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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

939–941

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Götz, Irene

Titel/Untertitel:

Deutsche Identitäten. Die Wiederentdeckung des Nationalen nach 1989.

Verlag:

Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2011. 386 S. m. Abb. 23,0 x 15,5 cm = Alltag & Kultur, 14. Kart. EUR 49,90. ISBN 978-3-412-20224-8.

Rezensent:

Klaus Fitschen

Dass die Wiedervereinigung Deutschlands zu einer Wiederbelebung, einer Transformierung oder einer Intensivierung nationalen oder nationalistischen Denkens geführt habe, ist eine häufig geäußerte These, und so ist bei der Umschlaggestaltung eine markige Inschrift mit einem Fußball kombiniert worden. Das Buch ist die Druckfassung einer 2002 eingereichten und danach für die Veröffentlichung teilweise aktualisierten Habilitationsschrift (9.21) aus dem Forschungsfeld der europäischen Ethnologie mit stark kultur- und politikwissenschaftlichen Anteilen. Irene Götz betont mehrfach, dass der Kern der Arbeit in den 1990er Jahren entstanden ist, also noch vor dem »Party-Patriotismus« der Fußball-Weltmeis­terschaft 2006. Sie müht sich denn auch gelegentlich, die aktuelle Relevanz ihrer Studien zu begründen, was an einer Stelle darauf hinausläuft, dass sie sie selbst historisiert: »Wie wurde vor zehn Jahren, als die Jubiläen noch nicht ganz so ›stolz‹ waren […] das Nationale in einem Nationalstaat im Umbau verhandelt und veralltäglicht?« (26)
Als Deutehorizont kommt die Zweite Moderne mit ihren Un­eindeutigkeiten ins Spiel: Heterogenität, Ambivalenz, Spiel und Ernst, Re- und Denationalisierung sind daraus abgeleitete Stichworte (20), während die »miterzählte« Erste Moderne durch die kulturellen Prozesse des Nation Building charakterisiert wird (22). Dass dieser Ansatz im Zentrum der Teilüberschrift »Empirische und konzeptuelle Problemzugänge« steht (Kapitel I.1), zeigt zu­gleich, dass Empirie nur da im sozialwissenschaftlichen Sinne zu verstehen ist, wo qualitative Interviews herangezogen wurden (43). Ethnographie (natürlich auch im Sinne der teilnehmenden Beobachtung), Biographie und Medienanalyse liefern also die Befunde (34); worum es geht, sind kulturelle Praktiken (36).
Diese Überlegungen sind schon Teil eines I. Kapitels, das den theoretischen Rahmen für die relativ spät im Buch folgenden Fallstudien bildet: Untersuchungsgegenstand ist nicht ein eindimensionaler Nationalismus, der sich semantisch und symbolisch leichthin markieren ließe, sondern das »Nationale« im Sinne einer facettenreichen Pluralität und »die Veränderungen in der Repräsentation von nationalem Selbstbewusstsein und Selbstverständnis in Deutschland nach 1989« (11). »Es geht nicht mehr um die überkommene ›Leitkultur‹, sondern um den ›Verfassungspatriotismus‹ als Grundlage einer aktiven Bürgerkultur mit dem ge­meinsamen Ziel der Integration verschiedener gesellschaftlicher Kräfte und Gruppen.« (14) Der Fußballpatriotismus neueren Da­tums ist also nicht »Auslöser, sondern vielmehr Folge und bis dahin der erste weithin sichtbare Höhepunkt eines längeren und weitaus vielschichtigeren Prozesses« (19). Dementsprechend werden die Diskurse um die Inszenierungen des Nationalen vor 1989 und die Inszenierungen selbst diesen neuen Narrativen diametral (allerdings durchaus relativiert durch Verweise auf Edgar Wolfrum) gegenübergestellt: War das Nationale nicht längst marginalisiert, an den rechten Rand gedrängt, Sache von Stammtischen und Vertriebenenverbänden (16 f.)? Dass es hier nach wie vor zu­hause ist, ist natürlich auch der Vfn. geläufig, und ebendas ist Teil des Befundes von Ambivalenz und Heterogenität (20 f.).
