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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

949–950

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Kubik, Andreas [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Protestantismus – Aufklärung – Frömmigkeit. Historische, systematische und praktisch-theologische Zugänge.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. 280 S. 23,2 x 15,5 cm = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 66. Kart. EUR 59,95. ISBN 978-3-525-57125-5.

Rezensent:

Wolf-Friedrich Schäufele

Ist der moderne, aufgeklärte Protestantismus frömmigkeitsfähig? Die Antwort auf diese Frage versteht sich nicht von selbst. Gilt doch der Protestantismus in Sachen Frömmigkeit per se als weniger kompetent als der Katholizismus, und für den Protestantismus der Moderne, der sich nach langem Misstrauen mittlerweile mit einem gewissen Stolz den »Durchgang durch die Aufklärung« zugutehält, gilt dies in noch weit höherem Maße.
Der von A. Kubik herausgegebene interdisziplinäre Sammelband, der im Kern auf eine Rostocker Tagung vom Sommer 2009 zurückgeht, vermag in der Vielzahl der hier behandelten Facetten solche Vor-Urteile zu widerlegen. Aufgeklärte evangelische Frömmigkeit hat es in der Geschichte immer gegeben – mit besonderen Konjunkturen am Ende des 18. und am Ende des 19. Jh.s – und kann es auch heute geben. Freilich ist die Gestalt dieser Frömmigkeit nicht weniger als die theologische Theoriebildung der Moderne das Ergebnis tiefgreifender Transformationsprozesse, die aber keineswegs bloß als Verlust und Abbau, sondern als modernisierender Umbau zu verstehen sind. Im Hinblick auf die Frömmigkeit vollzieht der vorliegende Band insofern nach, was die neuere Aufklärungsforschung im Hinblick auf die aufklärerische Theologie schon geleistet hat.
Ein bemerkenswertes Nebenergebnis des Bandes besteht im Erweis der Brauchbarkeit des Frömmigkeitsbegriffs, der in der religiösen Sprache des Protestantismus selbst stark zurückgetreten ist, als analytisches Instrument. Indem der Begriff den ethisch-affektiven Doppelcharakter des religiösen Lebens zum Ausdruck bringt, mit seiner Tendenz zum Positiven Anschlussmöglichkeiten für andere kulturwissenschaftliche Fächer bietet und ein Moment der Verbindlichkeit enthält, erweist er sich, wie der Herausgeber richtig feststellt, dem modischen Begriff der »Spiritualität« als überlegen.
Die thematisch eher disparaten 15 Einzelbeiträge behandeln die Ausgangsfrage aus verschiedenen Perspektiven. Dementsprechend ist der Band in vier Sektionen gegliedert: eine systematisch-theologische, eine historische, eine zeitdiagnostische und eine praktisch-theologische, wobei die Abgrenzung naturgemäß nicht ganz trennscharf durchzuführen war. Fast durchweg wird ein sehr weiter Aufklärungsbegriff zugrunde gelegt, der »Aufklärung« weniger als theologiegeschichtliche Epochenbezeichnung denn als Chiffre für den gesamten liberalen Protestantismus der Moderne versteht.
Die erste Sektion des Bandes bietet »systematisch-konzeptionelle Erwägungen«. Es erscheint wenig überraschend, dass Chr. Ellsiepen hier für die theologische Grundlegung einer aufgeklärten protestantischen Frömmigkeit auf Schleiermacher zurückgreift; doch nicht die Glaubenslehre, sondern die Vorlesungen über »Die christliche Sitte« bieten ihm den Ansatzpunkt für die spezifische Wahrnehmung von »Frömmigkeit als Handlungsimpuls«, die sich aus dem steten Gefühl eines Mangels gegenüber der reinen Seligkeit speist. Innovativ ist auch der Versuch von R. Barth, im Rückgriff auf Herder die Konzeption einer aufgeklärten Frömmigkeit als einer sich in Erlebnissen manifestierenden Innerlichkeit zu zeichnen, die nach außen drängt (auch wenn Herder diesen Aspekt, anders als Schleiermacher, stark zurücktreten lässt). Als un­hintergehbare, theologisch zu bedenkende Signatur einer modernen Frömmigkeit arbeitet Chr. Zarnow die Diskrepanz zwischen dem universalen, auf die gesamte personale Existenz zielenden Anspruch der religiösen Wirklichkeitseinstellung und ihrer Relativität im Konzert anderer Wirklichkeitseinstellungen heraus.
