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Ausgabe:

September/2012

Spalte:

933–936

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Roitto, Rikard

Titel/Untertitel:

Behaving as a Christ-Believer. A Cognitive Perspective on Identity and Behavior Norms in Ephesians.

Verlag:

Winona Lake: Eisenbrauns 2011. XII, 351 S. 22,9 x 15,2 cm = Coniectanea Biblica. New Testament Series, 46. Kart. US$ 39,95. ISBN 978-1-57506-814-5.

Rezensent:

Christine Gerber

Können wir heute das kognitive Selbstverständnis der ersten Christusgläubigen rekonstruieren und so nachvollziehen, wie sie ihre Identität als Teil einer christusglaubenden Gruppe begriffen und ihre Verhaltensnormen korrelativ zu dieser Identitätskonzeption entwarfen? Die vorzustellende Dissertation von Rikard Roitto, von H. Ulfgard (Linköping) betreut, beantwortet diese Frage positiv und verfolgt ein doppeltes Anliegen: einerseits den Ansatz der his­torischen Kognitionswissenschaft als heuristischen und hermeneutischen Schlüssel vorzustellen und zu legitimieren, andererseits in einer Anwendung auf den Epheserbrief seine Produktivität zu zeigen. Eph wird für die »field study« (5) gewählt, weil hier die Wechselbeziehung von Identität und Verhalten, klassisch formuliert von Theologie und Ethik, besonders umstritten sei.
Dem zweifachen Interesse entsprechend besteht das Buch zwischen Einleitung und Auswertung (samt zwei Registern) aus einer Darstellung der Theorie (26–144) und einer Textstudie zum Eph (145–296). Da beide Teile auch für sich verständlich sein sollen, muss die Lektüre des Ganzen (wegen der technischen Sprache ohnehin kein ästhetisches Vergnügen) einige Redundanzen hinnehmen.
Nicht die Frage nach der frühchristlichen Identität und Normenentwicklung ist originell, aber deren exklusive Erschließung mittels eines kognitionswissenschaftlichen Zugriffs. Anders als bei dem hierzulande eher rezipierten wissenssoziologischen Ansatz (P. Lampe, M. Wolter) geht es R. nicht darum, die Plausibilierung einer (neuen) Sinnwelt durch soziale Konstruktionen nachzuvollziehen, sondern um die mentalen Mechanismen, die bei der Identitätsfindung prägend sind. Zentral ist daher vor allem die Kognitionspsychologie. Während die psychologischen Studien G. Theißens, der als Gesprächspartner fungiert, theorieplural arbeiten, greift R. dezidiert auf den kognitiven Ansatz zurück, präzisiert insbesondere durch die social identity theory H. Tajfels und J. C. Turners und ergänzt durch die Attributionstheorie. Damit bestimmt R. die für das frühe Christentum viel diskutierten Mechanismen der Erarbeitung einer Gruppenidentität durch Abgrenzung von anderen Gruppen und die eigene Aufwertung näher: die Neigung zur hierarchischen Kategorisierung, zur Zuschreibung (Attribution) von positiven und negativen Wertungen sowie zur Zentrierung der Gruppe um »Prototypen«. Wichtige Bedeutung in der Identitätskonstruktion weist R. weiter dem »narrative« zu, worunter er – unabhängig von der Textsorte – die kognitive Herstellung von kausalen und temporalen Logiken versteht. Typisch dafür ist die an­thropomorphe Konzeptualisierung übernatürlicher Wesen, nicht zuletzt Gottes, als »agents«, ein im Weltbild des Eph geläufiges Phänomen. Die genannten Theoreme werden im ersten Buchteil anhand von antiken einschließlich frühchristlichen Texten (noch unter Absehung vom Eph) verdeutlicht.
Vor diesem Referat legitimiert R. die Heranziehung moderner Kognitionstheorien für die Analyse von Menschen bzw. Texten aus einem fernen, fremden Kontext. Als Brücke dient die Annahme anthropologischer Konstanten, angeborener mentaler Muster, wie­wohl kulturelle Differenzen konzediert werden. Weiter be­gründet R. unter Aufnahme großer hermeneutischer Theorien, dass durch die Texte hindurch soziale Realität konstruiert werden könne und auch müsse, da Verhaltensnormen nur sinnvoll seien in Bezug auf eine soziale Realität. Auf die sich anschließende Frage, ob der Mangel an Quellen uns überhaupt etwas vom »wirklichen« Selbstverständnis und Leben der ersten Christusgläubigen wissen lässt, antwortet R. mit dem Konzept der »hypothetischen Ge­schichtsschreibung«, die die Grenzen der Erkenntnis wahrnimmt, aber gleichwohl darauf beharrt, die soziale Realität selbst zu rekonstruieren. R. verkämpft sich m. E. hier unnötig (und nicht nur ge­genüber dekonstruktivistischen Zweifeln erfolglos), da die Analyse ihren Wert nicht erst aus der Erklärung der außertextlichen Wirklichkeit bezieht, sondern aus der Interpretation der Texte mit deren Anspruch, außertextliche Wirklichkeit abzubilden und zu gestalten.
