe 1984). Für ihn selbst wichtiger noch ist die Herausgabe der Christlichen Ethik (1983 und 2010, nach Ms. 1826/27), mit der er die einschlägige Ausgabe von Ludwig Jonas (1843, nach Ms. 1822/23) zu ersetzen sucht, die er für verbesserungsfähig und zum Teil willkürlich hält (57). P. sieht in Schleiermacher »den maßgeblichen Meister einer wegweisenden christlichen Sittenlehre« (8 f.) – auch heute noch. Schade nur, dass »der Meister« es nicht mehr schaffen konnte, seine Christliche Ethik (nach dem Vorbild der Glaubenslehre) selbst in Druckform zu bringen.
P.s Argumentationsstil ist recht anschaulich und lebensnah, wirkt mitunter etwas assoziativ, somit nicht wirklich systematisch. Mitunter formuliert er apodiktisch und durchaus Streitbares (z. B. 592, dass »der göttliche Schöpfer die Welt nicht aus Liebe, sondern aus nichts geschaffen« habe; der ungleichsinnige Gebrauch des »aus« bleibt unbemerkt). P. zeigt sich in seinen Urteilen stets dezidiert und von keiner Seite beirrbar. Kritiker werden stets barsch abgefertigt, wobei es meist um Prinzipienfragen der Werkedition geht. P.s durchaus ehrenwertes editorisches Prinzip, »Schlei­ermacher besser zu verstehen, als ihn ein einzelner Nachschreiber verstanden hat« (64), ist ein ehrgeiziges und hochtrabendes Ziel. Es kann sich freilich nicht damit abfinden, nur eine Mitschrift zu­grunde zu legen. Wenngleich dieses Unterfangen aporetisch enden mag (oder muss), so wirft es doch immerhin die grundsätzliche Frage nach der Bedeutung des Lehrvortrags für den Rückschluss auf das theologische Konzept des Autors auf und stellt zugleich eine Mahnung an die noch Lebenden dar, die Herausgabe eigener Manuskripte nicht Späteren zuzumuten, sofern sie noch von eigener Hand im Vollbesitz geistiger Kraft und theologischer Linie ge­schehen kann.
P. kritisiert wohl mit Recht ein zu starres, einheitliches Editionsprinzip (wie er es bei der KGA am Werk sieht). Schleiermachers Vorlesungen aufgrund der Mitschriften zu rekonstruieren, ist ein schwieriges Unterfangen. P. hat hier ganz konkrete Vorstellungen, die mit den Grundsätzen des KGA-Herausgeberkreises offensichtlich nicht konvergieren. Im Einzelnen ist seine Kritik an Fachkollegen oft nicht sachlich pointiert. Die westdeutsche Schleiermacher-Forschung – z. B. Hermann Fischer, M. Moxter oder B. Oberdorfer – wird nicht um­fassend berücksichtigt. Das Sporadische und Auswahlhafte kennzeichnet viele der Beiträge. Eine Rezension z. B. zu Chr. Axt-Piscalars Diss. über die Wiederherstellung der Trinitätslehre nach Schleiermacher bei I. A. Dorner (590 ff.) kritisiert zwar Dorner (der angeblich offene Türen einrennt), nicht aber die Interpretation der Autorin. Die wissenschaftlichen Leistungen der Kollegen werden nicht immer angemessen gewürdigt, sondern eher im Stil einer enthusiastischen Apologie Schleiermachers zurückgewiesen. Dies gilt insbesondere für die Auseinandersetzung mit H. J. Birkner, der im Zentrum der Kritik steht. P.s Kritik ist zwar durchaus nicht immer sachlich und stichhaltig, doch stets leidenschaftlich, kämpferisch und aus einer breiten Schleiermacher-Kenntnis heraus verfasst. P. verwehrt sich gegen eine subjektivitätstheoretisch-spekulative Interpretation von Schleiermachers Ansatz (vgl. den »verkanteten Schleiermacher« bei U. Barth, 327 ff.). Erhellend und gewinnbringend lesen sich Bemerkungen über die Relation Schleiermachers zu Fichte (z. B. 172–186). Im Verhältnis Schleiermachers zu Luther werden die Differenzen jedoch nicht immer klar genug erfasst.
Alles in allem eine beeindruckende, materialreiche und vielseitige Aufsatzsammlung, die zwar ohne kritisch-reflektierenden Ab­stand zu Schleiermacher sowie ohne systematisch-theologisches Grundanliegen verfasst ist, jedoch wertvolle Hinweise für jeden enthält, der sich ernsthaft und leidenschaftlich mit Schleiermachers Christlicher Ethik auseinandersetzen möchte. Schön ist, dass der Band mit einem (allerdings nicht ganz vollständigen) Namen- und einem (sehr guten) Begriffsregister (engl.) ausgestattet ist so­wie einem Bibelstellenregister und einer (allerdings very selected) Bibliographie (739).
Beeindruckend ist der Band nicht nur von seiner Materialfülle her, sondern auch in lebensgeschichtlicher Hinsicht sowie als Aufarbeitung der wissenschaftlichen Macht einer Partei (SED) und ihres Staates (DDR), für die Freiheit und Wahrheit oberste Ziele nicht sein durften und auch nicht sein konnten. Das Ineinander von Kritik und Zensur, von der Macht des Arguments und der Macht des Staatsapparates (sowie seiner Handlanger), macht diesen– teils sehr persönlich (704–737) gehaltenen, nirgends langweiligen – Band auch zu einem eindrucksvollen Dokument der DDR-Geschichte und lässt einen spüren, dass echte Freiheit des Geistes, des Forschens und der wissenschaftlichen Urteilsbildung nicht selbstverständliche Errungenschaften des modernen Zeitalters sind. Nur wer blind für sie geworden ist, wird sie erneut preisgeben. Immerhin ist für den westlichen Zweig der Forschung erfreulich, dass der »Würgegriff« (P., 2006) des totalitären Staates ihm (nach 1945) fremd sein darf, was freilich nicht schon per se Garantie eines unbefangenen wissenschaftlichen Forschens ist.