Hat man sich an den methodischen Vorüberlegungen satt gelesen, die sich im Verlauf des Einleitungskapitels verzweigen, teilweise auch in Variationen wiederholen und in den folgenden Kapiteln fortsetzen, kommt man also zu den Fallstudien, deren Er­kenntniswert die Vfn. in Kapitel I.2.2 thematisiert: Sie sind letztlich den theoretischen Annahmen nachgelagert und dienen zur Vertiefung des Verstehens oder zur Exemplifizierung (67). In einem II. Kapitel werden aber etwas retardierend unter der Überschrift »Nation Re­-build­ing in der Zweiten Moderne« Überlegungen zum Wechselspiel von De- und Renationalisierungsprozessen angestellt (89), die durch historische Rückblicke in die »Erste Moderne« und somit in die Nationwerdung der Deutschen im 19. Jh. vertieft werden – diese sind allerdings vor allem reproduktiver Natur. Ein Leitgedanke hierbei ist der der Identitätsstiftung durch das Selbstverständnis als Kulturnation, die durch Auschwitz abgebrochen sei (119–126).
In den Fallstudien geht es im Wesentlichen um symbolische Repräsentationen und Veralltäglichungsprozesse (Kapitel II.3), um bildliche Inszenierungen, aber auch um Diskurse über Geschichtsbilder, Erinnerungsorte, Jubiläen und Feste. Hinzu kommen De­batten über das Staatsbürgerschaftsrecht, neue, multikulturelle Identitätsangebote und andere Facetten eines Kaleidoskops neuer Identitätsangebote. Im III. Kapitel wird dies exemplarisch-biographisch auf der Grundlage qualitativer Interviews vertieft.
Im Gesamtaufriss ist das Buch disparat und – da man die zentrale These schnell verstanden hat – auch ein gutes Stück zu lang. Wer sich für Fachdiskurse, noch dazu mit vielen Fußnoten angereichert, interessiert, wird gut informiert. Allerdings ist eine Spannung zwischen dem Kern einer akademischen Qualifikationsschrift und der von der Last akademischer Bewerbungsrituale freien Lust am Feuilleton zu spüren. Inzwischen ist die Vfn. als Professorin für Volkskunde und Europäische Ethnologie in München tätig und durch weitere Forschungen, u. a. zur Arbeitswelt, hervorgetreten.
Was hat das Buch mit Theologie oder christlicher Religion zu tun? Nichts in einem unmittelbaren Sinne, und auch kaum etwas in einem mittelbaren. In einem Vergleich der gänzlich säkular gesehenen Feiern zum 50-jährigen Bestehen der Bundesrepublik Deutschland und der 1000-Jahrfeier Ungarns wird das ungarische Millenium als ein katholisches Fest charakterisiert (181). Hier zeigt sich ganz nebenbei nicht nur, dass der Trauer über Trianon keine deutsche Trauer (die freilich eine andere sein müsste als die großungarische) über Versailles und Potsdam entspricht, sondern dass das Verständnis des Nationalen auf der Sach- wie auf der Darstellungsebene geradezu historisch amputativ ist: Wo die Vertriebenen erwähnt werden, geht es darum, dass die Diskurse um ihre alte und neue Heimat »das Fundament für eine ›Blut- und Boden‹-Kontinuität« abgegeben haben sollen (126).
Dass Religion, zumal Protestantismus, und Nation (im Übrigen ja auch in Ungarn) eng zusammengehörten und zusammengehören, wird von der Vfn. fast völlig ignoriert (Ausnahme: 101) bzw. in einen »quasi-religiösen Gemeinschaftsmythos« überführt (115). Das mag allerdings daran liegen, dass das Nationale heute allenfalls noch als quasi-religiös wahrzunehmen ist und der deutsche Protestantismus seine Mitschuld an der Katastrophe des Nationalen dadurch abzubüßen versucht, dass er zwischen Ökumenismus und Provinzialismus oszilliert. Was aber aus ethnologischer und kulturwissenschaftlicher Sicht in der »Zweiten Moderne« nicht mehr wahrnehmbar ist, scheint dann auch in der Ersten nicht existiert zu haben.