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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

936–938

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wolter, Michael

Titel/Untertitel:

Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2011. XI, 481 S. 22,0 x 14,5 cm. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-7887-2489-4.

Rezensent:

Eduard Lohse

Seine gründliche, gedankenreiche und überaus anregende Studie über die Theologie des Apostels Paulus hat Michael Wolter der Benediktiner-Abtei St. Paul vor den Mauern von Rom gewidmet: »Seit 1968 hat die Abtei in regelmäßigen Abständen einen inter­-nationalen und ökumenischen Kreis von Exegeten zu Tagungen eingeladen und ihm Gelegenheit gegeben, über die Briefe und die Theologie des Apostels Paulus zu arbeiten.« (VII) Diesem Bemühen weiß sich der Vf. dankbar verpflichtet.
Die paulinischen Briefe fungieren »gewissermaßen als Realsymbol für die ökumenische Einheit der Christenheit« (1). Als authentisch gelten die sieben Briefe, die nach dem Konsens der kritischen Forschung als vom Apostel selbst verfasst angesehen werden. Will man aus ihnen eine zusammenfassende Darstellung der paulinischen Theologie gewinnen, so ist es nach Überzeugung des Vf.s zu vermeiden, den Texten eine von außen herangetragene Struktur aufzudrängen. Vielmehr kommt es darauf an, so weit als irgend möglich die vom Apostel entfaltete Gedankenführung nachzuvollziehen. Das aber bedeutet, dass »ein Grundriss der paulinischen Theologie« als »eine eigentlich systematisch und deskriptiv angelegte Darstellung« zu entwerfen ist (4).
Nach einem einleitenden Prolog, der den für die folgenden Kapitel gewählten Aufriss erläutert, wird in den Kapiteln II und III mit einem umfangreichen narrativen Teil begonnen, »in dem die Vorgeschichte der paulinischen Theologie in den Blick genommen wird« (4). Dabei hält sich der Vf. weitgehend von Vorgaben der Sekundärliteratur frei und befragt mit aufmerksamer Beobachtung die Texte selbst. Er weist dabei u. a. mit Recht darauf hin, dass man die Verfolgertätigkeit des Juden Paulus nicht als gegen Christen gerichtet bezeichnen sollte. Vielmehr wandte Paulus »sich gegen andere Juden, durch deren Verhalten er die einzigartige Gemeinschaft Israels mit seinem Gott für bedroht hielt« (21). Und die Bekehrung und Berufung des Paulus sollte man nicht als eine Hinwendung vom Judentum zum Christentum verstehen. »Eine solche Beschreibung wäre ganz anachronistisch, denn so etwas wie ein vom Judentum zu unterscheidendes Christentum hat es in paulinischer Zeit noch nicht gegeben« (23). Paulus wurde gleichsam »umgedreht«, so dass aus einem Verfolger ein Zeuge des Evangeliums wurde.
Die Darstellung der Theologie des Apostels wird dann in den Kapiteln IV–XV entfaltet. Durchweg geht der Vf. von den jeweiligen Vorgaben aus, die Paulus bereits vorfand, als er mit der Verkündigung des Evangeliums begann. Kapitel V ist dem Glauben, Kapitel VI der Heilswirklichkeit des Todes Jesu gewidmet. Die Taufe, der Heilige Geist, die Hoffnung und eine kritische Erörterung der so­genannten Christusmystik, die als Christusteilhabe begriffen sein will, machen den Inhalt der Kapitel VII–X aus. Erst danach wird die Ekklesiologie als »Gemeinschaft der Glaubenden« beschrieben, gefolgt von Kapitel XII über die Ethik.
Für die ethische Orientierung stand den christlichen Gemeinschaften »kein anderes Repertoire an ethischen Werten und Normen zur Verfügung« »als jeder anderen menschlichen Gemeinschaft auch« (321). Daher hatten die urchristlichen Gemeinden »nicht in einem abweichenden Alltagsethos« ihre Besonderheit »zur Anschauung zu bringen, sondern durch das Streben nach einer von allen anerkannten ethischen Vortrefflichkeit, die sie – nach Phil 2,15 – in der nichtchristlichen Mehrheitsgesellschaft ›stranden‹ lässt ›wie leuchtende Sterne in der Welt‹« (ebd.). Paulus hat daher »keine neuen ethischen Normen und Werte produziert, sondern aus dem in der populären Moral vorhandenen Inventar eben das ausgewählt, was für jede und darum auch für die christ­-liche Gemeinschaft förderlich ist« (328). »Die paulinische Ethik findet ihre Eigenart vielmehr darin, dass sie auf einem Indikativ ba­siert, der zur Darstellung gebracht werden will« (334).