Der zweite Teil des Buches enthält vier »historische Schlaglichter«. B. Pecina beschreibt den Streit zwischen Lavater und Mendelssohn als Aufeinandertreffen zweier unterschiedlicher Frömmigkeitsweisen, einer extra- und einer introvertierten. A. Beutel zeigt, wie der von ihm wiederentdeckte Neologen-Fürst Johann Joachim Spalding in seiner Gedächtnispredigt auf Friedrich den Großen jene zukunftsweisende Grundformel von der Frömmigkeit als »Gefühl gänzlicher Abhängigkeit von Gott« fixierte, der Schleiermacher dann zu ihrer einzigartigen Karriere verhalf. J. Leonhard weist nach, dass in Deutschland der politische Liberalismus we­sentlich vom theologischen Rationalismus befördert wurde, während der englische Liberalismus sich eher aus dem dortigen Freikirchentum speiste. Besonders hervorgehoben sei die erhellende Studie von C.-D. Osthövener über außerkirchliche »Erscheinungsformen der Frömmigkeit in der klassischen Moderne«, für deren Deutung er auf Siegfried Kracauers Essay »Die Wartenden« von 1922 zurückgreift – ein Ansatz, den J. H. Claussen in einem knappen »Pastoralfeuilleton«, das die zeitdiagnostische Sektion eröffnet, auf die gegenwärtige Intellektuellenreligiosität überträgt.
In der dritten Sektion stellt Chr. Elsas aus der Perspektive des Religionswissenschaftlers dar, wie die Begegnung mit der Frömmigkeitspraxis nichtchristlicher Religionen zur Ausbildung einer aufgeklärten christlichen Fröm­-migkeit beitragen kann. Zwei weitere Aufsätze behandeln die Beziehungen zwischen Frömmigkeit und Literatur bzw. Musik. W. Frühwald zeigt an einer Reihe von Beispielen, wie Elemente der Frömmigkeit, die im Zuge der Modernisierung verloren gingen, in der Gegenwartsliteratur aufbewahrt sind. C. Dahlgrün thematisiert Bachs Passionen und ihre Bedeutung für heutiges Frömmigkeitsempfinden.
Die vierte und letzte Sektion des Bandes ist »praktisch-theologischen Optionen« gewidmet. Aus religionspsychologischer Sicht zeigt S. Heine, dass Aufklärung keineswegs das Bedürfnis nach anbetender Verehrung beseitigt, auch wenn diese sich zunehmend auf Ersatzobjekte richtet, und plädiert für die bewusste Einbeziehung positiver Identifikationsfiguren in der religiösen Erziehung. A. Kubik entwickelt in kritischer Auseinandersetzung mit dem Plädoyer der sog. »Modernen Theologie« um 1900 für eine Erneuerung der herkömmlichen lutherischen Hausandacht Perspektiven für eine heutige frömmigkeitsorientierte Andacht. Gegen ein Missverständnis von Religion, das einseitig deren kognitive oder voluntative Dimension betont und durch den neuzeitlichen Übergang vom Seelenbegriff zum Personbegriff noch befördert wird, legt M. Murrmann-Kahl dar, dass selbst bei Koma-Patienten noch mit spirituellen Prozessen zu rechnen ist. Den modernen Transformationen der Kasualpraxis geht U. Wagner-Rau nach: Auch wenn die familiär grundierten religiösen Bedürfnisse der Kasualbegehrenden regelmäßig mit den Deutungsmustern der Kasualtheologie in Konflikt stehen, wird eine reine Dienstleis­tungsorientierung diesen Bedürfnissen ebenso wenig gerecht.
Insgesamt bietet der Sammelband eine lose Folge von Variationen auf ein lange zu Unrecht vernachlässigtes Thema, die die Grundthese von der Möglichkeit und Wirklichkeit einer aufgeklärten protestantischen Frömmigkeit eindrucksvoll belegen und zur multidisziplinären Weiterarbeit einladen.