Dies gilt zumal im Blick auf den Eph, bei dem die Bestimmung des Verhältnisses von Text und außertextlicher Wirklichkeit besonders kompliziert ist: Nach dem gegenwärtigen kritischen Konsens, dem auch R. folgt, ist der Text für uns historisch ortlos, wissen wir doch weder, wer unter dem Namen des Paulus schrieb, noch an wen, da die Adresse nach Ephesus textkritisch unsicher ist, noch warum.
Nach R. lässt der Brief erkennen, dass er einerseits die »ingroup« in deren Selbstverständnis und Werten repräsentiert, andererseits an bestimmten Punkten deren Konzepte und Verhalten verändern will. Dies ergibt seine Analyse des identitätsprägenden »narrative« von Gottes Handeln und der Relationierung zu anderen sozialen Größen (i. e. Heiden als den »Devianten«, nichtglaubenden Juden, dem Haushalt und »leaders«). Ausführlich wird der imaginierte »ingroup prototype« rekonstruiert, zeige er doch, wie der Autor des Briefes durch den Konnex von Identitätszuschreibung und Verhaltensnormen sein Ideal vermittelt. Der Brief erstelle (bevorzugt schematisch dargestellte) Kausalitäten, etwa dass aus der Erkenntnis Glaube, daraus Sein in Christus und Geistbesitz folge und dies wiederum die Erkenntnis vertiefe und die gegenseitige Liebe und Einheit fördere. So entstehe das merkwürdige Nebeneinander von Indikativ und Imperativ, von Forderung nach Heiligkeit und Zusage, heilig zu sein. Der Brief vergewissere die Adressierten ihrer Erwählung durch Gott, zeige ihre Zugehörigkeit zu Christus als Zugehörigkeit zu Israel und markiere am »Gruppenprototyp« zugleich, was ihnen noch fehlt.
Da diese Analysen Lesegewohnheiten aufbrechen, vertiefen sie das Verständnis des Eph. Zwar zeichnen sie kein neues Bild der Briefintention (und schon gar nicht der angezielten außertextlichen Wirklichkeit), aber sie arbeiten neben diskussionswürdigen, hier nicht referierbaren Einzelthesen den inneren Zusammenhang von Eph 1–3 und 4–6 heraus. Doch bleiben Anfragen an Ansatz wie Ergebnisse: R. setzt bei der Analyse gruppendynamischer Prozesse und des Einflusses von »leaders« voraus, dass eine Gruppe soziologisch definiert ist als Ansammlung von Menschen, die sich kennen (1 f.). Entspricht das dem Eph, der nach breitem Konsens nicht Ortsgemeinden anvisiert, sondern eine allgemeine Kirche? Und ist nicht die Adressierung des Briefes an neubekehrte Nichtjuden als Fiktion zu interpretieren, die der Identitätsbildung dient, statt als zutreffende Beschreibung?
Es bleibt überhaupt vage, wie methodisch überprüfbar zu entscheiden ist, wo Eph neue kognitive Impulse setzt und nicht nur Überzeugungen widerspiegelt. So beharrt etwa die »Hermeneutik des Verdachts« für die »Haustafeln« darauf, dass diese – anders als von R. unterstellt – gerade nicht Verhältnisse affirmieren, sondern eine nicht bestehende patriarchale Ordnung einfordern.
Abträglich ist, dass R. Impulse jüngerer (deutschsprachiger) Entwürfe zum Eph ignoriert, wie beispielhaft verdeutlicht sei: Er übergeht die neuere religionsgeschichtliche Einordnung des Eph in das »gnoseologischen Heilsverständnis« (E. Faust, G. Sellin). Doch wäre von Interesse, wie dies kognitionswissenschaftlich zu reformulieren ist, dass die inspirierte Gotteserkenntnis Heil bereits präsentisch schenkt. R.s Rekonstruktion einer temporal-linearen Narratio ignoriert Divergenzen im Brief und damit die alte Diskussion um die Zeitvorstellung des Eph (A. Lindemann) ebenso wie die neue These vom Nebeneinander diverser kognitiver Zeitkonzepte im Eph (S. Rantzow).
Das kognitionspsychologische Paradigma bietet natürlich auch Erklärungen für die hier monierten Schwächen, etwa die Neigung zu Komplexitätsreduktion oder den Umgang mit kognitiven Dissonanzen. Darunter leiden alle Exegesen – und auch Rezensionen. Darum sei das Fazit ausgewogen: Die Untersuchung überzeugt durch neue Impulse und ihre Selbstreflexivität. Wegen der geringen Fortschritte für das Verständnis des Eph misslingt der Studie allerdings m. E. der Nachweis, dass eine rein kognitionswissenschaftliche Analyse neutestamentlicher Texte sich lohnt. Doch sie zeigt, dass die Formierung des frühen Christentums und die Texte besser zu verstehen sind mit der Unterstellung, dass die Gestaltung der Identität und eines ihr entsprechenden Verhaltens komplexe Prozesse sind und nicht nur christlich-theologisch oder ethisch begründet.