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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

941–943

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Haendler, Gert

Titel/Untertitel:

Erlebte Kirchengeschichte. Erinnerungen an Kirchen und Universitäten zwischen Sachsen und den Ostseeländern. Hrsg. v. H. M. Niemann u. H. Holze.

Verlag:

Rostock: Universität Rostock 2011. 282 S. m. Abb. 20,5 x 14,7 cm = Rostocker Studien zur Universitätsgeschichte, 17. Kart. ISBN 978-3-86009-114-2.

Rezensent:

Rudolf Mau

Es ist ein sehr persönliches Buch, das Gert Haendler, Nestor der Kirchenhistoriker, dem Andenken seiner 2010 verstorbenen Frau ge­widmet hat. Mit Respekt und Dank grüßen die Herausgeber, die die Veröffentlichung anregten, »den Lehrer bzw. Kollegen« zum 50. Jahrestag seiner Berufung nach Rostock (3). H. betont als »wichtigsten Gesichtspunkt« für den Umgang mit der Kirchengeschichte (für Kenner seiner Publikationen evident) das »persönliche Leben […] mit seinen individuellen Fragen, Entscheidungen und Leistungen«, das Achten auf »individuell geprägte Menschen«, die »als Christen aus ihrem Glauben heraus« lebten (46).
Der Band enthält zehn Arbeiten H.s. Drei bisher ungedruckte bzw. ergänzte betreffen den Anfang in Rostock in der Erinnerung nach 50 Jahren (77–105), die Landesbischöfe 1946–1996 (121–162) und die politische Bedeutung der Baltischen Theologenkonferenzen der Jahre 1961–1991 (237–273). H. will zeigen, wie zu DDR-Zeiten »von der Nische eines Theologen aus […] der Betrieb an der Universität Rostock wahrgenommen« wurde und »welche Möglichkeiten im Raum der Kirche bestanden und […] genutzt werden konnten«.
Nach dem Gymnasium und Abitur, Kriegseinsatz und Gefangenschaft fand H. in Greifswald ideale Studienbedingungen. Dem Interesse für die Kirchengeschichte verdankte er die Förderung durch Walter Elliger samt Promotion schon 1950 über ein Thema zum frühen Mittelalter, das durch den aggressiv präsenten Stalinkult angeregt war. Mit Elliger ging er nach Berlin, wo er sich habilitierte und zu lehren begann. Eine zunächst scheiternde Berufung nach Rostock kam (nach bereits erfolgtem Ruf und Umzug nach Halle) dann doch zustande – zeitgleich mit dem schockierenden Erleben des Mauerbaus 1961. An dem ihm vertrauten Ort wirken zu können, erfüllte ihn mit einer bleibenden »dankbaren Freude« (77). Beim Antrittsbesuch traf er den Dekan Heinrich Benckert sichtlich mitgenommen nach einer bedrückenden Senatssitzung: Er hatte der Forderung, im Namen der Fakultät dem Mauerbau zuzustimmen, widerstanden. Den Verlauf der Sitzung schilderte H. später anhand der Quellen (79–85).
Den Kollegen und Freund Ernst-Rüdiger Kiesow porträtiert H. (105–120) mit Bezug auf dessen Buch Theologen an der sozialis­tischen Universität (Rostock 2000). Als Dekan vereitelte Kiesow 1968 die von der SED erwartete Einstimmigkeit des Senats-Beifalls für den Überfall der Warschauer-Pakt-Staaten auf die Cˇ SSR. Andere Senatsmitglieder begegneten ihm spürbar respektvoll; Kiesow rechnete aber mit dem Verlust seiner Professur (110).
Mit viel persönlichem Kolorit schildern die Erinnerungen an die Landesbischöfe in Schwerin das Miteinander von Kirchenleitung (Oberkirchenrat in Schwerin) und Theologischer Fakultät. In der Beurteilung der Lage seien OKR und Fakultät »eigentlich immer einig« gewesen; es gab stets Verständnis für die Fakultät, »die sich um ihre Existenz sorgte« (127). Spannungen ergaben sich bisweilen aus der lutherisch-konfessionellen Haltung von Landesbischof Niklot Beste (1946–1971). Alle Professoren kamen aus der Unionskirche, waren aber außer Benckert »keine ›Barthianer‹«, sondern wollten »gute Lutheraner« sein (129). Dem Nachfolger Bestes, Heinrich Rathke (1971–1984), war H., wie viele Briefe belegen, herzlich verbunden. Erinnerungen an Christoph Stier (1984–1996) wie­derum beziehen sich mehr auf den Studenten als den Bischof. Angesichts der Stasiproblematik erbat dieser aufgrund einer Kolleg-Erinnerung (Cyprians Stellung zu den in der Verfolgung »Ge­fallenen«) nähere Unterrichtung von dem Kirchenhistoriker. Später zog H. Kritik auf sich, da er in einem Zeitzeugenbericht das Stasithema nicht erwähnt hatte. Zwei Kollegen, mit denen er »eng und vertrauensvoll« zusammenarbeitete, hatten Stasi-Kontakte (145).
Erfahrungen mit der Evangelischen Verlagsanstalt Berlin (163–184) beziehen sich u. a. auf Haendlers langjähriges Wirken als Mitherausgeber der Theologischen Literaturzeitung. Hier sei man der Zensur wegen wohl »manchmal etwas zu vorsichtig gewesen« (175). Vom Reformationshistoriker Joachim Rogge tatkräftig unterstützt, brachte H. die (gerade komplettierte) Reihe »Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen« auf den Weg und steuerte selbst vier Bände bei. – Auf Anregung von katholischer Seite (Franz Peter Sonntag/Erfurt) tagte von 1983 bis 2000 die Arbeitsgruppe Ökumenische Kirchengeschichte, über deren Sitzungen H. informiert (185–208). Bei einem Buchprojekt Sonntags habe dieser ihm »so viel Vertrauen geschenkt wie kein anderer Kollege« (196).
Ein Rückblick auf die Baltischen Theologenkonferenzen 1961–1991 verifiziert nochmals den Titel »Erlebte Kirchengeschichte«. Angebahnt von Greifswald her (Alfred Jepsen), schien das Vorhaben nach einem ersten Treffen in Rostock mit dem Finnen L. Pinomaa mangels Beteiligung zu scheitern, wurde aber ab 1963 »auf Biegen und Brechen durchgezogen« (240) und fand nach anfänglicher Zurückhaltung bei Dänen und Schweden eine wachsende Beteiligung. Seit 1967 gab es auch Tagungen in skandinavischen Ländern und Ehrenpromotionen beiderseits der Ostsee. Als 1967 die ideologische Vereinnahmung der Lutherstätten in Wittenberg unter dem Konstrukt »Frühbürgerliche Revolution« drohte, bewährten sich die skandinavischen Verbindungen: Ein Ökumenischer Freundeskreis der Lutherhalle und seit 1970 regelmäßige Tagungen des Theo­logischen Arbeitskreises für reformationsgeschichtliche Forschung (TARF) in Wittenberg konnten jener Absicht entgegenwirken.
Die Aufsatzsammlung, die mit einer Laudatio von 2009 für den 85-Jährigen schließt, veranschaulicht facettenreich ein Diktum des Freundes E.-R. Kiesow: Als Theologen »lebten wir – paradox formuliert – in einer weltoffenen Nische« (6).