In den Kapiteln XIII und XIV werden die beiden gewichtigen Themen »Die Rechtfertigung aus Glauben« und »Was ist mit Israel?« verhandelt. Dabei weist der Vf. mit Recht darauf hin, dass die Rechtfertigungslehre des Apostels nicht einfach aus dem Verständnis der Theologie Luthers, aber auch nicht aus der verkürzenden Sicht der sog. »New Perspective« in den Blick genommen werden darf (340–342.409). Vielmehr ist auch hier – möglichst ohne vorgefasste Meinungen – mit gewissenhafter Sorgfalt darauf zu achten, was die Texte sagen.
Nach dem Urteil des Vf.s haben wir in der Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben »ein spezifisch paulinisches Konzept vor uns« (344), das sich einer individuellen historischen Situation verdankt (348). In der Auseinandersetzung mit den galatischen Irrlehrern habe Paulus erstmals diese seine »Zentralthese« gewonnen und »die aus ihr entwickelte theologische Argumentation im Römerbrief, mit dem er seine Theologie den Christen in Rom vorstellen will, nicht nur« wieder aufgenommen, sondern sogar noch ausgebaut (348).
Wurde die Rechtfertigungslehre des Paulus nach dem Urteil des Vf.s somit erst auf dem Höhepunkt seiner Wirksamkeit im Rück-griff auf Gen 15,6 ausgebildet, so bedeutet das keineswegs, dass es sich nur um eine Kampfeslehre oder einen »Nebenkrater« handelte. Sondern schon vor der Auseinandersetzung mit den galatischen Irrlehrern hat es Voraussetzungen in der Theologie des Apostels gegeben, die freilich erst jetzt zur Entfaltung gelangen. Dabei will beachtet sein, dass der Apostel dem zentralen Inhalt seiner Verkündigung auch mit anderen Begriffen als denen der Rechtfertigungslehre – z. B. in der Theologie des Kreuzes – Ausdruck geben kann. Auch wäre der autobiographische Rückblick in Phil 3 noch einmal daraufhin zu prüfen, dass Paulus hier von seiner Bekehrung und Berufung in dem Sinn spricht, ihm sei damals das Verständnis der Gerechtigkeit Gottes als die Gerechtigkeit aufgegangen, die dem Glauben zugerechnet wird.
Man könnte daher durchaus erwägen, die Rechtfertigung aus Glauben an früherer Stelle zu erörtern, als es in diesem Aufriss der Theologie des Apostels geschieht. Dieser Erwägung würde sich der Vf. gewiss nicht verschließen, weist er doch gleich zu Anfang darauf hin, dass auch eine andere Gliederung als die von ihm gewählte möglich sei (4). Das gilt freilich nicht nur für die Frage nach Erwählung und Geschick Israels. Wird dieses Thema erst im letzten Kapitel besprochen, so will dieser Abschnitt nicht als Anhang, sondern als eine noch einmal zusammenfassende Würdigung eines Problems verstanden werden, das Paulus von Anfang an umgetrieben hat.
Mit Hilfe der übersichtlich gestalteten Register kann der Leser rasch auffinden, wo der jeweils verhandelte einzelne Text der paulinischen Briefe zu finden ist. Da der Vf. die einzelnen Themen jeweils unter sorgfältiger Berücksichtigung des Kontextes erörtert, kann die Darstellung der Theologie des Paulus auch zu guten Teilen als Kommentar zu den sieben authentischen Briefen gelesen werden. Die gründlich und umsichtig durchgeführten Exegesen der jeweiligen Abschnitte stützen das stets sorgfältig begründete Urteil des Vf.s, dem der Leser gern mit Zustimmung folgt. Diese Abhandlung über die Theologie des Apostels setzt einen Markstein der Paulusinterpretation, den alle künftige gelehrte Arbeit aufmerksam zu beachten hat. Dem Vf. aber gebühren dankbarer Respekt und hohe Anerkennung für die herausragende Leistung, die er mit diesem Buche erbracht hat.